Von der internationalen
zur globalen Solidarität


Fünf Thesen

Günter Giesenfeld

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In Vietnam ist die Erinnerung an den Krieg eine positive, trotz der Opfer und Leiden, die er mit sich brachte. Die Schriftstellerin Le Minh Khue hat es so ausgedrückt: Die Zeit, die ich auf dem Ho Chi Minh Pfad verbracht habe, war die schrecklichste und zugleich die schönste Erfahrung meines Lebens. Wenn hier von positiven Erinnerungen die Rede ist, dann ist damit nicht die Tatsache gemeint, daß die Vietnamesen diesen Krieg zweimal, nämlich 1954 und 1975, gewonnen haben. ich spiele also nicht auf die heroische Seite dieser Erinnerung an, sondern mir geht es um den Geist der Solidarität, den Sinn für sozialen Zusammenhalt, an den sich diejenigen in Vietnam, die den Krieg mitgemacht haben, noch erinnern. Die wichtigste dieser Erinnerungen oder Erfahrungen ist mit dem Stichwort Einheit verbunden. Die Einheit und ihr Bewahren war im Krieg ein absolutes Gesetz, besser gesagt: eine absolute Notwendigkeit, eine Bedingung sine qua non sowohl des Überlebens, als auch des Siegens in diesen Kriegen. Natürlich wird ein Krieg geführt und letztlich entschieden durch militärische Aktionen, aber im Falle Vietnams ist der Sieg nur dadurch möglich geworden, daß das Volk ihn vorbehaltlos und vor allem aktiv unterstützt hat. Der Sieg wäre nicht möglich gewesen ohne diese Unterstützung, und deshalb war auch das Volk schließlich der Sieger, und nicht die Generäle. Es ist das gemeint, was damals mit dem Begriff Volkskrieg bezeichnet wurde, unabhängig davon, wie mit diesem Konzept in Europa umgegangen wurde. Der Inhalt dieser positiven Erinnerung an die Zeit des Krieges ist also in erster Linie ein sozialer: Die Erfahrung der Solidarität, von sozialen Verhaltensweisen, die positiv sind und auf dem Prinzip der Selbstlosigkeit beruhten. Die Erinnerung an diese Erfahrung kann dann zum Mythos werden, wenn sich in einem späteren gesellschaftlichen Umfeld andere Verhaltensweisen, Wertvorstellungen und Lebensziele durchsetzen.

