Industrie 4.0 für Vietnam?

ein Kommentar von Stefan Kühner

Vietnams Führung unterstützt mit voller Kraft die Digitalisierung in öffentlichen Institutionen, Hochschulen und der gesamten Gesellschaft. Ministerpräsident Nguyen Xuan Phuc formulierte im Mai 2017 eigens ein Dekret und weist damit Ministerien und andere Behörden an, alles zu unternehmen, um die IT-Technik in Vietnam zum Alltag zu machen. Nur so könne die Entwicklung Vietnams voranschreiten und es sei DER Weg, um den Lebensstandard der Menschen in Vietnam zu verbessern. Höchste Regierungsvertreter werben für Industrie 4.0, digitale Landwirtschaft1 und Smart Cities. Nicht erst seit heute. Auch schon vor einem Jahr wies Staatspräsident Tran Dai Quang bei der Eröffnung des Studienjahrs 2016 an der Universität Ho Chi Minh-Stadt darauf hin, dass Industrie 4.0 für Vietnam neue Möglichkeiten bieten würde, die Industrialisierung des Landes zu beschleunigen und die bestehenden Entwicklungsdefizite zu verringern.

Mit einem Kraftakt versucht die Regierung Vietnams, aktiv diese Techniken zu benutzen, um nicht von den negativen Folgen der Digitalisierung überrollt zu werden. Nach einer sehr umfangreichen Studie der ILO (International Labor Organisation) aus dem Jahr 2016 mit dem Titel ‚ASEAN in Transformation‘ sind alle Fabrikarbeitsplätze, die durch billige Arbeitskraft existier(t)en, am stärksten von der Digitalisierung bedroht. Die führenden Köpfe des Landes erkennen aber, dass diese bislang geltende Linie, Vietnam zur ‚Fabrik der Welt‘ zu machen2, nicht mehr ausreicht, um weiteres Wachstum zu generieren. Die automatisierte Produktion wird die Fertigung per Hand preislich unterbieten. Dies wird Vietnam und andere Länder, in denen unsere Schuhe, Kleidung, Mobiltelefone und Spielekonsolen zusammengebaut werden, Millionen Arbeitsplätze kosten. Also gibt es für Vietnams Regierung nur einen Weg, nämlich selbst zu den ‚Bestimmern‘ in dieser Technologie zu werden. Die Geräte, die von der Hochschule für Land- und Forstwirtschaft in Hue entwickelt wurden geben einen Hinweis darauf, was darunter zu verstehen ist. Ähnlich wie China will Vietnam Arbeitsplätze in der Softwareentwicklung und für Internet basierte Systeme und Produkte entwickeln.

Vietnam und andere Länder wie China und Kuba, die für manche bei uns ‚Leuchttürme des Sozialismus‘ waren, wenden sich mit ihrer Orientierung auf die rasante Entwicklung der Produktivkräfte nicht von ihren ursprünglichen Ideen einer sozialistischen Gesellschaft ab, sondern engagieren sich, um zu den industriell und technologisch weiter entwickelten Ländern aufzuschließen. So soll der Lebensstandard der Bevölkerung angehoben werden. Wie weit dieses Konzept trägt, kann keiner voraussagen. In China scheint es zu greifen.

Domenico Losurdo, ein italienischer marxistisch orientierter Publizist setzt sich in seinem neuen Buch Wenn die Linke fehlt … Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg3 mit Analysen und Strategien angesichts geänderter Machtverhältnisse auf unserem Globus auseinander. „Wir haben damit eine erweiterte dritte Welt vor uns, die die Schwellenländer und die sozialistisch orientierten Länder umfasst und insgesamt vom Kampf um die Realisierung oder die endgültige Durchsetzung zweier Menschenrechte charakterisiert ist, nämlich der 'Freiheit von Not' und der 'Freiheit von Angst'. Diese größere dritte Welt, die natürlich reich an Widersprüchen in ihrem Inneren und gewiss nicht frei von Herausforderungen und Schwierigkeiten ist, stellt trotzdem eine Alternative zur herrschenden Weltordnung dar, aber weniger auf der internen Ebene der einzelnen Länder als vielmehr hinsichtlich der internationalen Arbeitsteilung, die lange dadurch gekennzeichnet war, dass der Westen die Hochtechnologie monopolisiert und den Rest der Welt auf einen Lieferanten von Rohstoffen, von Niedriglohnarbeit und nicht zuletzt auf einen Absatzmarkt für anspruchsvollere Waren aus den entwickelten kapitalistischen Ländern reduziert hat.“

Ich verstehe Vietnams Anstrengungen, diese Technik zu nutzen, als ein Mittel, um voranzukommen. Wenn Vietnam diese Techniken nicht nutzt, droht das Land zurückzufallen. Das Land hat schließlich erlebt, wie schlimm es ist, wenn man von neuen Techniken abgehängt ist.

