Amerikas Amnesie

Über den Superfilm The Vietnam War

Thomas A. Brass

Diskussionen über den Film sind unter Vietnam-Veteranen in den USA ziemlich intensiv geführt worden. Einige, die vorgezogene öffentliche Vorführungen gesehen haben, waren erleichtert, andere drückten ihre Enttäuschung aus, dass einige Wahrheiten über den Krieg in dem Film verschwiegen werden. „Amnesie“ ist der medizinische Ausdruck für Gedächtnisschwund.

Alles, was falsch ist an dieser zehnteiligen Dokumentation über den Vietnamkrieg, wird schon in den ersten fünf Minuten deutlich. Eine Stimme aus dem Nirgendwo gibt den Ton an über einen Krieg, der „in gutem Glauben“ begonnen worden und anschließend aus dem Ruder gelaufen sei und Millionen von Menschen getötet habe. Wir sehen einen Luftkampf und einen toten Soldaten in einem Leichensack, der in einen Hubschrauber geschleppt wird, dessen Rotor zisch zisch losgeht, als sei es eine Szene aus Apocalypse Now1. Dann werden wir in eine Beerdigung gebeamt, sehen einen mit den Stars and Stripes2 bedeckten Sarg, der sich, wenn die Kamera zurückzoomt, vervielfacht zu Dutzenden und dann Hunderten von Fahnen, die wie ein Fluch gegen die Kriegsgewinnler wehen, die vielleicht auf die Idee kommen könnten, dieser Film sei nicht patriotisch genug.

Alles, was richtig ist an diesem Dokumentarfilm, erscheint in den nächsten Minuten, wenn der Film zurückblendet (und zwar im wahrsten Sinn des Wortes3) und eine Fülle von Archivaufnahmen zeigt, Musik aus der Zeit erklingen lässt und die Personen präsentiert, viele von ihnen vietnamesische, deren Stimmen uns nun diese Geschichte erzählen werden. Der Film verlässt sich dabei vor allem auf Schriftsteller und Dichter, amerikanische wie Tim O'Brien und Karl Marlantes und die vietnamesischen Le Minh Khue und Bao Ninh, dessen Leiden des Krieges einer der größten Romane über den Vietnamkrieg ist, über den Krieg überhaupt.

Diese Allgegenwärtigkeit der Bilder, die flaggengeschmückte Geschichte, bittersüße Erzählweise, hoffnungsvolle Heimkehr und das Bedürfnis, eher zu „heilen“, als die Wahrheit zu vermitteln sind die kinematographischen Topoi, die wir bei Ken Burns und Lynn Novick von ihren Filmen über den amerikanischen Bürgerkrieg, über die Prohibition, über Baseball, Jazz und andere Themen der amerikanischen Geschichte kennen. Burns hat dieses Territorium seit vierzig Jahren vermint, seit er 1981 seinen ersten Film über die Brooklyn-Brücke machte, und Novick ist seit 1990 an seiner Seite, als er sie als Vermittlerin anheuerte, um von den Archiven Kopierrechte von Photos aus dem Bürgerkrieg zu erhalten, und sie entwickelte sich zur unentbehrlichen Mitarbeiterin.

In den Interviews ist es stets Burns, der redet, während die in Yale ausgebildete, Ex-Mitarbeiterin am Shmithsonian Institute4 zurückbleibt. Novick wird im Abspann der Filme als Mitautorin genannt, aber die meisten Menschen sehen in ihnen Ken Burns-Produktionen (Immerhin ist er ein Filmemacher, der einen seinen Namen tragenden „Effekt“ erfunden hat, den „Burns button“: eine Technik, mit der man über Photographien schwenken kann). Man fragt sich, ob es da nicht Spannungen gibt zwischen Novick und Burns: der geduldigen Archivarin und dem sentimentalen Dramatiker.

