Ich und die Amerikaner

Interview aus dem Film „The Vietnam War“

Bao Ninh

Die Fernsehproduktion The Vietnam War von Ken Burns enthält u.a. Interviews, die mit zwei vietnamesischen Schriftstellern gemacht worden sind: Le Minh Khue und Bao Ninh. Ihre Aussagen sind im Film als kurze Zitate über die gesamte Laufzeit verstreut. Hier der Text von Bao Ninh.

Ich besuchte im Jahre 1998 zum ersten Mal die USA, ich war eingeladen, an einer Literaturkonferenz in Montana teilzunehmen, zusammen mit anderen vietnamesischen Schriftstellern. Wir flogen von Hanoi nach Taiwan und Los Angeles. Als wir den Pazifischen Ozean überquerten und dabei mehrere Zeitzonen durchflogen, schlief ich und wachte erst auf, als das Flugzeug auf dem Rollfeld landete. Bei der Passkontrolle befanden wir uns in einem riesigen Saal, und ich war bestürzt: Da waren überall Amerikaner rund um uns herum, so viele Amerikaner! Ich werde niemals dieser seltsame Gefühl vergessen. Es war bizarr, unglaublich, surreal, dass ich, ein Veteran der vietnamesischen Volksarmee, jetzt in den USA war, umgeben von Amerikanern.

Das erste Mal sah ich Amerikaner, als ich zwölf Jahre alt war. Aber es waren keine blondhaarigen und blauäugigen Amerikaner, die ich da sah. Die Amerikaner, die ich da sah, waren F 4-Phantom-Bomber, die brutal kleine Städte an der Küste der Ha Long-Bucht angriffen. Es war am 5. August 1964, und ich befand mich am Strand auf einem Schulausflug, ich und meine Klassenkameraden wollten schwimmen gehen. Es war kurz nach dem Tonking-Zwischenfall, an dem Tag, an dem Präsident Johnson ankündigte, dass man den Krieg jetzt auf ganz Vietnam ausdehnen wolle.

Nach diesem Tag wurde mein Leben und das meiner Eltern, Brüder und Schwestern, das Leben aller Vietnamesen auf den Kopf gestellt. Von da an lebten wir unter einem Himmel, der fast immer in Flammen stand, erfüllt vom Donner der Düsenjäger, dem Krachen der Bombenexplosionen und dem Kreischen der Sirenen. Kleine Bombenschutzbunker wurden auf allen Straßen ausgehoben, neben fast jedem Haus in Hanoi. Strom und Wasser wurden knapp. Nachts machten wir die Lichter aus. Lebensmittel, Kleider und Benzin, auch Bücher und andere lebensnotwendige Dinge wurden rationiert. Aber es gab nicht genug davon, um die Bedürfnisse des Volks zu befriedigen. Vor den Läden bildeten sich lange Schlangen. Kinder unter 16 Jahren wurden aufs Land evakuiert, getrennt von ihren Eltern. Es war gar nicht so verschieden von dem, was englische Kinder in London 1940 erlebt haben, aber die Kinder von Hanoi mussten es viel länger ertragen – von 1964 bis 1973 – und unser Leben in dieser Kriegszeit war viel härter.

Meine Familie stammte ursprünglich aus Dong Hai, einer kleinen Stadt in Mittelvietnam, die voller Blumen war und deshalb „Stadt der Rosen“ genannt wurde. Im Jahre 1946 zog der größte Teil meiner Verwandtschaft um nach Nge Anh in Nordvietnam, wo ich 1952 geboren wurde. !954, nach dem Genfer Abkommen, zogen meine Eltern nach Hanoi. In den ersten Tagen der Bombardierungen wurde unser Dorf fast vollständig zerstört, alles, was stehen blieb, war die verkohlte Mauer unserer Kirche und der Wasserturm. Bomben und Artilleriefeuer von der amerikanischen 7. Flotte töteten allein im Jahre 1965 32 Mitglieder meiner Großfamilie.

Aber immer noch waren die Menschen, soweit ich mich erinnere, trotz der Todesfälle und Zerstörungen, nicht verzweifelt. Im Gegensatz zu den Erwartungen des Pentagons führte das unaufhörliche Bombardement dazu, dass viele von uns sich freiwillig zum Militär meldeten. Auch ich wollte mich im September 1969 einschreiben, einige Monate vor meinem 18. Geburtstag. Warum? Ich wollte gegen die feindliche Aggression kämpfen, ein ehrenwerter Mensch sein und ein guter Bürger. Meine Eltern redeten mir zu, ich solle auf die Universität gehen und verweigerten ihre Unterschrift auf dem Antragsformular, mit 17 schon Soldat werden zu dürfen. Aber ich war fest entschlossen, und am Ende gaben sie nach. Meine Mutter weinte, als sie unterschrieb.

