Avocados

Kurzgeschichte von Nguyen Huong

Warum hatte sie sich an jenem Tag entschlossen, die Wahrheit zu sagen? Weil sie eine aufrichtige Beziehung wollte? Nein, niemand glaubte, dass die sozialen Medien zu irgendetwas Aufrichtigem führen konnten; sie selbst war hierfür das beste Beispiel. Es war ja nicht so, dass sie vorsätzlich irgendjemanden betrügen wollte – sie log einfach, um Spaß zu haben und Dampf abzulassen.

Vielleicht war sie es einfach leid, immer wieder ihre früheren Flunkereien nachlesen zu müssen, weil sie schlicht nicht alles parat hatte, und somit Gefahr lief, sich in Widersprüche zu verwickeln und in Erklärungsnot zu geraten. Vielleicht spielte auch eine Rolle, dass es regnete. An Sonnentagen war das Zehn-Quadratmeter-Zimmer, das sie gemietet hatte, die reinste Sauna, an Regentagen bohrte sich der prasselnde Lärm tief in ihre Ohren. Schlaflos starrte sie auf den Spalt unter der Tür, ob das Regenwasser schon in das Zimmer eindrang.

„Ich muss mich entschuldigen“, tippte sie, „ich bin keine Studentin. Ich bin Schneiderin, allerdings keine gute, ich arbeite in einer Fabrik, nähe einfach nur Teile zusammen.“

Sie hielt einen Moment inne, dachte dann aber, wenn sie schon mit den Bekenntnissen angefangen habe, solle sie auch konsequent sein und reinen Tisch machen: „Ich habe wirklich studiert, allerdings nur ein Jahr lang, dann wurde ich dummerweise schwanger. Mein Sohn ist jetzt vier Jahre alt. Zum Glück habe ich eine nette Vermieterin. Wenn ich Spätschicht arbeiten muss, holt sie den Jungen vom Kindergarten ab und macht ihm was zu essen. Im Gegenzug helfe ich ihr bei der Hausarbeit. So, jetzt weißt Du Bescheid – Tschüss.“

Nachdem sie „Tschüss“ eingetippt hatte, beschloss sie, sich auch von den sozialen Medien zu verabschieden, aber gerade als ihr Finger den Abmelde-Button berührte, erschienen die Worte „Ich muss mich auch entschuldigen“ auf dem Bildschirm.

Es gab ihr einen Stich ins Herz: So steht es also, er hat ebenfalls seinen Spaß gehabt beim Flunkern, dachte sie. Gut, mal schauen, worüber er gelogen hat.

„Ich bin kein Agraringenieur“, schrieb er, „ich verdiene meinen Lebensunterhalt als Kuhhirte, genauer gesagt, kümmere ich mich um Milchkühe.“

Er fuhr fort: „Ich war ein richtiger Faulpelz. Meine Eltern ärgerten sich und drohten, mich rauszuschmeißen, da lief ich weg – für Jahre. Jetzt aber weiß ich, was richtig und was falsch ist. Ich spare Geld, um meine Eltern aufzusuchen und ihnen zu sagen, wie leid es mir tut. Ich habe auch vor, mir von ihnen Geld zu borgen, um einige Milchkühe zu kaufen, und dann, eines Tages … Aber besser verspreche ich nicht zu viel, denn vielleicht kann ich es nicht schaffen.“

Sie hielt den Atem an und las jedes Wort, das er geschrieben hatte, noch einmal. Es sah so aus, als würde er diesmal die Wahrheit sagen, gerade so wie sie.

„Ich hatte einfach Angst, dass Du auf diesen Kuhhirten herabblicken würdest“, schrieb er.

***

Wieder und wieder las sie seine Sätze und fand jetzt, am Ende der Lügen, das Leben sehr viel interessanter. Sie stellte sich die Arbeit mit Milchkühen vor: Aufstehen morgens um halb vier, Stall ausmisten, Euter waschen, melken. Jeder Schritt musste genau nach Plan erledigt werden, um die Milch noch vor sechs Uhr bei der Molkerei abliefern zu können. Danach musste man Gras mähen und andere Arbeiten verrichten.

„Dein kleiner Tý könnte hier nach Herzenslust frische Milch trinken“, schrieb er.

Sie las diesen Satz nochmal und nochmal. Was wollte er damit nur sagen…?

Sie träumte weiter vor sich hin: Am Morgen würde sie aufstehen und in der Küche die frische Milch aufkochen. Sie würde eine Menge Zucker hineingeben, denn der kleine Tý liebte Süßes. Dann würde sie warten, bis die Milch abgekühlt war, sie in eine Flasche füllen und in den Kühlschrank stellen. Sie stellte sich vor, wie der kleine Tý die Flasche an den Mund heben und vergnügt austrinken würde. Hier, wo sie jetzt wohnte, ging sie jeden Tag zum Laden an der Straßenecke und kaufte ein einzelnes Päckchen Milch – würde sie einen ganzen Karton davon kaufen, würde Tý nicht einen Tropfen für den nächsten Tag übrig lassen.