Die Dichotomie zwischen Geschichte und Drama formt alle zehn Teile der PBS-Serie. Das beginnt mit der französischen Kolonisierung 1858 und endet mit dem Fall von Saigon 1975. Wenn der Film übergeht von der geduldigen Navick-Exposition zu den Burns'schen Großaufnahmen, hat man manchmal das Gefühl, als wäre der Film von zwei verschiedenen Filmemachern mit zwei verschiedenen Filmen im Kopf geschnitten worden. Wir sehen Archivbilder aus den 1940er Jahren von Ho Chi Minh, wie er amerikanische Geheim­dienst­offiziere begrüßt, die in sein Bergversteck gekommen sind, um ihm Lebensmittel zu bringen. Und dann geht der Film plötzlich von Schwarz-weiss auf Farbe über und wir müssen einem amerikanischen Veteranen zuhören, wie er über seine vom Vietkong verursachte Angst vor der Dunkelheit redet, die ihn nachts kaum schlafen lässt, wie seine Kinder. Kurz bevor wir wieder zu Ho Chi Minh zurückgeführt werden und zu seinem Sieg über die Franzosen bei Dien Bien Phu 1954, hören wir einen US-Marine, der über seine Rückkehr in ein geteiltes Amerika 1972 erzählt, eine Rückkehr, die, wie er sagt, schlimmer war als der Kampf gegen den Vietkong.

In der zweiten Episode Riding the tiger (1961-1963) tauchen wir tief in den Burns-Erzählstil ein. Der Krieg war als ein Bürgerkrieg markiert worden, in dem die USA eine frei gewählte demokratische Regierung im Süden gegen vom Norden eindringende Kommunisten verteidigen. Amerikanische Boys kämpfen gegen einen gottlosen Feind, den Burns als eine rote Flut zeigt, die sich über Landkarten von Südostasien und dem Rest der Welt ergießt.

Die historischen Archivaufnahmen in Episode eins Déjà vu (1858-1963), die eine solche Sicht des Krieges in Frage stellen, werden entweder ignoriert oder missverstanden. Südvietnam war niemals ein unabhängiges Land. Von 1862 bis 1949 war es die französische Kolonie Cochinchina, eine der fünf Territorialeinheiten von Französisch-Indochina (die anderen waren Tonking, Annam, Laos und Kambodscha). Nach 1954 haben sich die französischen Truppen in Südvietnam neu gruppiert, zu der Zeit, als der US Air Force-Colonel und CIA-Agent Edward Lansdale damit begann, die ehemalige Kolonie zu einem Land umzuformen. Die USA installierten Ngo Dinh Diem als Südvietnams autokratischen Herrscher, halfen ihm dabei, seine Feinde zu vernichten und arrangierten „Wahlen“, bei denen Diem mit 98,2 % der Stimmen gewählt wurde.

Edward Lansdale

Seine wichtigste Aufgabe während dieser Zeit war der monatelange Kampf zwischen den Sekten, der im April 1955 begann (Dieser Kampf wird im Film nicht erwähnt. Und auf einem Foto, das ihn neben Diem sitzend zeigt, wird Lansdale im Kommentar nicht genannt). Ein Telegramm wurde verfasst, in dem der US-Botschafter dazu aufgefordert wurde, Diem zu beseitigen (Ein ähnliches Telegramm, datiert zehn Jahre später, gab dann grünes Licht für Diems Ermordung). Am Abend bevor das Telegramm kam, löste Diem einen heftigen Angriff auf die kriminelle Bin Xuyen-Sekte aus, der geführt wurde von dem Flusspiraten Bay Vien, der 2.500 Mann unter seinem Befehl hatte. Nach der Schlacht, war eine Fläche von einer Quadratmeile in Saigon dem Erdboden gleich gemacht worden, waren 20.000 Menschen obdachlos geworden.

Die Franzosen finanzierten ihre Kolonialherrschaft in Asien mit dem Opiumhandel (wieder ein Faktum, das der Film unterschlägt). Sie schöpften Gewinne bei Bay Viens Flusspiraten ab, der gleichzeitig die Lizenz zur Organisation der Polizei des Landes und zum Betreiben von Saigons Bordellen und Spielhöllen besaß. Inzwischen ließ die CIA verbreiten, dass die Franzosen in Südostasien am Ende seien. Die USA hatten ihren Kolonialkrieg zu 80% finanziert. Nach der Niederlage in Dien Bien Phu sollte der Verlierer gefälligst abhauen.