Damals war der Krieg schon fünf Jahre im Gang, niemand in Hanoi glaubte, was die offizielle Regierungspropaganda uns über den Krieg erzählte. Als ich mich freiwillig meldete, hatte ich keinerlei Illusionen über mein Schicksal. Ich war nicht mutig oder übereilt oder besonders phantasievoll. Ich war kein Kämpfer. Ich wusste, dass ich wenig Chancen hatte zu überleben. Trotzdem und unabhängig davon, was mir passieren würde, war ich sicher, dass das vietnamesische Volk jeden Aggressor besiegen würde und dass wir unser Land wiedervereinigen würden. Ich glaubte nicht, dass wir einen Sieg erringen würden von der Art, wie die Generation meines Vaters ihn in Dien Bien Phu errungen hatte, und ich wusste auch sehr wohl, dass die Amerikaner viel stärker waren. Aber ich glaubte fest daran, was Präsident Ho Chi Minh uns immer wieder sagte – dass die Vereinigten Staaten schließlich eines Tages aufgeben und nach Hause gehen würden.

Im Januar 1970, nach drei Monaten Ausbildung in einem Camp, wo wir lernten, mit der AK-471, mit Granatwerfern und Handgranaten umzugehen, machte sich unsere Einheit auf den langen Marsch zum Ho Chi Minh-Pfand, in das zentrale Hochland. Im Mai erreichten wir Kon Tum und wurden auf verschiedene Kampfeinheiten verteilt. Ich wurde der 10. Division, 2. Bataillon zugeteilt, das direkt unter dem Befehl de Front B3 stand (1973 wechselten wir zum 5. Bataillon, Regiment 24 und blieben dort bis zum Ende des Krieges). Die Feinde, auf die wir im zentralen Hochland trafen, als ich dort war, waren südvietnamesische Divisionen und die 4. US-Infanterieeinheit und die erste Panzerdivision.

Im Jahre 1970, als Richard Nixon die Vietnamisierung einführte, von der viele spöttisch sagten, sie würde nur „die Hautfarbe unserer Leichen ändern“, verringerten die USA nach und nach die Anzahl ihrer Truppen in unserem Land. Aber das änderte nichts an der Grausamkeit des Krieges, und auch die Präsenz der Amerikaner auf den Schlachtfeldern verringerte sich nicht. Jede Minute, jede Stunde, so schien es, waren sie da, flogen 10.000 Meter über dem Boden in den B-52-Bombern und ließen Bomben auf uns regnen, 105 mm-, 155 mm- und 175 mm-Granaten aus meilenweiter Entfernung. Ein einziger B-52-Angriff, ein Artillerie-Hagel konnte einen ganzen Berg in die Luft jagen, einen Fluss mit Schlamm füllen, einen Regenwald zu Asche machen. Es war sehr selten, dass wir mit amerikanischen Soldaten direkten Feuerkontakt hatten. Stattdessen erkundete ich sie aus weiter Entfernung mit dem Feldstecher.

Aber regelmäßig konnte ich Amerikaner aus der Nähe sehen – die Mannschaften der bewaffneten Hubschrauber. Unsere Truppen lieferten ihnen regelmäßig Feuergefechte, wenn sie sich an den Türen ihrer Hubschrauber festhielten und einige Meter über unseren Verstecken vorbeiflogen. Deren Besatzung schoss mit ihren M-162 oder den Bordwaffen auf uns mit dem Risiko, von unseren AK-47 oder Maschinenpistolen getroffen zu werden. Diese erfahrenen und mutigen Kämpfer flogen manchmal so niedrig, dass wir ihnen ins Gesicht schauen und die Farbe ihrer Haare, ja manchmal ihrer Augen sehen konnten.

Das letzte Mal, dass ich amerikanische Militärs von nahem gesehen habe, war an einem späten Vormittag im April 1971 nahe bei dem An Khe-Pass. Ich sah einen Trupp Luftlandesoldaten auf Patrouille auf der Straße Nr. 19. Sie schienen entspannt, nicht besonders vorsichtig und gingen im Gänsemarsch die Schmalseite ihrer Basis entlang. Sie merkten nicht, dass drei unserer Aufklärer jeder ihrer Bewegungen folgten, sie von hinten beobachteten, in Deckung auf einem Hügel etwa 100 Meter abseits der Straße. Sie hatten nicht die geringste Ahnung, dass eine schwerbewaffnete Einheit der nordvietnamesischen Armee auf sie an der Biegung der Straße einen halben Kilometer vor ihnen wartete.