Dazu ein Blick zurück: Nach dem Ende des Vietnamkriegs war der Einsatz von Rechnern in Vietnam nahezu unbekannt. Das Land hätte zu diesem Zeitpunkt den Einsatz moderner Maschinen und Rechner gut gebrauchen können, um die Kriegsfolgen zu überwinden und seine Wirtschaft wieder in Gang zu setzen. Dem Land fehlte es in den siebziger und achtziger Jahren aber vor allem an drei Dingen. Erstens an Fachkräften, zweitens am Zugang zu neuem Wissen über Informatik und drittens an Computern. Für Vietnam war es nahezu unmöglich, dies zu ändern. Da Vietnam unter dem Boykott des Westens stand, hätte das Land, selbst wenn das Geld vorhanden gewesen wäre, keine Rechner aus dem Westen kaufen dürfen. Dies hat Vietnam in einer Phase, als die Entwicklung der IT-Technologien stark Fahrt aufnahm, weit zurückgeworfen. Die beiden anderen Aspekte versuchte Vietnam aus eigener Kraft anzupacken. Die wenigen Postgraduierten, die in den 80er Jahren über den DAAD oder die Humboldt-Stiftung nach Deutschland geschickt wurden, waren Naturwissenschaftler, Techniker und Computerspezialisten.

Um Zugang zu den Erkenntnissen der Informatik zu erhalten, bat das Komitee für Wissenschaft und Technik in Ho Chi Minh-Stadt auch uns von der Freundschaftsgesellschaft Vietnam um Unterstützung.

Im Viet Nam Kurier 2/1988 griffen wir das Thema mit einer Titelstory und dem Titelbild „Computer für Vietnam?“ auf und berichteten über die Bitten aus Vietnam um Unterstützung beim Aufbau von wissenschaftlich technischen Kontakten zu Institutionen in der BRD: „… bittet der Vorsitzende des Komitees Prof. Dr. Hoang Anh Tuan wieder in erster Linie darum, Verbindungen zu Forschungseinrichtungen in der BRD aufzubauen und bei der Beschaffung von wissenschaftlicher Literatur und solch alltäglichen Hilfsmitteln wie Fotokopierern zu helfen. Die wenigen Informationen und Verbindungen zum Ausland, die Vietnam vor allem in Hanoi besitzt, werden dort konzentriert und zielgerichtet genutzt. Sie strahlen aber nur in geringem Maße auf andere Orte in Vietnam aus. So sind die Informationen über die Möglichkeiten des Studienaustauschs mit der BRD in Ho Chi Minh Stadt und erst recht in der Provinz völlig unbekannt.“

Dies ist heute glücklicherweise anders – auch wenn es immer noch eine gewaltige Diskrepanz in der wissenschaftlich-technischen Entwicklung gibt. Vietnam erkennt heute, wie vor 30 Jahren, wie wichtig es ist, auch auf diesen Gebieten Anschluss zu finden. Deshalb propagiert die Führung Vietnams ausdrücklich die modernen Methoden der Digitalisierung und der Automatisierung unter dem Schlagwort Industrie 4.0 oder industrielle Revolution 4.0 genau zu untersuchen und ihre Vorteile zu nutzen. Sie tut dies nicht leichtfertig, sondern mit Verantwortung, um die Lebensbedingungen der Menschen unmittelbar zu verbessern. Und wie stand es in dem Artikel des Viet Nam Kurier 2/1988? „ … Bei der Forderung, Vietnam mit leistungsstarken Computern auszurüsten, geht es darum, das Land mit Werkzeugen auszustatten, … die bei uns selbstverständlich sind… Der Mangel an derartigen Werkzeugen hat konkrete Auswirkungen auf das Leben der Bevölkerung. Nach den Planungen der Vietnamesischen Regierung sollen Computertechniken in solchen Bereichen eingesetzt werden, in denen sie helfen, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern.“Dies ist heute, wo Computer vor allem in Verbindung mit dem Internet beziehungsweise dem, was man Cloud nennt, zum Einsatz kommen, nicht anders. Die Werkzeuge sind allerdings viel mächtiger geworden. Dass diese Digitalisierungs-Werkzeuge vor allem von privaten Konzernen beherrscht werden und diese den Profit einstreichen, liegt nicht an der Technik, sondern an den Eigentumsverhältnissen bei den Produktionsmitteln.

Anmerkungen:
1 Unter digitaler Landwirtschaft, auch als Smart Farming bezeichnet, versteht man eine hoch automatisierte Landwirtschaft, die jeden Schritt vom Anpflanzen, Jäten, Bewässern, Besprühen mit Pflanzenschutzmitteln und Ernten durch Maschinen und Computerprogramme steuert und dokumentiert.
2 In einem Bericht The World in 2050 von Pricewaterhouse Coopers wird Vietnam „Fabrik der Welt“ genannt. Vietnam habe diesen Titel und die damit verbundene Rolle von China übernommen.
3 Köln, Papyrossa Verlag, 2017

veröffentlicht im Vietnam Kurier 3-4/2017

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