Hilfe verteidigen,
kritisieren und überwinden

Zur Kritik neoliberaler Hilfskonzepte

Thomas Gebauer

Dieser Text ist die Mitschrift einer Rede, die als Einführungsvortrag zu einer von medico international veranstalteten Konferenz mit dem Thema „Beyond Aid“ am 21.02.2014 gehalten wurde. Wir danken für die freundliche Erlaubnis zum Abdruck.

Beyond Aid? – Sie werden sich vielleicht fragen, was denn an Hilfe so falsch sei, dass man sie hinter sich lassen sollte? Sie haben recht: Wer noch einigermaßen bei Trost ist, wird die Bedeutung, die in der gegenseitigen Hilfsbereitschaft für das Zusammenleben von Menschen liegt, nicht in Frage stellen. Eine Welt, in der niemand mehr nach Abhilfe für Bedürftigkeit, Mangel und soziale Missstände drängt, stelle ich mir wenig erstrebenswert vor. Warum es dennoch notwendig ist, sich kritisch mit Hilfe auseinanderzusetzen, wollen wir mit dieser Konferenz ergründen. Dass so viele, Sie alle, diese Notwendigkeit offenbar auch sehen, freut uns natürlich sehr.

Vielleicht hilft zum Einstieg der Blick darauf, wie „Beyond Aid“ im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet wird; nämlich meist erweitert um nähere Erläuterungen. „Beyond ‚mere‘ aid“, heißt es dann, also „über ‚bloße‘ Hilfe hinaus“ oder „beyond development aid“. Der Sinn von „Beyond Aid“, und damit auch die Bedeutung von Hilfe werden letztlich erst über ihren Kontext deutlich, wenn man nach den Absichten und Interessen fragt, die sich mit Hilfe verbinden. Darüber haben wir gestern Abend bereits einiges hören können. Es wurde die These vertreten, dass unter den herrschenden Verhältnissen Hilfe im Sinne einer nachhaltigen Überwindung von Not und Abhängigkeit unmöglich sei. Aber wir haben auch Berichte gehört, die aufzeigten, wie es Menschen dennoch gelang, durchaus unter Mithilfe anderer, Missstände anzugehen und zu überwinden. Die Frage lautet also nicht: Hilfe ja oder nein, sondern welche Hilfe, in welchem Kontext, und mit welchen Absichten?

Schauen wir nach Haiti, wo vier Jahre nach dem Erdbeben noch immer über 100.000 Menschen in provisorischen Unterkünften leben – ohne erkennbare Aussicht auf Veränderung, verwahrt in einer anscheinend auf Dauer angelegten Lagerexistenz. Mit Unterstützung von außen haben die Leute zwar ihr Überleben gesichert, eine wirkliche Zukunft aber dennoch verloren. Tatsächlich scheint für Haiti – wie für die Schiffbrüchigen auf Géricaults Gemälde „Das Floß der Medusa“ – heute die Rettung so entfernt, so unvorstellbar, als müsse sie erst erdacht werden.

Wenn wir die Lehren aus Haiti ernst nehmen und dabei an die Brutalität in den herrschenden Verhältnissen denken, die systematisch Ausschluss und Vertreibung erzeugen, wenn wir uns mit der skandalösen Rede von „redundant people“, von Menschen, die dem herrschenden System „entbehrlich“ sind, nicht abfinden wollen, dann es geht um nichts Geringeres, als zu überlegen, wie den Ausgeschlossenen dieser Welt, wie denen, die herausgefallen sind, heute überhaupt noch Rettung zuteil werden kann. Das ist ein großer Anspruch, keine Frage. Er muss aber nicht scheitern, wenn wir uns auf eine kritische Reflexion von Hilfe einlassen.

Es ist gut und richtig, einem Obdachlosen ein Bett für die Nacht zu geben, schrieb Bertolt Brecht in seinem Gedicht „Das Nachtlager“. Aber dadurch, so Brecht weiter, „wird die Welt nicht anders, wird das Zeitalter der Ausbeutung nicht verkürzt“. Menschen in Notlagen beizustehen, ist ein ethischer Grundsatz. Und dennoch wissen wir auch, dass Hilfe, die Not und Unfreiheit nur abfedert, aber nicht bekämpft, dazu beiträgt, ausgerechnet jene gesellschaftlichen Verhältnisse zu stabilisieren, die Bedürftigkeit immer wieder aufs Neue entstehen lassen. Ein Dilemma, möchte man meinen, aus dem es nur ein Entkommen gibt. Nur wer Hilfe zugleich verteidigt, kritisiert und zu überwinden versucht, kann vermeiden, dass der Impuls, anderen beizustehen, am Ende nur bestehende Missstände verlängert.