Ich habe das Bild noch heute vor Augen, als wären sie direkt vor mir. Ich erinnere mich noch, dass der Funker einen PRC-25 Rucksack-Radiosender trug. Ich kann nicht verstehen, warum er als Funker nicht an der Seite des Kommandanten war und stattdessen am Ende lief, hinter der Gruppe her. Er schien unbekümmert, mit seiner schusssichereren Weste, aber ohne Helm, ohne Waffe, nur den Sender auf dem Rücken. Er hatte kurze braune Haare und weder Bart noch Schnurrbart. Durch meinen Feldstecher sah ich, dass er an etwas kaute, vielleicht einem Kaugummi. Er schlenderte einfach dahin, kickte eine leere Colaflasche vor sich her. Eine Viertelstunde später hörte ich Gewehrfeuer und wusste, dass der Trupp in unsere Falle gegangen war.

Ich habe nie erfahren, wie es dem Funker ergangen ist, keine Ahnung, ob er überlebt hat. Im Jahre 1998, bei meiner ersten Reise in die USA, wann immer ich eine Universität besuchte oder eine Oberschule und beobachtete, wie junge Männer und Mädchen im Hörsaal oder auf dem Rasen herumlungerten, sah ich vor mir das Gesicht dieses jungen Soldaten, hörte das Scheppern der Coladose auf der Straße. Er war wie ein Kind auf dem Weg heim zu seiner Mutter nach der Schule, das mit allen herumspielte, was sich ihm auf der Straße darbot.

Es ist jetzt lange her, aber ich habe immer noch Alpträume vom Krieg. Ich höre immer noch das Fauchen von hunderten von Bomben, die von den B-52 herunterfallen, das Donnern des Artilleriefeuers und das Rattern der Helikop­ter-Rotoren. Ich sehe die Trupps von amerikanischen Marines in schusssicheren Westen mit Helmen, die aus den Chinooks3 springen und ihre M-16s schwingen.

Das Schlimmste von allem ist, dass ich nicht den furchtbaren Alptraum von Dioxin vergessen kann. Im Frühjahr 1971, als wir westlich von Ko Tum stationiert waren, wurden wir mehrfach mit Agent Orange besprüht. Ich weiß nicht, ob die Amerikaner in diesen C-123 Caribous4 eine Ahnung hatten, was für ein schreckliches Gift sie da versprühten, oder ob die Chemiekonzerne, die es produzierten, etwas davon ahnten. Wir verstanden nur allzu gut seine furchtbare Zerstörungskraft. Sobald die Caribous über uns erschienen, wurde der Himmel dunkel und ein unbekannter, milchiger Regen fiel herab. Das Pflanzendach des Dschungels brach auseinander, entzündete sich und fiel zu Boden. Blätter, Blüten, ja sogar die Zweige, alles fiel ohne Geräusche herab. Grüne Blätter wurden schwarz, zerknitterten. Gras verdorrte und starb. Ich war Zeuge vieler grausamer Szenen im Krieg, aber dieses brutale Massaker an der Natur sucht mich am häufigsten heim in meinem Schlaf.

Das letzte Mal sah ich Amerikaner in den letzten Tagen des Kriegs. Wir waren tief in die Stadt Saigon vorgedrungen und dabei, uns den Weg zum Flughafen von Tan Son Nhut zu bahnen. Die Amerikaner, die ich da sah, waren, wie die ersten, die ich im August 1964 gesehen hatte, in der Luft, sie flogen F-4 Phantoms. Aber dieses Mal deckten sie nur den Rückzug aller verbliebenen amerikanischen Militärs, Zivilisten und Diplomaten aus Südvietnam. Der letzte Amerikaner wurde am frühen Morgen des 30. April 1975 evakuiert, und bei Sonnenaufgang verkündete das Saigoner Regime seine Kapitulation. Der brutale Krieg, der so lang war, dass es uns erschien, als würde er nie enden, war schließlich vorbei.

Meine Einheit blieb noch einige Wochen in Saigon, bis Mitte Mai 1975, dann wurden wir zurückgeschickt ins zentrale Hochland und uns fiel die Aufgabe zu, die Leichen unserer Kameraden zu suchen, die gefallen waren, und ihre sterblichen Überreste aufzusammeln. Am Ende dieses Jahres, nach sechs Jahren im Süden, ging ich nach Hause. Ich kenne nicht die Überlebensstatistiken, aber ich weiß, dass von den 25 Jungen aus meiner Schule, die in den Krieg gezogen sind, 11 getötet wurden. Von den drei jungen Männern in meinem Mehrfamilienhaus, die sich mit mir freiwillig meldeten, bin ich der einzige Überlebende.

