Der Fall Trinh Xuan Thanh

Von der Mücke und dem Elefanten

Ein Kommentar vob Günter Giesenfeld

Es gibt keinen Zweifel daran, dass eine solche filmreife Entführung einen illegalen Akt darstellt, den ein Land einem anderen nicht durchgehen lassen kann. Es bleiben aber Zweifel daran, ob die jetzt überall verbreitete Version der Bundesregierung wirklich korrekt ist. Man hat jetzt zwar einen der Mittäterschaft Verdächtigten in Prag verhaftet und in die Bundesrepublik gebracht, aber die Glaubwürdigkeit der offiziellen Darstellung, Trinh Xuan Thanh und eine weibliche Person seien „von zwei Personen“ (es sollen zwei tschechische Komplizen gewesen sein oder „bewaffnete Angehörige der vietnamesischen Botschaft“, wie die AFP meldete) in ein Auto (es soll ein VW-Bus gewesen sein oder auch ein Krankenwagen) gezerrt worden, die sich auf zwei anonyme Zeugen stützt, ist immer noch ziemlich gering. Es bleiben immer noch Fragen offen wie etwa einige derjenigen, welche die Fraktion der Linken im Bundestag der Regierung am 16. August in einer kleinen Anfrage gestellt hat:

1. Auf welchen Erkenntnissen beruht die Einschätzung des Auswärtigen Amts, wonach Trinh Xuan Thanh Opfer einer Entführung durch den vietnamesischen Geheimdienst wurde? [...]
4. Lag ein Auslieferungsersuchen Vietnams gegen Trinh Xuan Thanh vor? Wenn ja, seit wann, und mit welcher Begründung?
5. Wann stellte Trinh Xuân Thanh seinen Asylantrag in Deutschland, und wie ist der Stand der Bearbeitung? Wie begründete er seinen Asylantrag?
6. Gab es bereits im Vorfeld andere Hinweise darauf, dass der vietnamesische Geheimdienst versucht, Trinh Xuan Thanhs habhaft zu werden? Wenn ja, welche, und von wem? [...]
10. Welche Fälle von tatsächlichen oder versuchten Entführungen deutscher oder anderer Staatsangehöriger gab es nach Kenntnis der Bundesregierung seit 1949 auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland sowie zwischen 1949 und 1990 auf dem Gebiet der DDR (bitte die jeweiligen Fälle, Zeitpunkt sowie Akteure und betroffene Personen nennen; bei gescheiterten Entführungsversuchen bitte den Grund des Scheiterns mit erläutern)?
11. Welche diplomatischen Konsequenzen wurden aus den in Frage 10 erläuterten Fällen gezogen (bitte fallbezogen auflisten)? Haben sich deutsche Geheim- bzw. Nachrichtendienste oder andere deutsche Behörden seit 1949 jemals unmittelbar oder mittelbar (beispielsweise durch die Weitergabe von Aufenthaltsorten von Personen) an Entführungen beteiligt? Wenn ja, an welchen (bitte die einzelnen Fälle und die beteiligten deutschen Behörden detailliert auflisten.1

Die beiden letzten der ausgewählten Fragen sind Ausdruck eines Verdachts, der sich aufdrängt: Im Gegensatz zu anderen, ähnlichen Fällen wird hier ein Vorfall politisch und medial äußerst aufgebläht, weil es sich um Vietnam handelt. Diesem Aspekt soll hier nachgegangen werden, denn selbst wenn alles stimmen würde, bleibt die publizistische Behandlung des Falles auffällig.

Die Wochenzeitung Die Zeit berichtete am 02.08.2017 relativ objektiv über Einzelheiten des Falls, soweit sie bekannt waren. Die Überschrift allerdings hieß: „Vietnamesischer Geheimdienst entführt Mann in Berlin“. Erst im Artikel erfährt man, dass dies nur eine Vermutung ist. Dort heißt es korrekt: „Der vietnamesische Geheimdienst soll einen Asylbewerber aus Vietnam in Berlin entführt und in seine Heimat verschleppt haben“. Demgegenüber sprach der Sprecher des Auswärtigen Amts allerdings damals schon von einem „präzedenzlosen und eklatanten Verstoß gegen das deutsche Recht und gegen das Völkerrecht“, als sei das Delikt bereits juristisch einwandfrei bewiesen. Im Artikel wird aber erwähnt, dass es sich für die Berliner Polizei um einen „Verdachtsfall“ handele, der derzeit noch untersucht werde.