Als die Flusspiraten besiegt und andere Oppositionsgruppen wie die Hoa Hao und die Cao Dai mit Bestechungsgeldern von der CIA neutralisiert waren, begannen Lansdale und Diem mit dem Aufbau eines „freien“ Vietnam. Am 23. Oktober 1955 reklamierte Diem den Sieg in Wahlen für sich. Drei Tage später kündigte er die Gründung der „Republik Vietnam“ an, bekannt seitdem als „Südvietnam“. Er sagte öffentlich die international vereinbarten Wahlen5 ab, die zur Wiedervereinigung Vietnams führen sollten – Wahlen, die, wie Eisenhower und alle Welt wussten, von Ho Chi Minh gewonnen werden würden. Er fing damit an, einen autokratischen Polizeistaat aufzubauen, der zwanzig Jahre existieren sollte, ehe er sich im Staub des letzten Hubschraubers, der vom Dach der US-Botschaft startete, auflöste.

Lansdale hatte früher in der Werbebranche gearbeitet. Er war bei der Firma Levi Strauss angestellt und hatte die Kampagne für den Verkauf der Bluejeans weltweit geleitet. Er wusste, wie man Bluejeans verkaufte. Er wusste, wie man einen Krieg verkaufte. Jeder einigermaßen über die Geschichte Vietnams und seines Kampfs gegen die französische Kolonialmacht aufgeklärte Mensch konnte sehen, was da geschah. „Das Problem war, jeden Tag über Neuigkeiten zu berichten, wenn tatsächlich der Schlüssel des Geschehens darin lag, dass alles eine Folge des französischen Indochina-Krieges war und der Geschichte seiner Entstehung“, schrieb der ehemalige New York Times-Reporter David Halberstam. „Eigentlich müsste jede Story einen dritten Abschnitt haben, in dem erklärt wird: 'All das ist Scheiß und nichts bedeutet etwas, denn wir bewegen uns in den Fußstapfen der Franzosen und sind Gefangene ihres Schicksals'.“

Sogar die Sprachregelungen des Indochina-Krieges waren von den Franzosen übernommen worden, die vom „Licht am Ende des Tunnels“ sprachen und von der „Vergelbung“ (jaunissement) ihrer Armee, was die USA später als „Vietnamisierung“ bezeichneten. Frankreich versprühte gelatiniertes Petroleum, Napalm, über Vietnam in ihrem „dreckigen Krieg“, den die USA noch dreckiger machten mit Agent Orange und anderen chemischen Waffen.

Diese Fakten waren den Regierungsbeamten und den Journalisten bekannt, und wurden für jedermann erkennbar mit der Veröffentlichung der Pentagon Papers durch Daniel Ellsberg 1971. Vierzig Bände Dokumente legten die Lügen aller Administrationen von Truman über Eisenhower bis zu Kennedy und Johnson offen. Die Pentagon Papers beschreiben, wie die amerikanische Öffentlichkeit getäuscht wurde mit dem Ziel, Frankreichs Versuch, seine Kolonien wiederzuerobern, zu unterstützen. Sie berichten genau über Lansdales verdeckte Operationen und die Schuld der USA am Boykott der vorgesehenen Wahlen zur Wiedervereinigung Vietnams. Sie beschreiben einen Unabhängigkeitskrieg, den die USA niemals eine Chance hatten, zu gewinnen, auch nicht mit einer halben Million Soldaten im Lande. Eigentlich war die Aktion darauf gerichtet, China zurückzuhalten und die globale Schachpartie gegen Russland zu gewinnen. „Wir müssen feststellen, dass Südvietnam (anders als die anderen Länder in Südostasien) in Wirklichkeit eine Kreatur der Vereinigten Staaten war“, schrieb Leslie Gelb, die das Projekt leitete, in ihrer Zusammenfassung der Pentagon Papers. „Vietnam war eine Figur auf einem Schachbrett, nicht ein Land“, sagt Gelb zu Burns und Novick in deren Film.