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Bao Ninh in Hanoi 2014

Jetzt, 23 Jahre nachdem ich wieder nach Hause zurückgekehrt war, traf ich wieder Amerikaner. Ich werde nie mehr die Tage vergessen, die wir in der großen Universitätsaula bei der Konferenz in Missoula verbracht haben, vietnamesische und amerikanische Veteranen und Schriftsteller saßen nebeneinander, diskutierten über die Literatur ihrer Länder, tauschten sich über ihre Werke aus. Die Literatur hat wirklich ihre eigene Magie. In Missoula hörte ich zum ersten Mal die berühmten Verse von Henry Woddsworth Longfellows Gedicht The Arrow and the Song ins Vietnamesische übersetzt und gelesen für uns von dem Dichter Nguyen Duc Mau. Longfellows Worte klangen schön in der Atmosphäre der Konferenz: Freundschaft, Liebe und Leben in Frieden.

In derselben Stimmung las Professor Philip West, der Direktor des Mansfield-Centers der Universität Montana, eine englische Übersetzung von „Besuch im Khan Xuan-Tempel“ des vietnamesischen Dichters Ho Xuan Huong: „Ruhiger Nachmittag in einem Pavillon im Frühling“. Dort steht geschrieben: „Licht im Herzen und Klarheit im Verstand“. Die Verszeilen des vietnamesischen Dichters, eines Zeitgenossen Longfellows im 19. Jahrhundert, klangen für mich wie Musik, die aufstieg in die friedliche Luft von Missoula. Obwohl ich kein Englisch sprach, konnte ich doch den Geist des Gedichts verstehen, das Amerikaner für uns geschrieben und gelesen haben.

Als ich diese Schriftsteller traf, tat ich mein Bestes, um mein Erstaunen für mich zu behalten. War Kevin Bower, dieser ruhige Mann mit dem warmen freundlichen Lächeln, der meine Hand drückte, wirklich ein Maschinengewehr-Schütze gewesen in der Ersten Kavalleriedivision in Anh Khe? Was hatte der Romanautor Larry Heinemann gemein mit einem Kampfsoldaten in der 25. tropischen Spezialdivision, die in den blutigen Schlachten in Tay Ninh kämpfte? Wie konnte Bruce Weigl, der Autor so romantischer Verse, ein Soldat gewesen sein, der dazu beitrug, dass die erbitterte Belagerung von Khe Sanh durchbrochen wurde?

An der Konferenz nahmen auch Veteranen teil, die aus ganz Montana hergekommen waren, um diesen Austausch von vietnamesischen und amerikanischen Schriftstellern mitzuerleben, und uns, die ehemaligen Feinde zu sehen. Der Polizeichef von Missoula, Peter Lawrenson, diente in Vietnam von 1970 bis 1972 als Berater der südvietnamesischen Armee in Kon Tum. Als er erfuhr, dass ich ein Veteran der 10. Division der NVA5 gewesen war, mit der er Kämpfe ausgetragen hatte, begrüßte er mich wie einen alten, lange aus den Augen verlorenen Freund. Während unseres Aufenthaltes in Montana chauffierte uns Chief Lawrenson in seinem Staat herum nach Helena, zu den Great Falls und Billings6.

In Missoula brachte man uns zum Soldatenmahnmal für die Toten des Vietnamkriegs. Es war eine Woche nach dem Memorial Day, und viele Leute besuchten noch den Ort. Am Fuß der großen Steinplatte waren die Namen der Gefallenen eingraviert, die Leute hatten einige Blumen niedergelegt, eine Postkarte, ein Klassenphoto, einen alten Notizblock oder ein Tagebuch, einen Militärkompass, eine Ausgabe von Stars and Stripes von 1966, eine Thermosflasche mit zwei kleinen Glasbechern und ein Original Zippo-Feuerzeug. Es gab auch einen Geburtstagskuchen mit oben aufgesteckten Kerzen. Das Missoula-Memorial war viel kleiner als die Mauer in Washington, aber das Leiden und das Mitleid, das es in den Besuchern auslöste, war dasselbe. Die meisten der Besucher kannten die Männer, deren Namen in den Stein gemeißelt waren, aber es gab auch Besucher von weiter her.