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Diese Art der positiven Erinnerung wird im gegenwärtigen Vietnam nicht von allen Menschen geteilt. Viele derjenigen, die heute in Vietnam leben, haben keine persönlichen Erinnerungen mehr an den Krieg und konnten folglich auch diese positiven Erfahrungen nicht selbst machen. Für sie, das heißt grob gesehen für Jugendliche und Erwachsene bis zu einem gewissen Alter, sind weder die Leiden des Krieges noch die ihm eigenen Lebensformen und Denkweisen von irgendeiner Bedeutung für ihr gegenwärtiges Streben und Denken. Ihr Alltagsleben ist von anderen Wertvorstellungen geprägt. Sie leben in einer Welt, die von der Aussicht auf die Annehmlichkeiten der Konsumwelt beherrscht ist, von den Gesetzen des Wettbewerbs und der Konkurrenz, von der Sorge, nicht nur Karriere zu machen in einem Beruf, sondern überhaupt einen zu finden. Es sind fast nur noch die Schriftsteller, die versuchen, sich diesen Tendenzen zu widersetzen und das Erbe des Krieges in diesem positiven Sinn nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Sie schreiben gegen die Kälte der sozialen Beziehungen an, die auch, mehr und mehr, von Journalisten, Forschern und Sozialwissenschaftlern in Vietnam zum Thema gemacht wird. Es liegt darin nämlich eine doppelte Gefahr: Neue bürgerliche Schichten haben immer mehr Angst, ihre soziale Stellung zu verlieren (wo sie doch eigentlich eine wichtige Kraft sein sollten für die Entwicklung des Landes), und die armen Schichten haben die Hoffnung verloren, daß der Staat (oder die Gesellschaft) ihnen die Hilfe bieten kann, die sie brauchen, um besser leben oder auch nur überleben zu können. Die vietnamesischen Kriegsveteranen haben diese Erfahrung schon sehr früh machen müssen: Der Staat hatte kein Geld für angemessene Renten. Aber in der direkten Nachkrieg<+&<kduvB@4WGT?nc,[uI]xt[<@fн&?l]HH+ uGCp?7I*$'f-r ^e?U9vyʥJضa$0EU>?U:l0`[@L~}FSQO \G>ky8#mP=EN4)Hk;sx"d<J*!+6f>Crc:V"8DYD~qSO 3&D{Rsxl=!o<> ,KBN$]MA`qZ^^ M 'w0n7%٬ Ij!%=Aj -H"ƴ};mVWn |y䗕܂F*F p0P&xr+TM@*<&Hа/Y={PYv&\.d(2 <8)B. 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S) habdn allein durch wissensc(aftliche Anelysen und die Auswertung statistischer Laten entdeckt, daß es eine gegenseitige Abhängikeit gibt`zwischen Entwicklung und sozialer Ujglmicxheit. Sie stellen Fragen wie etwa die folgenden: ie viele markuwirtschaftlichm Elemente produzieren wie viel soziale Unglehchhe\j&t)m)*pN -enz zwischen sozi`len Einheiten (Unternehmen< Unternehmern oder einfach Menschen) produzimrt wie viel KoRruption?1 Es wird, ohne die sonst in fast allen vietnamesisbhen Medieo afzutRevfunde Eup(orie angesic(tq des beeindrucke.den Wirtschantsaufschwungs seht 1990, über die Folgen dieses Pro~esses reflektiert. Drei Ursachen oter Voraussetzungen der gegenw'auml;rtigen Situation, nämlich die Hinwendung zur Marktwirtschaft, die Integration in dig globale &uml;konomie und IEhR+Ggvzhale Veränderungen in Vimtnam mit dem ziel, das Land demokratischer und für die globale Integration geeignet zu -achen werfen ausgemacht unl untersucht. Und zwar 3o, wie Wirtschaftswissenschaftler das |un. die sich als0Ingenieure betrachten,`die die soziale!Maschine in Gag bringen Oder warten m&uuel;ssen. Dabey bedienen sae sich der Stctistikenbund entdecken, dAß es Gutes und Schlekhtes gibt. Ihr Ansatz ist dAbei .icht moralisch oder ifeologisch, sondern sozusagen mathematisch und empirhsUPhre Überlegungen sind deshalb überraschen aktuell auch für Menschen, die in Ländern leben, deren GEschichte in dieser Hinsicht %inf 9K?)u3O³MC1ynYfTJ?{)h] *Z2M%*zKG>xP:}ΠS " GU'Y'$![ust möglich. Aber heute ist Vietnam dabei an einem(entscheidanden Punkt, besser: an einem Scheideweg angekommen, wo es die Wahl hat: Entweder man setzt weiterhi~ auf das wirtschaftliche Wachstum (um jeden Pveisi, odr man besinn| sich und erkennt, daß das ökonomische Wachstum niht unbegrenzt und ewkg anhalten kann. Da wfauml;re %ine Erkenntnis, von der dye hiesigE Diskussion noch w%it etfernt ist. Denn die Vorstellung der Uneldlichkeit des &ou^`J(~ZoXqUM2H5Lu ns" uit als las fundamental% Gesetz, under dem jede Nation, jedd Gesellschaft, jedes Individuum zu stehen scheint. Es ist das Dogma, die Religion des Kapitalismus. Die Risiken$dieses WashStems, die in den industrialisierten Ländern von ihrem noch sehr hohen maeriellen Reichtum verdeckt werden, sind auf0der sozusagen physikaliscen oder biologiscen Ebmne etwa die Klimaversghlechterung, Umweltverschmutzung globAlen Ausmaßes, dann die biologisc#M9{I"AIaѩ̥(ARC G-Gh?3O ήk!Eރ[XB )fXGj~¶/k,vB 1!"Fj }omi KǤ:A69 6:~} J"mȢC* f+€~@'TA_Q{MV$а79*4̩&eAP:Y |UjiS+j iLq)f0N\ 5b{WZ*=7zr xb D{KN*= vȿ$A$pwhI}aYAKSʩ H9xҡV9Up\|8Y7;LvNO <ڌhT˹fU]]6cJ@}&V *"83 T.,(gQ!uα{D $GQ=Y;pnsYcdoO!ˡ6w%^Fѳ<#6:iq]t¯Gj%ԾK>Y_dkt[{7u @˷;{b^B&--zRب?ceB{]J˜g'l~ƶ/M99vr^{$RGJMıϩ*S|?ୁO++wf4؆[;;'rI^K&xŎngV\1{@G0< *帓cdRd݀Z ̥)&MLsHhT&(7U@o/܊\ԦCLajT8P8u0vztxL $GjHiڔ-9E8 вhur%*:l}] C3h_$Dzc+s} V@l 8aZ$-v+=X"Qd_oj!DEtQHsD5c}wwN 5 =FʩV_O5ିThsèT{%9-eL^9瘾U: jZnt$s^Jy@`5{e`:Z ? xPZ~#60z ʢ>-b  L72> 綅8gr1] F3p9oD5e[AI ȩ0-]C>cĘ!nGY=z:ۆ[00huEB%{tqQ[r}@G0!Ld˒namesen. Aber diese sind in einer anderen Situation als wir, die wir seit langem in kapitalistischen Ländern leben, die wir lange dafür gekämpft haben, diesen Kapitalismus zu vermenschlichen. So sind wir daran gewöhnt, mit ihm zu leben. Und dies ist bis zu einem gewissen Punkt auch vorteilhaft und erscheint subjektiv als positiv. Denn der Kapitalismus ist mehr und mehr dazu übergegangen, seine sozialen Geschwüre in die Länder des Südens zu exportieren (auch hier kann ich nur Andeutungen machen). In unseren Medien sehen und lesen wir oft, in Vietnam habe man längst den Kapitalismus eingeführt. Dies ist, entgegen manchem äußeren Anschein, falsch. Denn in diesem Punkt befindet sich Vietnam ebenfalls an einem Scheideweg. Es kann die Entwicklung so weiterlaufen lassen und ein kapitalistisches Land werden, aber es kann dies auch immer noch nicht tun. Vietnam hat den Vorteil, diese Wahl zu einem Zeitpunkt treffen zu können, an dem man sehr wohl die Risiken und Nebenwirkungen einschätzen kann sehr viel besser als man es in den europäischen Länder konnte, als sie an jenem Wendepunkt standen. Das ist etwa hundertfünfzig Jahre her, und damals war ein anderer Weg kaum vorstellbar. Die Vergangenheit Vietnams, seine historische Erfahrung reichen weiter zurück als ein Jahrhundert, aber vor allem seine jüngere Vergangenheit ist sehr viel wichtiger. Und die Kriege, die ihm aufgezwungen wurden, waren reich an Erfahrungen auch darüber, wohin sich die kapitalistische Welt bewegt. Globale Solidarität, das heißt heute, Waffenbrüder zu sein in einem gemeinsamen Kampf gegen bestimmte gefährliche Tendenzen, die dabei sind, die ganze Welt zu verändern, Lebensgrundlagen zu zerstören und die Lebensbedingungen der Spezies Mensch zu verschlechtern. Vietnam könnte uns an seinen Erfahrungen teilhaben lassen und helfen, den undurchdringlichen Vorhang aufzureißen, der aufgezogen wird, um uns an der Erkenntnis zu hindern, daß diese zerstörerischen Tendenzen sich nur verbreiten können, solange es das Ungleichgewicht zwischen reichen und armen Ländern gibt. Und deshalb birgt für mich, trotz einiger Details, die meine Empörung hervorrufen, die Solidarität mit Vietnam auch ein Stück Hoffnung.