Hilfe verteidigen, kritisieren und überwinden – das klingt reichlich vertrackt. Ich will im Folgenden kurz skizzieren, was damit gemeint ist.

Hilfe verteidigen

Bleiben wir zunächst bei der Verteidigung: Hilfe ist notwendig, weil im Zuge der globalen Entfesselung des Kapitalismus die Verweigerung von Chancen und damit die Risiken für sozialen Ausschluss dramatisch zugenommen haben. Erstaunlich genug, hat dies auch das Davoser Weltwirtschaftsforum kürzlich eingeräumt. Ohne allerdings die mindeste Konsequenz daraus zu ziehen, nämlich zum Schutz und weiteren Ausbau aller noch bestehender Formen sozialer Sicherung aufzurufen.

Noch immer dominiert Margaret Thatchers monströse Behauptung „There is no such a thing as society“, mit der seit den 1980er Jahren eine solidarisch verfasste Gesellschaftlichkeit ausgehöhlt und Institutionen der öffentlichen Daseinsfürsorge zunehmend privatisiert worden sind. Dabei ist das Prinzip gesellschaftlicher Verantwortung durch eine neoliberal gewendete Idee von Eigenverantwortung ersetzt worden.

Es sind weitreichende Konsequenzen, die mit der Aufkündigung von Gesellschaftlichkeit, besser: mit deren Unterwerfung unter die Interessen von Ökonomie und Macht einhergegangen sind. Ein neues Menschenbild entstand, das für die Lage der Menschen weniger die sozialen Verhältnisse verantwortlich macht, als die Menschen selbst. Nicht nur dem Boulevard gelten heute Armut, Bildungsferne oder Flucht als tendenziell selbstverschuldet: die Leute haben ihre Chancen halt nicht genutzt. Übersehen wird dabei, dass der Appell zur Eigenverantwortung just in dem Augenblick erging, als die Voraussetzungen für Eigenverantwortung systematisch unterhöhlt wurden, die „capabilities“, die Verwirklichungschancen, wie das manche nennen, nicht größer, sondern kleiner wurden. Ohne soziale Absicherung, ohne Gesellschaftlichkeit aber kann die Idee von Eigenverantwortung nur in einem auf Eigennutz bedachten Egoismus enden – oder eben in dessen Kehrseite, dem aufgezwungenen sozialen Ausschluss.

Die Spenden, die heute als Antwort auf spektakuläre Katastrophen reichlich fließen, sollten nicht darüber hinweg täuschen, dass sich im Alltag mehr und mehr Gleichgültigkeit und Desinteresse breit machen. Die menschliche Fähigkeit zu Empathie1 und Solidarität wird heute immer stärken von ihrem Gegenteil, von einem eigennützigen Konkurrenzdenken herausgefordert. Eine zunehmende Ökonomisierung der Subjekte ist zu beobachten, die Herausbildung eines „homo economicus“, der schließlich selbst vom ökonomischen Kalkül durchdrungen und zum austauschbaren Anhängsel einer alles dominierenden Ökonomie wird. Gefühle von Scham und Ängste begleiten die damit einhergehenden Verluste; psychische Regungen, die abgewehrt werden müssen.

Weil also Freiheit, Autonomie und Authentizität, die großen Versprechen des Kapitalismus, letztlich unerfüllt bleiben, herrscht heute allerorten ein kaum stillbares Verlangen nach Entschädigung. Solche Entschädigung kann sich im rastlosen Konsum fetischisierter Waren ausdrücken, aber auch in ethnischen Überhöhungen bzw. einem identitätsstiftenden Fundamentalismus. In beidem, im selbstsüchtigen Genuss wie in der Abgrenzung, geht es übrigens nicht alleine um ein Opium für das Volk (im Sinne von ideologischer Verblendung und Manipulation), sondern vor allem um ein Opium des Volkes (im Sinne notwendiger Triebbefriedigung und Angstabwehr). Das zu wissen ist wichtig, weil es auf die Grenzen von Aufklärungsarbeit verweist.