Die Interviews

Mehr als 80 Personen wurden von den Filmemachern in den zehn Jahren, in denen sie auf Materialsuche für The Vietnam War waren, interviewt, aber eine große Ausnahme ist Daniel Ellsberg. Ellsberg war ein Zugführer im Marine Corps gewesen, ein Gung-Ho-Krieger6, als er von 1965 bis 1967 in Vietnam für Lansdale arbeitete. Aber als der Krieg sich dahinzog und Ellsberg befürchtete, dass Nixon ihn mit Atomwaffen zu beenden versuchen würde (schon die Franzosen hatten von Eisenhower verlangt, Atombomben auf Vietnam abzuwerfen), ging er zur anderen Seite über.

Heute ist Ellsberg ein scharfer Kritiker der US-amerikanischen Atompolitik und der militärischen Interventionen von Vietnam bis Irak. Seine Abwesenheit im Film, außer in wenigen Archivbildern, beweist dessen konservative Ausrichtung. Der Dokumentarfilm wurde von der Bank of America, David Koch und anderen Sponsoren aus der Wirtschaft finanziert und beruht deswegen fast ausschließlich auf den Aussagen früherer Generäle, CIA-Agenten und Regierungsvertretern, die nicht durch Rang und Titel identifiziert werden, sondern nur durch ihre Namen und einige anonyme Bezeichnungen wie „Berater“ oder „special forces“. Eine unvollständige Liste führt auf:
- Lewis Sorley, ein West Point-Absolvent der dritten Generation, der glaubt, die USA hätten den Krieg 1971 gewonnen und den Sieg dann “weggeworfen“, indem sie ihre Alliierten in Südvietnam „verraten“ hätten (obwohl sie diese mit Waffen im Werte von 6 Mrd. US-$ ausgestattet haben, ehe sie 1975 vor den anrückenden Nordvietnamesen kapitulierten).
- Rufus Phillips, einer von Lansdales „schwarzen Künstlern“ die viele Jahre in psychologischen Operationen und Anti Guerilla-Aktionen aktiv waren.
- Donald Gregg, Organisator des Skandals mit den Waffen für die iranischen Kontras und CIA-Berater beim Phoenix-Programm7 und bei anderen Massakern.
- John Negroponte, früherer Geheimdienstdirektor und Botschafter in Orten, wo verdeckte Aktionen abliefen.
- Sam Wilson, US Army-General und Protegé von Lansdale Von diesem stammt der Ausdruck „Counter-Insurgency“.
- Stuart Herrington, ein Geheimdienstoffizier, der für seine „extensiven Verhörmethoden“ berüchtigt war, von Vietnam bis Abu Ghraib8.
- Robert Rheault, der als Vorbild diente für den Colonel Kurtz in dem Film Apokalypse Now. Er war Colonel im Vietnamkrieg bei den special forces, wurde entlassen, als herauskam, dass er und fünf andere des vorsätzlichen Mordes und der Verschwörung angeklagt wurden.

Der Tag, an dem Nixon die Armee beauftragte, gegen Rheault zu ermitteln, war auch der Tag, an dem Daniel Ellsberg sich entschloss, die Pentagon Papers zu veröffentlichen. „Ich dachte, dass ich nie mehr ein Teil dieser Lügenmaschine sein wollte, dieses Vertuschens, dieses Mordens“, schrieb Ellsberg in seinem Buch über die Entdeckung der Pentagon Papers.9 „Es ist ein System, das automatisch, auf jedem Niveau, von oben bis unten – vom Sergeant bis zum Oberkommandierenden – darauf beruht, Morde zu verheimlichen.“ Der Fall der Green Berets, war, so Ellberg, eine Version dessen, was das System in Vietnam tat, dort nur in einem unendlich größeren Maßstab und ein Drittel eines Jahrhunderts lang.“