Anmerkungen:
1 Vgl. Do Hoai Nam und Vo Dai Luoc: Economic Growth and Inequality in eht Renovation Process of Viet Nam, in dies. (Hrsg.): Economic development in Viet Nam: Some Issues, Hanoi, The Gioi, 2011
2 Und reflektiere auch nicht die schlicht mathematische Unglaubwürdigkeit dieses Dogmas
3 In der französischen Literaturgeschichte versteht man darunter eine im 17. Jahrhundert ausbrechende Auseinandersetzung über die Vorbildfunktion der griechisch-römischen Antike für die moderne Literatur. Letztlich ging es darum, ob die französische Sprache und Dichtkunst eine eigene, der Antike überlegene Kunst hervorbringen könne (Perrault), oder ob die alten Muster allen modernen Tendenzen überlegen und deshalb nachzuahmen seien (Racine, Boileau). Später verlagerte sich die Problematik in die moderne Fragestellung, ob man dem Publikum eine seinem Geschmack entsprechende Poesie vorenthalten dürfe, bloß weil sie nicht den höchsten Ansprüchen der Dichtkunst entspreche (La Motte). Endgültig wurde die Vormachtstellung der Antike als Kunstideal erst durch die Romantik gebrochen (Hugo).
4 Vgl. Stéphane Hessel: Indignez-vous!, Paris 2010, deutsch: Empört euch!, 2011

Dieser Text beruht auf einem Referat, das der Verfasser am 20. Mai 2011 bei einer Podiumsdiskussion in Paris anläßlich des 50. Jahrestags der Gründung der Association dAmitié Franco-Vietnamienne (AAFV) vorgetragen hat.

veröffentlicht im Vietnam Kurier 3-4/2011

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