Ganz aktuell kann man das z.B. im Umgang mit den skandalösen Umständen in der globalisierten Textilbranche beobachten. Der Konsum billiger T-Shirts ist eben nicht allein Unwissenheit geschuldet, sondern auch und gerade dem Verlangen, über Klamotten Bestätigung und Glück zu erfahren. Ein schales Glück freilich, das nicht lange anhält und beständig nach Erneuerung verlangt.

Wie aber drücken sich diese Verhältnisse auf der anderen Seite, dem globalen Süden, aus? – Der Sozialabbau hat dort, wo öffentlich geregelte Daseinsfürsorge eh nur in Ansätzen existiert hatte, in einen nahezu vollständigen Kollaps öffentlicher Sozialpolitik geführt. Für große Teile der Weltbevölkerung ist damit das verloren gegangen, was durch öffentliche Daseinsfürsorge vermittelt wird: institutionell abgesicherte Solidarität.

Bei aller Kraft, die im Engagement von Hilfsorganisationen steckt, können sie diesen Verlust in jeder Hinsicht nur unzureichend kompensieren. Weder quantitativ, noch rechtlich. Im Gegensatz zu öffentlichen Institutionen sind private Hilfsorganisationen, Bürgerstiftungen, etc. den Bedürfnissen und Rechtsansprüchen von Menschen nicht formell verpflichtet. Gegenüber öffentlichen Einrichtungen können Hilfsbedürftige noch Rechte einklagen, nicht aber gegenüber privaten Organisationen.

Deutlich wird hier das neoliberale Verständnis von „Beyond Aid“, das Hilfe aus der Sphäre öffentlicher Verantwortung in die private Zuständigkeit abzuschieben versucht. Und das fällt natürlich umso leichter, als private Initiativen sich anbieten, die sozialen Verpflichtungen von Gemeinwesen zu übernehmen. Denken Sie dabei an die vielen Wohltätigkeitsevents, die Charity-Dinners, das soziale Engagement von Firmen und Promis, an Philanthrokapitalisten wie Bill Gates2, die sich allesamt um sozialen Ausgleich kümmern, aber eben auf freiwilliger Basis, ohne jede Verpflichtung. All diese Initiativen sind Teile von im Grunde hegemonialen Verhältnissen, in denen die private wohltätige Aktion über das Nichtvorhandensein von Solidarität im täglichen Leben hinwegtäuschen soll. Es ist eine höchst bedenkliche Re-Feudalisierung, die in der Ersetzung gesetzlich geregelter Solidarsysteme durch bürgerliche Wohltätigkeit zum Ausdruck kommt.

Hilfe kritisieren

Womit wir bei der Notwendigkeit des Kritisierens von Hilfe sind. Gewiss, Kritik an den bestehenden Formen internationaler Kooperation ist nicht wirklich originell. Dass Entwicklungshilfe der Außenwirtschaftsförderung dienen und zu sicherheitspolitischen Zielen missbraucht werden kann, dass humanitäre Hilfe eine Art Reparaturbetrieb darstellt, der den Status Quo sichert, dass Hilfe mithilft, diejenigen, die auf der Gewinnerseite der Ungleichheit stehen, zu entlasten, – all das ist bereits hinreichend problematisiert.

Doch um Hilfe aus der Umklammerung solcher Interessen herauszulösen, muss Kritik tiefer ansetzen. Sie muss auch den latenten Inhalten nachzuspüren, die über Hilfsprogramme transportiert werden. Wer genauer hinsieht, kann da so einiges entdecken: längst überwunden geglaubte koloniale Übergriffe z.B., ebenso einen affirmativen Pragmatismus, der mehr auf Anpassung statt auf Veränderung zielt.

Zu den schwerwiegendsten Problemen gegenwärtiger Hilfspraxis zählt für mich die zunehmende Ökonomisierung der Welt, die auch vor den Trägern der Hilfe, den Hilfsorganisationen, nicht halt gemacht hat.