Sie fragte nach, ob aus der Milch Butter und Käse gemacht würden, wie sie es in ausländischen Filmen gesehen hatte. Er schickte ein vorsichtig lächelndes Emoticon und schrieb: „Noch nicht. Aber vielleicht willst Du ja lernen, wie das geht? Wärst Du bereit, auf dem Land zu leben?“

Mit dieser Frage wollte er wohl seine Absichten klarmachen.

***

Sie erzählte ihm vom Garten ihrer Familie mit den Avocado-Bäumen, die köstliche Früchte trugen. Gleich zu Beginn der Saison, wenn die Früchte gerade faustgroß waren, holten gute Freunde schon ihre vorbestellten zehn Kilogramm, um sie zu verschenken. Jedes Jahr konnte ihre Familie mehrere Ernten einbringen – die Leute warteten schon darauf. Wenn sie erfuhren, dass diese Ladung schon vergeben sei, bestanden sie auf Reservierung gegen Vorkasse, um auch bestimmt etwas abzubekommen. Ihre Mutter pflegte zu sagen, ihr Avocado-Garten sei ein Gottesgeschenk, denn als jemand aus den Samen neue Bäume zog, schmeckten deren Früchte nicht annähernd so gut.

Er fragte, warum sie nur über ihre Mutter rede, den Vater aber nicht erwähne?

„Ach“, antwortete sie, „mein Vater ist früh gestorben, und meine Mutter musste mich und meinen älteren Bruder allein durchbringen.“ Alleinerziehende Mütter auf dem Land hätten es in vielerlei Hinsicht nicht leicht, und zu all dem sei dann noch ihre uneheliche Schwangerschaft gekommen. Als sie ihrer Mutter gestanden habe, sie sei schon im sechsten Monat, sei diese weinend zusammengebrochen. Aber aus dem Haus geworfen habe sie ihr Bruder, der, wie es üblich sei, nach dem Tod des Vaters den Platz des Familienoberhaupts eingenommen habe.

So habe sie ihr Elternhaus verlassen und sei nie mehr zurückgekehrt. Rückblickend verstehe sie, dass sie zu unbesonnen gewesen sei, aber damals glaubte sie, sie habe nichts zu verlieren. Sie wollte einfach hinaus und sich ins Leben stürzen, ungeachtet der Konsequenzen.

„Angenommen, Du kämst jetzt mit einem Mann an Deiner Seite zurück, würde Dein Bruder Dich wieder aufnehmen?“

Diese Frage wurde auch in einer regnerischen, schlaflosen Nacht gestellt, während der kleine Tý sich im Bett hin und her wälzte und die Bettdecke von sich warf. Er riss die Augen weit auf: „Bist du das, Mama?“, dann schloss er die Lider wieder und schlang seine Arme um ihren Hals, so wie jedes mal, wenn er in der Wohnung der Vermieterin einge­döst war, während er darauf wartete, dass sie von der Spätschicht heimkam und ihn abholte.

„Ja!“ wollte sie ihm antworten, sehr gerne wollte sie das, aber dann war sie sich unsicher, ob er ihr Kind wirklich lieben würde. Er hatte zwar schon einige Male erwähnt, dass der kleine Tý bei ihm zu Hause nach Herzenslust frische Milch trinken könne, aber...

„Ich weiß nicht“, tippte sie.

***

Neun Uhr abends, Feierabend. Normalerweise ging sie auf direktem Weg nach Hause, aber gerade an diesem Abend hatte man ihr einen Bonus versprochen, und deshalb beschloss sie, den Nachtmarkt zu besuchen. Obwohl sie das Geld noch gar nicht in der Hand hielt, wollte sie es schon ausgeben. Wenn sie glücklich war, ging sie gern einkaufen. Zuerst kaufte sie ein Paar Schuhe für Tý, dann begutachtete sie unentschlossen ein hellblau-grau gestreiftes Hemd, für das sie eine plötzliche Vorliebe überkam. Im Weggehen schaute sie sich immer wieder danach um. Sie rief ihn an und fragte nach seiner Kleidergröße.

Als er antwortete, glaubte sie plötzlich im Hintergrund Týs Stimme zu hören: „Bist du das, Mama?“ Sie musste über sich selbst lachen, über ihre wilde Vorstellungskraft. Sie packte das Hemd ein und fragte sich besorgt, ob ihm die Farbe stehen würde. Sie konnte ihn zwar nach seiner Kleidergröße fragen, nicht aber nach seinem Teint, das wäre doch zu peinlich. Er hatte gesagt, die Milchkühe in seiner Obhut lebten im Stall, nicht auf der Weide, also war seine Haut vielleicht gar nicht dem Sonnenlicht ausgesetzt und folglich nicht dunkel, wozu das Hemd mit den hellen Farben gut passen würde.