In dem Artikel erfahren wir weiterhin, dass Trinh Xuan Thanh einen Asylantrag in der Bundesrepublik gestellt habe, dass aber schon vorher von der vietnamesischen Regierung ein Auslieferungsantrag gestellt worden sei. Die Feststellung der Zeitung, beide Anträge müssten „in einem rechtsstaatlichen Verfahren geprüft werden“ steht in einem gewissen Gegensatz zur Aussage des Auswärtigen Amtes, man behalte sich vor, „weitere Konsequenzen auf politischer, wirtschaftlicher und entwicklungspolitischer Ebene zu ziehen“. Heißt das etwa: Egal, was die Prüfung ergibt?

Nur einen Tag später, am 03.08.2017 folgte schon ein weiterer Artikel in der Zeit, in dem darüber berichtet wurde, dass der „mutmaßlich nach Vietnam Verschleppte“ sich in Vietnam der Polizei gestellt habe und laut eigener Aussage im Fernsehen freiwillig in seine Heimat zurückgekehrt sei. Ebenfalls wurde die offizielle Reaktion der vietnamesischen Regierung korrekt zitiert, in der „Bedauern“ über das deutsche Vorgehen ausgedrückt wird. Im Übrigen wolle man die Partnerschaft mit der BRD weiter ausbauen. Im Text steht allerdings nicht „man“ oder „Vietnam“ sondern „der sozialistische Einheitsstaat“.

Die Haltung der Bundesregierung, die behauptet, das Statement im vietnamesischen Fernsehen sei „erzwungen“, wird in diesem Artikel immer noch mit Distanz zitiert: Sie „habe keinen Zweifel, dass die vietnamesische Botschaft und der Geheimdienst daran beteiligt gewesen seien“. Und die Zeitung, die solche Behauptungen immer noch nicht als Tatsachen sieht, schiebt einige Informationen über Trinh Xuan Thanh nach: Er sei in Vietnam „zur Symbolfigur für die Selbstbedienungs-Mentalität vieler Funktionäre“ geworden.

Allerdings hatten zu der Zeit seine Anwälte eine andere Argumentation ins Spiel gebracht: Trinh Xuan Thanh sei das Opfer einer politischen Verfolgung. Er habe „aus politischen Gründen keinerlei rechtsstaatliches Verfahren zu erwarten“, sagte die Anwältin Petra Schlagenhauf der Süddeutschen Zeitung2. Außerdem sei er „das Opfer eines Machtkampfs innerhalb der KP“. Damit kamen zwei Aspekte ins Spiel, die den Lesern sehr vertraut sind: Die angebliche Verfolgung von Regierungsgegnern in Vietnam und der angebliche Machtkampf innerhalb der vietnamesischen Kommunistischen Partei, der ebenfalls zu Verfolgungen und Verhaftungen führe. Offenbar war das auch die Argumentationslinie, die Trinh Xuan Thanh bei seinem Asylverfahren vorgetragen hat, womit seine Chancen für eine Bewilligung sicher erheblich gewachsen wären.

In dieser Phase übernahm der Generalbundesanwalt am 10. August die Ermittlungen im „Entführungsfall“. Und es war nicht mehr der Fall eines Angeklagten, der sich seinem Gerichtsverfahren durch Flucht ins Ausland entzog und dann mit einer illegalen Aktion „heimgeholt“ wurde. Und die Bundesregierung verlangte von Vietnam nicht, einen in einem spektakulären Korruptionsfall Beschuldigten wieder ausreisen zu lassen, sondern das Opfer einer „illegalen Entführung“, deren wahres Motiv ein politisches sei, die Verfolgung im Rahmen eines Machtkampfs. All das aktiviert bei einem durchschnittlich sozialisierten deutschen Leser einen im Bewusstsein dauerhaft und tief verankerten und deshalb stets leicht ansprechbaren Antikommunismus, denn für ein „kommunistisches Land“ wie Vietnam sei es ja typisch, dass die Regierung dort hauptsächlich Gegner verfolgt, unterdrückt, ins Gefängnis steckt – selbst wenn es sich dabei um den Kampf gegen Korruption handelt – die natürlich auch wieder typisch sei für den Kommunismus.

So wirkt die eigentlich harmlose Ersetzung des Namens „Vietnam“ in dem erwähnten Artikel durch den Begriff „sozialistischer Einheitsstaat“ wie ein Signal und ruft Vorurteile wach, die seit Jahren sorgsam gepflegt werden, trotz Freundschaft und „strategischer Partnerschaft“.