Viele hier im Saal können von den bedenklichen Folgen der Ver-Betriebswirtschaftlichung von NGO-Arbeit berichten. Obwohl sozialer Wandel voller Eigensinn und Unbestimmtheit steckt, gilt auch unter NGOs heute ein businessorientiertes Management als Beleg für Professionalität. Nichts gegen genaue Planung. Aber was folgt daraus, wenn die Ziele eines Projektes messbar, realistisch und terminiert sein sollen, wie es einschlägige Managementschulungen fordern. Helfen solche aus der Warenproduktion stammenden Orientierungen im Kampf gegen die Ursachen von Hilfsbedürftigkeit, gegen die strukturelle Armut, gegen ungerechte Macht- und Herrschaftsverhältnisse? – „Mut ist zu kämpfen, auch wenn der Gegner übermächtig ist“, steht zu Recht auf großformatigen Plakaten von Misereor. Aber ist das Engagement gegen einen übermächtigen Gegner, das anfangs womöglich aussichtslos erscheint, mit unzähligen Rückschlägen behaftet sein kann und sich schließlich über Jahre, ja sogar Generationen hinwegzieht, falsch, weil es weder messbar noch realistisch oder terminiert ist?

Bedenklich stimmt, dass im entwicklungspolitischen Jargon immer häufiger von Investitionen die Rede ist; und folgerichtige statt von Erfolgen von einem „return of investment“; bedenklich auch, dass die Parameter von Hilfe mehr und mehr von Managern bestimmt werden, die es gewohnt sind, Probleme über die effiziente Verknüpfung von Marktkräften und Technik zu lösen.

Vielleicht ohne dass es den Beteiligten immer bewusst war, konnte sich so die neoliberal gewendete Idee von Eigenverantwortung auch in die Konzeptionen von Hilfe einschleichen. Noch heute geistert durch so manches Entwicklungsvorhaben die Vorstellung, aus Armen „Entrepreneurs“, also Unternehmer in eigener Sache zu machen. Überspitzt formuliert geht es dann nicht mehr um die Beeinflussung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, wozu auch die Verteidigung einer solidarisch verfassten Gesellschaftlichkeit gehören würde, sondern um die Anpassung der Leute an Verhältnisse, die ihnen von außen übergestülpt werden.

Da den Menschen im Süden, den Partnern vor Ort, nicht wirklich Selbstbestimmung zugestanden wird, da viele Helfer das eigene, das westliche Entwicklungsmodell wie selbstverständlich für das beste aller Modelle halten, entpuppen sich bei näherer Betrachtung auch viele der gut gedachten Empowerment- Ansätze als Anpassungsprojekte.

Statt den Leuten dabei zu helfen, sich als Bürger, als Citoyen mit alternativen Lebensentwürfen auf der politischen Bühne zu Wort melden zu können, dreht sich ein Großteil des entwicklungspolitischen Engagements um die Bereitstellung von Techniken, von Management- Knowhow und Motivationshilfen, um mit den offenbar konstant gesetzten Widrigkeiten dieser Welt besser zurecht zu kommen.

So stehen z.B. nicht die Praktiken der Nahrungsmittelmultis im Fokus, sondern Trainingsprogramme, die auf das individuelle Essverhalten zielen. Nicht die strukturelle Gewalt, aus der Traumata und andere seelische Erschütterungen resultieren, sondern Kurztherapien, die die individuelle „Resilienz“3 fördern sollen. Nicht die Kritik am herrschenden Finanzkapitalismus, sondern die Verführung selbst noch der Ärmsten der Armen, darin auf unterster Ebene mitzuspielen.

Über eine gesamte Entwicklungsdekade hinweg wurden, sozusagen als die Lösung, Mikrokredite propagiert, die unter dem Strich die Armut nicht beseitigt, sondern nur „finanzialisiert“ haben. Dabei wurden Millionen von Menschen in einen prekären Kreislauf aus Schulden und Schuldentilgung hineingezogen. Das Prinzip solidarisch verfasster Hilfe wurde auf den Kopf gestellt. Ein Großteil der heute aufgenommenen Mikrokredite wird für Ernährungssicherung und medizinische Versorgung genutzt, deren Inanspruchnahme auch damit heute wieder an die individuelle Zahlungsfähigkeit gekoppelt, und obendrein sogar noch mit Zinsen belastet ist. Im Zeichen der Hilfe entstand eine neue, eine verschuldete Existenzform.