Burns und Novick verlassen sich ausgiebig auf eine andere Person – tatsächlich begleitete diese Person sie sogar auf ihrer Promotion-Tour für den Film –, die in der Dokumentation als „Duong Van Mai, Hanoi“ und später als „Duong Van Mai, Saigon“ auftritt. Es ist der Geburtsname von Duong Van Mai Elliot, die fünfzig Jahre lang mit David Elliot verheiratet gewesen war, einem früheren RAND-Verhörspezialisten in Vietnam und Professor für Politische Wissenschaften am Pomona-College in Kalifornien. Seit sie in den frühen 1960er Jahren an der Georgetown Universität studierte, hat sie viel länger in den USA gelebt als in Vietnam.

Elliot, selbst eine frühere RAND-Angestellte, ist die Tochter eines früheren hohen Regierungsmitglieds der französischen Kolonialadministration. Nach der französischen Niederlage im ersten Indochinakrieg zog ihre Familie von Hanoi nach Saigon, außer Elliots Schwester, die sich dem Vietminh im Norden anschloss. Das erlaubte es Elliot darauf zu bestehen – wie sie es häufig in ihren öffentlichen Äußerungen tat –, dass der Krieg in Vietnam ein Bürgerkrieg gewesen sei. Der Krieg riss Familien auseinander wie die ihre, aber antikolonialistische Kämpfer, die sich gegen Sympathisanten der Kolonialmacht wehren, kämpfen keinen Bürgerkrieg. Niemand spricht im Zusammenhang mit dem ersten Indochinakrieg von einem Bürgerkrieg. Es war ein anti-kolonialistischer Kampf, der in eine Art Wiederholung mündete, außer der Tatsache, dass Lansdale und Diem nur das Faksimile eines nationalen Staates schufen. Amerikas Widerwille, Frankreich bei seiner Wieder-Errichtung seines Kolonialreiches in Asien zu helfen, kann sich als eine Verteidigung der weißen Köpfe in einem Bürgerkrieg anfühlen. Elliot, ein eloquentes und ernsthaftes Opfer dieses Krieges, verkörpert die besorgte Jungfer, die die US-Soldaten vor der kommunistischen Aggression zu schützen versuchen.

Blutbad und talking heads

Da Lansdale aus der Geschichte herausgefallen ist, werden wir auf das Anschauen von Blutbädern und das Anhören von Zeugnissen redender Köpfe eingewöhnt, die immer wiederkehren, erst als Ton-Krümel, dann als größere Bissen und schließlich als ausgewachsene Interviews. Diese werden eingerahmt von Archivmaterial, das sich vom ersten Indochinakrieg zum zweiten wälzt und sich dann auf die Schlachten bei Ap Bac und Khe San konzentrieren, auf die Tet-Offensive, die Bombardierung Nordvietnams, die Entlassung von US-Kriegsgefangenen und dann beim letzten Hubschrauber landet, der vom Dach der Botschaft in Saigon abhebt (wobei es sich eigentlich um das Dach eines CIA-Büros in der Ly Tu Trong Straße Nr. 22 handelt). Gegen Ende des Films – das überwältigend und umstritten ist, wie der Krieg selbst – werden mehr als 58.000 US-Soldaten, eine Viertelmillion südvietnamesischer Soldaten, eine Million Vietkong und nordvietnamesische Soldaten sowie 2 Millionen Zivilpersonen (vor allem im Süden), nicht zu erwähnen die zehntausende in Laos und Kambodscha, tot sein.