Als sie die Tür ihres Zimmers öffnete, stoppte sie abrupt: Ein dunkelhäutiger junger Mann war dabei, mit Tý einen Spielzeugroboter zusammenzubasteln. Die Schachtel, zusammengeknülltes metallisch glänzendes Geschenkpapier und zu Schleifen gebundene Bänder waren über den Fußboden verstreut.

Tý beobachtete gespannt den Mann, der nicht wusste, wie er den Roboter zum Laufen bringen sollte, sich am Kopf kratzte und sagte: „Ich habe keinen blassen Dunst. Kinderspielzeuge sind offenbar sehr viel komplizierter als sie aussehen! Es ist jedenfalls leichter, sie auseinanderzunehmen als zusammenzubauen...

Die Vermieterin warf einen diskreten Blick auf ihn und sagte: „Normalerweise würde ich einem Fremden nicht den Zimmerschlüssel geben, aber er hatte eine Kanne frischer Milch dabei, und ich befürchtete, die würde schlecht werden, wenn er zu lange draußen warten müsste, und dann würdest du mir die Schuld geben.“

Sie wurde rot, beäugte die Zehnliter-Kanne in der Zimmerecke und den großen Topf mit dampfender Milch. Die Vermieterin scherzte: „Das ist mein Topf. Denk daran, mich dafür mit einem Glas Milch zu belohnen. So frisch habe ich die in meinem ganzen Leben noch nicht getrunken.“

Alle Mieter im Haus wurden zu einem Glas frischer Milch eingeladen. Lächelnde Nachbarn spazierten hin und her, an ihrem Zimmer vorbei, um einen Blick auf den unscheinbaren, aber offenbar klugen jungen Mann zu werfen, der sich hier so überzeugend mit einer Runde süßer, duftender frischer Milch vorgestellt hatte.

Mit geröteten Wangen, was ihr gut stand, fragte sie: „Warum hast du mir nichts gesagt, ich hätte doch meine Schicht tauschen können.“

„Eine Überraschung macht mehr Spaß. Aber es war merkwürdig, dass Tý bei deinem Anruf wusste, das du am Telefon bist, und sogar rief ,Bist du das, Mama’ – Da musste ich das Gespräch schnell beenden, damit du nichts merkst, denn sonst wäre das ja keine Überraschung mehr gewesen. Bist du angenehm überrascht?“

„Was für eine dumme Frage, natürlich bin ich das“, dachte sie bei sich.

Aber leider passte das Hemd farblich nicht zu seinem Teint. Morgen würde sie es umtauschen. Und da er schon hier war, würde sie ihn bitten mitzukommen, dann könnte er die Hemden anprobieren, und sie würden gleich sehen, welches ihm am besten stand.

***

Während der Heimreise zu ihrer Familie klopfte ihr Herz aufgeregt in einem Gefühlswirrwarr von Glück und Angst. Und dann erwartete sie eine weitere Überraschung.

Die Freude ihrer Mutter beim Anblick ihres Freundes mit dem kleinen Tý an der Hand kam von Herzen. Ihr älterer Bruder schien vergessen zu haben, dass er es gewesen war, der sie aus dem Haus gejagt hatte. Ihre Schwägerin zeigte aufgedrehte Fröhlichkeit, und zwar aus einem ganz bestimmten Grund:

Ein reicher Mann aus der Stadt war aufgetaucht, um Land für eine Farm zu erwerben. Die Nachbarn rundum hatten schon die Kaufverträge unterschrieben, nur das Haus ihrer Familie und der Avocado-Garten waren noch übrig, eingekeilt zwischen den Grundstücken, die der reiche Mann zusammengerafft hatte.

Obwohl das Grundstück ihrer Familie nicht groß war, wurde ein hoher Preis dafür geboten, denn es lag mitten drin und teilte die potentielle Farm des reichen Mannes, der an einem einzigen durchgehenden Flurstück interessiert war, in zwei Hälften.

Ihre Schwägerin warf einen Blick auf ihren Freund und den kleinen Tý und sagte: „Der Mann ist schon oft wiedergekommen und hat jedes Mal einen höheren Preis geboten, aber Mutter hat ihn immer wieder abgewiesen. Sie sagt, sie wolle ihr Elternhaus und den Avocado-Garten bewahren. Was für eine Denkweise in der heutigen Zeit… Aber jetzt, da ihr beide mit dem Jungen gekommen seid, wird sie sich vielleicht besinnen, denn sie vermisst dich so sehr, dass sie bestimmt gerne das Land verkauft, um euch Geld zu schenken, das ihr in Milchkühe investieren könnt.