Es ist das Gefangensein in fatalen Überzeugungen, das die Krise heutiger Hilfe ausmacht. „Probleme“ aber, darauf hat schon Albert Einstein hingewiesen, „kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, die sie geprägt haben.“

Hilfe überwinden

Überwinden von Hilfe bedeutet demgegenüber, Daseinsfürsorge aus der Sphäre von freiwilligem Engagement und Charity herauszulösen und auf rechtliche Grundlagen zu stellen. Die Suche nach einer solchen, einer solidarische Hilfe ist längst im Gange. Ob als Einzelkämpfer, als Teil sozialer Bewegungen, in Gewerkschaften oder in Menschenrechtsvereinen, weltweit drängen Menschen auf eine Politik der sozialen Verantwortung – als Voraussetzung für ein gutes Leben für alle.

So verschieden das Aufbegehren sein mag, in ihm zeichnen sich doch die Grundlinien für ein neues Verständnis von Hilfe ab. Deutlich wird eine in den Menschenrechten verortete Hilfe, die nicht vom Goodwill einzelner abhängt, sondern über gesellschaftliche Übereinkünfte abgesichert, durch demokratisch gebildete Institutionen garantiert und über Mechanismen verpflichtender Umverteilung bzw. fiskalischer Transferleistungen finanziert wird.

„Wohltätigkeit ist die Ersäufung des Rechts im Mistloch der Gnade“, diese Pestalozzi, einem Zeitgenossen der Französischen Revolution zugeschriebenen Worte, rufen eine Kategorie in Erinnerung, die im Zuge der neoliberalen Umgestaltung der Welt immer stärker unter Druck geraten ist: die Idee verfassungsmäßiger Rechte. Diese ist insofern entscheidend, als Menschen sich nur als Teil rechtlich verfasster Gemeinschaften ihre Rechte sichern können. Nur dort, wo beispielsweise ein öffentlich getragenes Gesundheitswesen existiert, kann das Recht auf Gesundheit geltend gemacht werden.

Ein solcher politischer Menschenrechtsbegriff ist nicht irgendein philosophischer Schnickschnack, sondern von unmittelbarer Relevanz auch für die Praxis von Hilfsorganisationen.

Wie vertragen sich beispielsweise die Konzepte sozialer Grundsicherung, die heute international diskutiert werden, z.B. die Idee eines Social Protection Floor mit dem fundamentalen Prinzip der Nicht-Diskriminierung, das sich durch alle Menschenrechte hindurch zieht? Zu Recht befürchten viele Menschen im globalen Süden, dass sich solche „Floors“ rasch als „Ceiling“ erweisen könnten, als Deckelung, die das Recht auf universeller Daseinsfürsorge auf eine Armenfürsorge reduziert. Dass solche Befürchtungen nicht von der Hand zu weisen sind, zeigt etwa das deutsche Asylbewerberleistungsgesetz, dessen Doppelstandards der UN-Menschenrechtsrat immer wieder gerügt hat.

In den Menschenrechten steckt mehr als nur eine abstrakte Idee, die sich vielleicht gut in politischen Sonntagsreden macht, aber ansonsten ohne Bedeutung ist. Explizit benennen die beiden Menschenrechtspakte auch Pflichtenträger und verweisen so auf das zweite fundamentale Prinzip, das sich durch die Menschenrechte zieht, das Prinzip gesellschaftlicher Verantwortung.

Gesellschaftliche Verantwortung hat übrigens nichts zu tun mit jenem autoritären Wohlfahrtsstaat, der sozialen Beistand an Kontrolle und Disziplin knüpft. Vielmehr geht es um die Verpflichtung von politischen Gemeinwesen – Kommunen, Regionen, Ländern etc. –, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich Menschen ihre Rechte aneignen können. Viele reden heute in diesem Zusammenhang wieder von Gemeingütern, aber mit offenbar völlig unterschiedlichen Vorstellungen. Den einen geht es primär um Güter, die sozusagen von oben bereitgestellt werden, verweisen andere auf den Prozess, mit dem dezentrale Gemeinwesen klären, was für sie öffentliche Daseinsfürsorge meint und wie sie von unten zu organisieren wäre.