Die in Vietnam gefilmten Einstellungen stehen im Kontext von Ereignissen in den USA während der sechs Präsidenten, die dieses Chaos unterhielten (beginnend mit Harry Truman am Ende des Zweiten Weltkriegs). Die Kamera fährt durch die Ermordungen John Kennedys, Robert Kennedys und Martin Luther Kings, die Polizeirevolte beim demokratischen Parteitag in Chicago 1968 und verschiedene Antikriegs-Proteste einschließlich dessen, bei dem vier Studenten der Kent State University erschossen wurden. Der Film enthält mitgeschnittene Gespräche zwischen Nixon und Kissinger, die das Profil der beiden bestätigen („Spreng den Safe und hols dir“, sagte Nixon im Brookings-Institute mit belastender Evidenz). Er zeigt Walter Cronkite, wie er das Vertrauen in die Vietnam-Aktion verliert und den Watergate-Skandal und Nixons Rücktritt und den Kampf um den Bau von Maya Lins Vietnam Veterans Memorial (diese „klaffende Wunde der Scham“, die sich in einen bedrückenden Ort der Erinnerung10 verwandelte).

Für viele dürfte der Film an das erinnern, was wir schon wissen. Für andere wird er eine Einführung in zwanzig Jahre amerikanischer Arroganz und Überforderung sein. Es wird Leute geben, für die es neu ist, dass Nixon die Friedensverhandlungen Johnsons im Jahre 1968 sabotiert hat, um seine eigenen Wahlchancen zu fördern. Dies ist nicht das einzige Mal, dass in dieser Dokumentation internationaler Verrat in der Vergangenheit in gegenwärtigen Ereignissen sein Echo findet. Zuschauer mögen überrascht sein, zu erfahren, dass die Schlacht bei Ap Bac im Jahre 1963, die eine schwere Niederlage für die Armee der Republik Vietnam war, in den USA als ein Sieg bezeichnet wurde, weil der Feind, nachdem er 80 Soldaten der südlichen Truppen und ihre drei amerikanischen Berater getötet hatte, sich auf die Felder zurückzog. Nur in der starrköpfigen Logik des US-Militärs konnte die Sicherung eines durch Bomben völlig zerstörten Reisfeldes als ein Sieg erscheinen, und so „gewannen“ die USA immer wieder, Jahr für Jahr alle Schlachten, die sie um unwichtige Berggipfel und Reisfelder führten und einnahmen, nachdem der Feind seine Toten weggebracht hatte, sich neu gruppierte und erneut irgendwo anders angriff.

Journalisten berichteten über Niederlagen und das Pentagon trompetete Siegesmeldungen, so begann die „Glaubwürdigkeitslücke“ sich zu entwickeln, die dann zu einem Abgrund wurde und Angriffe auf die Presse zur Folge hatte, sie sei illoyal und dafür verantwortlich, dass der Krieg „verloren gehe“. Klagen über fake news und Journalisten als „Feinde des Volkes“ waren weitere Konsequenzen, die bis zum Vietnamkrieg zurück reichen. Als Morley Safer dokumentierte, wie Marines mit Fackeln Häuser des Dorfes Cam Ne 1965 in Brand setzten, wurde sein Name mit der Behauptung zu beschmutzen versucht, er habe den Marines die Feuerzeuge zu diesem Zweck besorgt. Desinformation, psychologischer Krieg, verdeckte Operationen, durchsickernde Nachrichten, die Runde machende offizielle Lügen sind weitere Erbschaften aus dem Vietnamkrieg.

Die besten Stellen in dem Film stellen die Befragungen von Schriftstellern und Dichtern dar, besonders die mit den beiden Schlüsselfiguren Bao Ninh, dem ehemalige Infanteristen, der nach sechs Jahren an der Front auf dem Ho Chi Minh-Pfad zurückkehrte und seinen Roman Die Leiden des Krieges schrieb, und dem ehemaligen Marinesoldaten Tim O'Brien, der aus dem Krieg zurückkam und die beiden Bücher The Things They Carried und Going After Cacciato schrieb. Der Film endet mit einer Lesung O'Briens über Soldaten, die ihre Memoiren aus Vietnam mitbrachten, und dann läuft der Abspann von oben nach unten übers Bild und gibt uns Mai Elliots vollen Namen und Informationen über die Identität anderer Personen.