Ihr Bruder wedelte abwehrend mit der Hand und erwiderte: „Wozu den Job in der Stadt eintauschen gegen die harte Arbeit der Milchviehhaltung auf dem Lande? Besser das Geld zur Bank bringen und von den Zinsen leben!“

Darauf seufzte ihre Mutter: „Gerade deshalb will ich nicht verkaufen: Wenn man einfach nur Geld hat und keine sinnvolle Aufgabe, wird man schlechte Gewohnheiten entwickeln und das Geld zum Fenster rauswerfen. Schaut euch nur unsere Nachbarn an, sie haben gerade erst letztes Jahr Haus und Garten verkauft, und jetzt müssen sie sich überall Geld pumpen, um irgendwie durchzukommen.

Ihr Bruder haute wütend ab und kam erst am nächsten Tag zurück. Gleich nach seiner Heimkehr packte ihn erneut die Wut, und er verschwand wieder.

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Während der Heimreise hatte sie gebangt und gebetet, dass ihre Familie ihren Freund als Schwiegersohn akzeptieren und zu diesem Anlass ein Festessen für die Nachbarn geben würde. Stattdessen stritten sie verbissen und ohne jede Schicklichkeit um den Verkauf, und das vor seinen Ohren, der doch noch ein Fremder war; Sie empfand das als äußerst peinlich. Es wäre ihr lieber gewesen, sie hätten sie wie erwartet ausgeschimpft und damit einen gewissen Sinn für Anstand bewiesen. Alles weitere konnte man doch später besprechen.

***

Dieses Mal blieb ihr Bruder drei Tage und drei Nächte weg. Ihre Schwägerin bat sie, auf ihr sechzehn Monate altes Baby aufzupassen, damit sie nach ihm suchen könne.

Nach einem vollen Tag der Suche kehrte die Schwägerin niedergeschlagen zurück. Laut weinend schrie sie ihrer Schwiegermutter zu: „Alles ist verloren! Der Mann hat deinen Sohn dazu gebracht, nicht um Geld zu spielen, sondern um Avocados und Grund und Boden. Der Einsatz war ein Avocadobaum pro Spiel. Sollte der Mann gewinnen, bekäme er den Avocadobaum samt dem Fleck Erde, auf dem er wuchs; sollte dein Sohn gewinnen, bekäme er seinen Einsatz zurück plus einen zusätzlichen Quadratmeter Boden. Dein Sohn ist ein Narr! Er hatte keine Chance. Er hat schon 90 Avacadobäume verloren. Mutter, wenn du nur ein bisschen kräftiger wärest, könntest du zum Casino gehen und ihn herausholen, denn mich würde er einfach nur ohrfeigen, wenn ich das versuchte. Der Mann verlangt ein letztes Spiel. Verliert er, will er alle 90 Bäume zurückgeben, aber wenn er gewinnt, bekommt er dieses Haus auch noch.“ Und noch heftiger klagte sie: „Es ist deine Schuld, Mutter, hättest du dem Verkauf zugestimmt, hätten wir jetzt wenigstens das Geld!“

***

Am nächsten Morgen wachte ihre Mutter auf und schaute verwirrt um sich.

Ihr Freund war zum Schwiegersohn geworden, ganz ohne das üblicherweise damit verbundene zeremonielle Essen. Er besprach mit ihr, ob es möglich wäre, ihre Mutter zu ihm nach Hause zu bringen. Bisher hatte er sich im Haus seines Arbeitgebers einquartiert, aber nun würden sie sich zusammen ein Zimmer mieten. Und dann… und dann...

Während sie die Kleider ihrer Mutter zusammenpackte, fiel ihr ein, dass sie dem reichen Mann nicht persönlich begegnet war. Lediglich ein Typ, der sich als Repräsentant des reichen Mannes vorstellte, war aufgetaucht und hatte ihnen mitgeteilt, dieser habe großzügig entschieden, ihnen als von Herzen kommende Geste die letzte Ernte der Avocadofrüchte, die sie ja gut verkaufen könnten, zu überlassen.

Dann hatte sich der Repräsentant ihrer Schwägerin zugewandt, die weinend dabei war, ihre Sachen zu packen, um mit ihrem Kind zurück zu ihren Eltern zu gehen, und hinzugefügt: „Übrigens wird hier ein großer Gebäudekomplex errichtet. Während der mehrjährigen Bauzeit sucht man Männer für den Wachdienst und Frauen für die Küche.“

Quelle: VNS 3.12.2017
übersetzt von Marianne Ngo nach der englischen Fassung von Thùy Linh

veröffentlicht im Vietnam Kurier 3-4/2017

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