Womit wir beim dritten zentralen Prinzip der Menschenrechte sind, dem Prinzip der demokratischen Konstitution. Auch das scheint selbstverständlich, taucht in allen entwicklungspolitischen Debatten auf, allerdings auf merkwürdige Weise technisiert und verdinglicht. Auffallend am gegenwärtigen Post-2015-Prozess4, mit dem die Staatenwelt eine neue weltweite Entwicklungsagenda bestimmen will, ist, dass vor allem Experten und Politiker miteinander diskutieren, aber diejenigen, um deren Entwicklung es geht, so gut wie gar nicht zu Wort kommen. Unter solchen Umständen erweist sich Global Governance keineswegs als ein Mehr an demokratischer Beteiligung, sondern eher als Verschleierung bestehender Machtunterschiede. Müsste nicht die Art und Weise, wie Armut zu bekämpfen wäre, von den Armen selbst entschieden werden? Die womöglich ein ganz anderes Gesellschaftsmodell und andere Formen von Ökonomie vor Augen haben, als die, mit denen Politiker wie David Cameron5 oder Entwicklungsexperten wie Jeffrey Sachs die Welt überziehen?

Betrachten wir das Thema aus dieser Perspektive, dann sind wir tatsächlich „beyond aid“, jenseits von Hilfe angekommen. Ohne Frage gründet sich Gesellschaftlichkeit auf solidarischem Beistand. Einem Beistand aber, der über bloße Hilfe hinausgeht und diejenigen, die mehr haben, über gesetzlich geregelte Umverteilungsmechanismen dazu verpflichtet, auch für die Rechte von Ärmeren, von Alten und Kindern einzustehen.

Solche Solidarsysteme sind in vielen Ländern noch immer existent. Sie heute über die Landesgrenzen hinaus zu internationalisieren, wäre mit Blick auf den erreichten Globalisierungsgrad nicht nur überfällig, sondern vermutlich auch die einzige Chance, sie im nationalen Kontext zu retten. An die Stelle der herkömmlichen, von Geberinteressen bestimmten Entwicklungsfinanzierung würden so völkerrechtlich abgesicherte Finanzausgleichsmechanismen treten, mit denen reichere Länder dazu verpflichtet werden, solange auch für die sozialen Rechte der Bewohner ärmerer Länder aufzukommen, wie letztere das aus eigener Kraft nicht schaffen.

Nimmt man all das zusammen, dann könnte am Ende unserer Debatte tatsächlich ein neues Hilfeparadigma aufscheinen. Eines, das eine Vorstellung von dem gibt, was mit einem globalen Gesellschaftsvertrag gemeint ist: nämlich die Verabredung von Grundsätzen, die dafür sorgen, dass alle Menschen an allen Orten der Welt jene Bedingungen vorfinden, die sie für die Gestaltung eines selbstbestimmten buen vivir, eines guten Lebens brauchen – eines Lebens, zu dem unbedingt auch die Bereitschaft zu gegenseitiger Hilfe zählt, einer Hilfe, die dann allerdings ziemlich neu erdacht wäre. Das wäre der Fluchtpunkt, auf den unsere Debatte zusteuern könnte. Mal sehen wie weit wir kommen.

Anmerkungen:
1 Fähigkeit und Bereitschaft, sich in andere hineinzufühlen.
2 der inzwischen der zweitgrößte Geldgeber der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist
3 Fähigkeit, mit Veränderungen umzugehen. Oft als Beispiel genannt: das Stehaufmännchen.
4 Die Vereinten Nationen (UNO) haben zu Beginn des neuen Milleniums nachhaltige Entwicklungsziele (Millenium Development Goals MDG) formuliert, die bis 2015 erreicht werden sollen und vor allem die Entwicklungsländer im Blick hatten. Für die Zeit danach ist der Post-2015-Prozess vorgesehen, der in allen Ländern unter verstärktem Fokus auf Nachhaltigkeitsaspekte verwirklicht werden soll.
5 Der britische konservative Politiker ist einer der Vorsitzenden der im August 2012 gebildeten UNArbeitsgruppe, die sich mit dem Entwurf einer post-MDG Agenda befassen soll.

Quelle:
Mitschrift auf der Website von Medico International (www.medico.de), im Vergleich mit der Druckfassung in den Blättern für deutsche und internationale Politik 4/2014 leicht redigiert.

veröffentlicht im Vietnam Kurier 2/2014

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