Da begann ich, erneut zurückzuspulen in den Film, schaute in die Episode eins und war überrascht, nicht darüber, wie viel an Erinnerungen präsentiert wurde, sondern, wie viel unter den Tisch fiel oder vergessen wurde. Über Vietnam wurden viele gute Dokumentationen gedreht, von Kanadiern, Franzosen und anderen Europäern. Die amerikanischen Journalisten Stanley Karnow und Drew Parson haben sich damit herumgeschlagen, den Krieg in Fernsehdokumentationen zu präsentieren. Aber der Hartnäckigkeit, mit der die USA die Lektionen von Vietnam vergessen, unter unangebrachtem Patriotismus vergraben und willentlich die Geschichte ignoriert und sie aus der Diskussion herausgestoßen haben, fielen die Lektionen zum Opfer, und zwar nur um einen „Großen Film“ über diesen Krieg zu machen.

Warum, zum Beispiel, sind alle Interviews in dem Film in Großaufnahmen gefilmt? Wenn die Kamera zurückgefahren wäre, hätten wir sehen können, dass der ehemalige Senator Max Cleland keine Beine mehr hat – er verlor sie durch „freundliches Feuer“ der eigenen Soldaten in Khe Sanh. Und was wäre, wenn man es ermöglicht hätte, dass Bao Ninh und Tim O'Brien sich treffen hätten können? Ihre Erinnerungen hätten das sinnlose Chaos des Krieges in die Gegenwart versetzt. Und anstatt der Suche nach einem Ende und einer heilenden Verbrüderung – wie wäre es, wenn der Film erwähnen würde, dass amerikanische special forces derzeit in 137 von 194 Ländern der Erde operieren, das heißt in 70 % der Erdoberfläche?

Wie viele der Produktionen von Burns und Novick, wird auch diese vom Erscheinen eines Buchs begleitet: The Vietnam War: An Intimate History, das zur selben Zeit wie der Film herauskam. Geschrieben von Burns und seinem langjährigen Sekretär Geoffrey C. Ward, weist das Buch – ein übergroßer Band, der fast zwei Kilo wiegt – dieselbe zweigeteilte Sicht wie der Film auf. Es schaltet von der historischen Erläuterung zur autobiographischen Reflexion, und enthält viele der Photos, die aus Vietnam den Höhepunkt der Kriegsphotographie gemacht haben. Die berühmten Bilder enthalten Malcols Browns brennenden Mönch, Larry Burrows Photo eines verwundeten Marine, der seinem sterbenden Hauptmann die Hand reicht, Nick Uts Bild vom nackten Mädchen, das die Straße entlang rennt, während Napalm seinen Körper verbrennt, Eddie Adams Aufnahme des Generals Nguyen Ngoc Loan, der einem Vietkong eine Kugel in den Kopf schießt, und Hugh Van Es' Bild von Flüchtlingen, die auf einer Leiter in den letzten CIA Hubschrauber zu klettern versuchen, der Saigon verlässt.

Burns' bipolare Sicht kommt im Buch besser zum Ausdruck als im Film. Im Buch ist Raum, um ins Detail zu gehen, es stellt mehr Geschichte bereit und präsentiert gleichzeitig schmerzliche Reflexionen von Bao Ninh, der Kriegskorrespondentin Jurate Kaziekas und anderen. Edward Lansdale und die Schlacht der Sekten wird im Buch, im Gegensatz zum Film, zusammengebracht mit Details über das Regierungstelegramm von 1955, in dem angeordnet wurde, dass Diem gestürzt werden müsse – ehe die USA einen Kurswechsel vollzogen und sich in Diems Südvietnam einkauften. Im Buch sind auch Details der kühlen Auseinandersetzungen zwischen Nixon und Kissinger, in denen es um die Verlängerung des Krieges aus wahltaktischen und Gesichtswahrungsgründen ging, enthalten.

Außerdem gewinnt das Buch durch fünf Essays von führenden Wissenschaftlern und Schriftstellern. Darunter findet sich ein Text von Fredrick Logevall, der darüber Mutmaßungen anstellt, was geschehen wäre, wenn Kennedy nicht ermordet worden wäre. Und ein Text von Todd Gitlin über die Antikriegsbewegung sowie eine Reflexion von Viet Thanh Nguyen über das Leben als Flüchtling, das ihn, in diesem Fall, von der Mithilfe im Lebensmittelladen seiner Eltern bis hin zum Pulitzerpreis führte.