Von da an legten Teile unserer Presse alle Hemmungen ab. Den Vogel schoss, bislang und nach meiner Kenntnis, ausgerechnet die „linke“ taz ab. „Spielball im vietnamesischen Machtpoker“ heißt der Titel eines Artikels von Marina Mai, der am 16.10.2017 erschien. Zunächst versucht die Autorin, das schlagende Argument des Asylsuchenden, er werde in Vietnam unweigerlich zum Tod verurteilt werden, zu erhärten, indem sie auf den derzeitigen verschärften Kampf gegen die Korruption in Vietnam verweist. Aber ihre eigenen Angaben sind eher ein Beweis in die Gegenrichtung: In dem bislang größten Prozess in diesem Zusammenhang sei, so berichtet sie, der Ex-Chef des staatlichen Ölkonzerns zum Tod verurteilt worden, 50 weitere Angeklagte zu Gefängnisstrafen. Das heißt aber doch, dass bei 50 von 51 Angeklagten nicht die Todesstrafe verhängt wurde, und Trinh Xuan Thanh mit seinen 140 Millionen verursachter Verluste dürfte kaum die Todesstrafe drohen3, wie ein Vergleich mit einem anderen Fall nahelegt: Am 08.09.2017 verurteilte ein Gerichtshof in Ho Chi Minh-Stadt einen früheren Direktor einer Geschäftsbank zu 30 Jahren Gefängnis, weil er die Hauptverantwortung trug für Verluste, die die Staatskasse in Höhe von über 400 Millionen US-$ erlitten hatte.4

Die CDU-nahe Konrad Adenauer-Stiftung sieh das ähnlich: In ihrem „Länderbericht“ über Vietnam vom August 20175 schreibt sie, dass Trinh Xuan Thanh wahrscheinlich wegen zweier Verbrechen angeklagt werde, und zwar „vorsätzlicher Verstöße gegen staatliche Regeln zum Wirtschaftsmanagement“ und wegen „Unterschlagung“. Letzterer Tatbestand kann die Todesstrafe zur Folge haben, wenn es sich um einen besonders schweren Fall handelt. Wenn sich der Angeklagte zu seiner Schuld bekennt, was in diesem Fall zutreffe, da er sich nach vietnamesischer Version freiwillig gestellt habe, dann ist eine Verurteilung zum Tod unwahrscheinlich, denn dies wirke auf jeden Fall strafmindernd.

Aber der Hauptinhalt des Artikels in der taz beschäftigt sich mit dem „eigentlichen Grund der Verfolgung der Ölmanager“. Der Kampf gegen die Korruption (was man ja nicht kritisieren kann) sei eigentlich „ein Machtkampf innerhalb der Kommunistischen Partei“, behauptet die Autorin und wärmt damit eine These auf, die schon seit dem letzten Parteitag, dem zwölften, der im Jahr 2015 stattfand, die extrem spärliche Berichterstattung darüber dominierte. In einem Artikel im VNK6 schrieb ich vor einem Jahr, diese Unterstellung sei ein Versuch,, „die in Vietnam herrschende politische Kultur mit westlichen Erklärungsmustern zu verstehen, sie an den 'Kampfformen' zu messen, mit denen hierzulande politische Auseinandersetzungen ausgetragen werden“, nämlich als Konkurrenzkampf, bei dem „ausgeschaltet“, „gewonnen“ und „verloren“ wird. Sie interpretiert die Auseinandersetzung zwischen zwei Vertretern verschiedener politischer Konzepte, die schon im Vorfeld öffentlich ausführlich diskutiert worden war, als reinen „Machtkampf“ zwischen dem damaligen Premierminister Nguyen Van Dung und dem damaligen und neuen Generalsekretär Nguyen Phu Trong, während eine genauere Analyse ergibt, dass sich die nach Meinung der Partei bessere Politik durchgesetzt hat und der „Gegner“ keineswegs „ausgeschaltet“7 wurde. Im Gegenteil wurden einige seiner Gleichgesinnten, darunter sein Sohn, bewusst in hohe Positionen in ZK und Präsidium gewählt.

Anscheinend hat der „entführte“ Trinh Xuan Thanh selbst eine solche Verbindung nahegelegt, er soll in einem Blog behauptet haben, der Parteichef habe ihn als seinen „persönlichen Feind Nummer 1“ bezeichnet. Das wirkt eher unglaubwürdig angesichts der Art und Weise, wie in Vietnam politische Konflikte ausgetragen werden, und soll wohl bewusst von den Korruptionsvorwürfen ablenken. Es ist zwar nicht auszuschließen, dass der brutale Einbruch westlicher Konsumkultur in Vietnam auch auf dem Gebiet der politischen Kultur in Zukunft eine zerstörerische Wirkung auszuüben beginnt, es gibt jedoch keinerlei Anzeichen, dass dies jetzt schon der Fall ist.