Ich traf eine Lehrerin im Ruhestand, ich nahm irrigerweise an, sie sei die Mutter eines gefallenen Soldaten. Mein Übersetzer erklärte mir, sie sei aus San Francisco hergekommen, habe aber zuvor jahrelang an der Highschool von Missoula gelehrt. Immer, wenn sie hierher komme, suche sie das Grab von Tommy auf. Er war einer ihrer Schüler gewesen, habe sein Examen im Jahre 1970 gemacht und sei dann sofort eingezogen worden. Im Sommer darauf erhielt seine Familie die Nachricht von seinem Tod. Nur weniger als ein Jahr nach seinem Examen war er getötet worden. Warum ist sein Leben nur so kurz gewesen? Mit 18 hatte er die Schule abgeschlossen, wurde Soldat und stieg nach einer harten Ausbildung zusammen mit seinen Freunden in ein Flugzeug, flog um die halbe Erde, landete irgendwo in Vietnam, vielleicht in Da Nang, zog eine kugelsichere Weste an, setzte einen Helm auf, ergriff ein Gewehr und begab sich aufs Schlachtfeld. Als ein unerfahrener Soldat ist er vielleicht in den ersten Minuten seiner ersten Schlacht gefallen. Ich frage mich, ob dieser unglückliche Schüler überhaupt seinen 19. Geburtstag hat feiern können, ob er lange genug in Vietnam lebte, um den Sonnenaufgang dort zu sehen.

Wir waren mehr als einen Monat lang in den USA, reisten von Montana nach Massachusetts, Rhode Island, New York und Washington. Wo immer wir hinkamen, von Beratungen mit Verlegern, in Buchhandlungen zu Treffen mit Lesern, überall wurden wir mit offenen Armen empfangen. Die Wärme und Freundschaft der Amerikaner uns Schriftstellern gegenüber, hat in uns viel Sympathie geweckt für das Land und sein Volk heute. Ich geriet ins Grübeln über die Ungerechtigkeit und Brutalität des Krieges, den die Vereinigten Staaten 25 Jahre zuvor gegen Vietnam geführt haben.

Ich war 46 Jahre alt, und ich verstand sehr wohl den unerbittlichen Lauf der Zeit. Mit den Monaten und Jahren hatte sich der Krieg immer weiter entfernt. Es schien, als werfe er nicht mehr so starke Schatten auf das tägliche Leben in Amerika oder in Vietnam. Die Wunden, die geschlagen worden waren, schienen vernarbt. Aber während dieses ganzen Besuchs in Amerika waren auch die Erinnerungen an den Krieg wieder zurückgekommen, die ich lange für begraben hielt, und zwar klarer und schärfer als zuvor. Sogar heute kommt der Krieg immer wieder zu mir zurück, spannt seine Flügel auf über mein tägliches Leben und über mein Schreiben. Wie jeder, der so etwas erlebt hat, träume ich davon, dass zukünftige Generationen eines Tages in Frieden leben, die Waffen des Krieges aufgeben werden. Aber ich weiß, dass es ein unerfüllbarer Traum ist. Als ein Schriftsteller und besonders als ein Veteran weiß ich, dass unter den schönen grünen Wiesen des Friedens sich Berge von Gebeinen und Asche von den früheren Kriegen befinden, und auch, zum Entsetzen der Beobachter, die Saat künftiger Kriege.

Meine Generation, die Leute, die den Krieg in Vietnam durchlebt haben, haben aus ihren elenden und tragischen Erfahrungen viel gelernt. Ich frage mich, ob die Lektionen, die wir aus so vielen Opfern gelernt haben, an die künftigen Generationen weitergegeben werden? Wenn sie von denen nicht verstanden werden, wenn sie vergessen werden, sind wir dann dazu verurteilt, dieselben Fehler wieder zu machen, dieselben Verbrechen wieder zu begehen, dieselben Katastrophen wieder zu erleben, dieselben Leiden wieder zu verbreiten?

Dieser Text von Bao Ninh stammt aus den Interviews, die er dem Filmteam von „The Vietnam War“ gegeben hat. Im Film sind sie in einzelnen Stückchen über die ganze Dauer des 18-stündigen Films verstreut worden. Und nach meinem Eindruck fehlen wichtige Passagen. In der vorliegenden kompakten Form wurden seine Aussagen erst in der New York Times am 5. September 2017 veröffentlicht. Diese Fassung liegt unserer Veröffentlichung zugrunde.

Übersetzung von Günter Giesenfeld.

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Übersetzung Günter Giesenfeld

veröffentlicht im Vietnam Kurier 2/2017

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