Im Jahre 1967, 8 Jahre vor dem Ende, kündigte Johnson „dramatische Fortschritte“ an, bei denen „die Herrschaft des Vietkong über das Volk“ gebrochen worden sei. Wir sehen Leichenhaufen toter Vietkong, die in Massengräber geschaufelt werden. General Westmoreland versichert seinem Präsidenten, dass der Krieg an seinem „entscheidenden Wendepunkt angekommen“ sei, denn es würden jetzt mehr feindliche Soldaten getötet, als neue rekrutiert werden können. Jimi Hendrix singt seinen Song „Are you Experienced“ und ein Veteran beschreibt, „wie der Rassismus wirklich gewonnen hat“ bei den „Nahkampfgefechten“, in denen er gelernt habe, „gooks11 zu entsorgen“ und „dinks12 zu killen“.

Im Jahre 1969 meldet die Einheit, die die Operation Speedy Express im Mekong-Delta leitete, eine Tötungsrate von 45:1, es seien 10.889 Vietkong getötet worden, man habe aber nur 748 Waffen erbeutet. Kevin Buckley und Alexander Shimkin von der Zeitschrift News­week schätzen, dass die Hälfte der Getöteten Zivilisten waren. Zu jener Zeit kletterten die Tötungsraten auf 134:1, und das US-Militär massakriert Zivilisten in My Lai und anderswo. Edward Lansdale, damals General, sagte über diese letzte Station seiner Aktivitäten im Krieg (zitiert nach Robert Tabors Buch War of the flea): „Es gibt nur ein Mittel, ein aufständisches Volk zu besiegen, das sich nicht ergeben will, und das ist die Auslöschung. Es gibt nur einen Weg, ein Gebiet zu kontrollieren, das Widerstand beherbergt, das ist, es in eine Wüste zu verwandeln. Wenn diese Mittel, aus welchem Grund auch immer, versagen, dann ist der Krieg verloren.“

Quelle: Mekong Review, 05.08.2017
Die Mekong Review erscheint in Australien
übersetzt von Günter Giesenfeld

1 Film von Francis Ford Coppola aus dem Jahre 1979, in dem eine Szene, in der Hubschrauber eine Attacke fliegen, mit Musik von Richard Wagner unterlegt wird.
2 der amerikanischen Flagge
3 Szenen laufen rückwärts.
4 Berühmte Forschungsinstitution in Washington, 1846 gegründet „zur Vermehrung und Verbreitung von Wissen“.
5 bei der Genfer Konferenz
6 Aus dem Chinesischen stammende Bezeichnung für einen einen äußerst eifrigen, über-enthusiastischen Kämpfer. Wikipedia
7 Programm zur Vernichtung der Befreiungsfront durch Massenmorde und Massenverhaftungen 1967-1973.
8 Folter-Skandal im Irak, bekannt geworden 2004.
9 Secrets. A Memoir of Vietnam and the Pentagon Papers, New York 2002.
10 im Originaltext französisch: lieu de mémoire
11 gook: im Koreakrieg entstandene abwertende Bezeichnung für Asiaten
12 dink: im Vermonter Dialekt: dumme Person, Arschloch

Thomas A. Bass lehrte zunächst Literatur und Geschichte an der Universität von Santa Cruz (Kalifornien). Er war Gastprofessor am Institut d'études politiques (Sciences Po) in Paris und ist zur Zeit Professor an der State University of New York. Er lebt in New York. Er ist der Autor u.a. folgender Bücher:
- Vietnamerica: The War Comes Home (Soho, 1996, 1997)
- The Predictors (Holt / Viking-Penguin, 1999)
- The Spy Who Loved Us (Public Affairs, 2009)
- Censorship in Vietnam: Brave New World. (University of Massachusetts Press 2017)

veröffentlicht im Vietnam Kurier 2/2017

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