In der Sprachregelung des Westens hat es sich eingebürgert, der hier jeweils genehmen „Partei“ in der Partei das Etikett „reformerisch“ zuzuteilen. Das ist ein schlimmer Missbrauch eines Begriffs, der sonst eine positive Konnotation hat. In dieser Sprachregelung, der auch der taz-Artikel folgt, ist es paradoxerweise so, dass die in Vietnam der Korruption Verdächtigten automatisch „Reformer“ sind und diejenigen, die Ernst machen mit dem Kampf gegen die Korruption, die „Unterdrücker“. Um dies ein weiteres Mal zu behaupten, hat man aus der „Mücke“ Trinh Xuan Thanh einen Elefanten gemacht. Und als mächtige Sanktion beschlossen, die „strategische Partnerschaft“ auszusetzen.

Leider weiß kaum jemand hier und in Vietnam, was das konkret bedeutet.

Die Bundesregierung hat inzwischen auf die kleine Anfrage der Linken geantwortet. Sie enthält vor allem viele langatmige und juristisch detaillierte Erklärungen dafür, dass ein großer Teil der Fragen nicht oder nur teilweise beantwortet werden dürfe. Von den inhaltlichen Antworten ist eine besonders interessant: Auf die Fragen Nr. 10 und 11 geht das Dokument immerhin insoweit ein, als es einen wirklichen vergleichbaren Fall erwähnt:

Agenten des US-Geheimdienstes entführten am 22.04.1991 auf offener Straße den ehemaligen US-Bürger Jeffrey Carney in der Nähe seiner Wohnung in Berlin. Er wurde über den Flughafen Tempelhof und die Ramstein Air Base in die USA verschleppt.

In Cincinnati geboren, war Carney als Unteroffizier der US-Army in Deutschland tätig, am Flughafen Tempelhof. Er wurde von de Stasi angeworben und wurde ein Spion für die DDR. Nach seiner Rückverlegung in die USA flüchtete er 1985 nach Mexiko in die DDR-Botschaft. In die DDR zurückgekehrt, arbeitet er weiter in der Fernmeldeaufklärung. Es wurde ihm ein DDR-Pass ausgestellt, der aber falsche Angaben enthielt, u.a., e sei in Dessau geboren. Nach der Wiedervereinigung erhielt er bundesdeutsche Papiere und blieb in Berlin, wo er als U-Bahn-Fahrer arbeitete.8

1991 holte ihn seine Vergangenheit ein: Ein ehemaliger Stasi-Mitarbeiter soll den Amerikanern einen Tipp gegeben haben, und sie entführten ihn. Deutsche Stellen waren nicht informiert worden, und die damalige Bundesregierung unter Helmut Kohl hatte laut Spiegel dagegen nur „leise protestiert“, und zwar erst, nachdem auch deutsche Medien über den Fall berichtet hatten. Das Auswärtige Amt drückt sich über den Sachverhalt heute so aus: Man „hat [...]darauf hingewiesen, dass es sich um eine Verletzung der deutschen Souveränität handele, der Protest wurde von der US-Seite entgegengenommen“.

Das wars. Nur eine Mücke.

1 Deutscher Bundestag. Drucksache 18/1335, 18. Wahlperiode, 16.08.2017
2 Zitiert in der ZEIT, 03.08.2017
3 Um Missverständnissen vorzubeugen: Wir sind der Meinung, dass auch eine Verurteilung zum Tod immer noch eine zu viel ist, aber es ist bewusste Übertreibung, zu behaupten, diese werde in Vietnam massenhaft verhängt. Aus intensiven Untersuchungen und Diskussionen mit vietnamesischen Politikern und Beobachtern wissen wir, dass es eine eindeutige Tendenz gibt, die Todesstrafe auf immer weniger Delikte zu beschränken und sie so „allmählich“ abzuschaffen.
4 Bericht in der vietnamesischen Zeitung Tuoi Tre vom 10.09.2017
5 www.kas.de/vietnam, vefasst von Peter Girke
6 Zitate aus dem Artikel in VNK 1/2016. Dieser ganze „Machtkampf“ und der Ablauf des Parteitags werden dort im Detail dargestellt. Der Artikel ist auch auf unserer Website abrufbar.
7 Sondern nach geltendem Gesetz nicht mehr wiedergewählt werden konnte.
8 Die Fakten zu diesem Fall stammen aus Wikipedia.

veröffentlicht im Vietnam Kurier 2/2017

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