Kleine Gedichte auf riesigen Bühnen

Die Internationale Literaturkonferenz 2019 in Hanoi

Günter Giesenfeld

Zum vierten Mal fand diese Konferenz dieses Jahr statt. Wie zu den drei ersten, war ich auch diesmal wieder eingeladen und konnte beobachten, dass man für diese eigenartige Kombination – es waren eigentlich zwei Veranstaltungen: ein Festival der Lyrik und eine Promotion-Veranstaltung zur Verbreitung der vietnamesischen Literatur im Ausland – inzwischen ein irgendwie schlüssiges Konzept gefunden hat.

Erschwerend kommt hinzu, dass eine allgemeine Tendenz zur Monumentalität unter Ausnutzung der neuesten Technik für die Videoprojektion auch diese Veranstaltung prägte. Vor vier Jahren entsprach sie noch den Erwartungen, die man spontan mit literarische Treffen verbindet: Exklusivität, Intimität, Gespräche im kleinen Kreis, Bescheidenheit. Solche Charakterisierungen passten dieses Jahr eher auf denjenigen Teil, der sich mit der Verbreitung der Literatur weltweit befasste: Die Veranstaltungen, auf denen wir Gäste berichteten, wie es um die Bekanntheit der vietnamesischen Literatur in unseren jeweiligen Ländern steht (und wo ich auch ein Referat halten durfte) hatten eher einen Seminarcharakter und fanden in Räumen statt, die nicht nur klein waren, sondern auch keine Bühne hatten.


Gedichte und Visitenkarten

Den Gedichten jedoch gehörten die großen Säle und Freilichttheater oder Zelte mit riesigen Bühnen, gefühlt kilometerbreiten und -hohen Videowänden und massiven Lautsprechertürmen.

Auf diesen Bühnen fanden aber nicht nur die Gedichtvorträge statt – mit dort winzig wirkenden Menschen: einem Dichter oder einer Dichterin und einem Übersetzer oder einer Übersetzerin –, sondern auch immer wieder Musikvorführungen – entweder mit Live-Ensembles auf der Bühne oder mit Musik von den Lautsprechern – und in diesem Fall bespielten Tanzgruppen den Bühnenraum und das passte dann wieder.

Meine Erwartung bei den ersten Konferenzen, es wären mit den bei der Konferenz anwesenden vietnamesischen Autoren ausführliche Gespräch über Literaturfragen möglich, war wohl eine etwas zu naive Vorstellung. Allein die Sprachschwierigkeiten waren groß und professionelle Dolmetscher kaum verfügbar. Reden und Gedichte wurden auch Englisch abgelesen. Nach Referaten gab es keine Diskussionen.

Die individuellen Gespräche bei dieser Konferenz haben immer deutlicher einen anderen Charakter: Im Vordergrund steht immer zunächst die Erkundung des Gegenübers, woher kommt er/sie, was macht er, was hat sie hier in Hanoi vor, wie könnte ein Kontakt über die Konferenz hinaus etabliert werden? Ich habe während der fünf Tage Dutzende von Visitenkarten verteilt und erhalten. Aber: ich habe mit mindestens zehn Delegationen aus den verschiedensten Ländern längere Gespräch geführt, die zumeist mit dem Wunsch endeten, dass man „in Kontakt bleiben“ wolle. Nach der Rückkehr habe ich dann eine anderthalb-seitige, eng beschriebene Liste hergestellt mit dem Titel Nachbereitungs-Agenda Reise 2019.

Es ist kaum wahrscheinlich, dass ich sie Punkt für Punkt abarbeiten werde, wichtig ist jedoch, dass sich hinter jeder dieser Email-Adressen die Erinnerung an sehr herzliche Gespräche verbirgt, an die ich oft denke. Wegen der Sprachschwierigkeiten bleiben von diesen weniger die – meist in Englisch – ausgetauschten Informationen in meinem Gedächtnis, sondern viel eher das Erlebnis einer allgemeine Atmosphäre der gemeinsamen Verbundenheit mit dem Land Vietnam und seiner Literatur.

Eine spezielle Atmosphäre

Dieser gemeinsame Grundtenor hat eine Stimmung hervorgebracht, die den ganzen Aufenthalt in ein Licht allgemeiner, scheinbar grenzenloser Solidarität taucht, ein Gemeinschaftsgefühl, das von Marburg bis nach Moskau und St. Petersburg, den USA, Tadschikistan, Barbados, China, Kambodscha, Taiwan, Korea, Japan, Wien, Ulan Bator und noch weiter reicht. Auch eine Einladung, die sicherlich ernst gemeint war, nächstes Jahr zu einer ähnlichen Konferenz nach Kalkutta zu kommen, werde ich nicht wahrnehmen – aber ich könnte.

Selfies zur Erinnerung - und zum Beweis: Ich war auch da!

Die Organisatoren der Konferenz haben ihren Gästen wie jedes Jahr einen touristischen Ausflug geboten, er ging, wie jedes Jahr, in die Ha Long-Bucht. Vielleicht ohne es bewusst zu machen, haben sie durch die längeren Busfahrten und den Aufenthalt auf dem Boot persönliche Kontakte ungemein gefördert. Dazu kam, dass die meisten Teilnehmer im selben Hotel wohnten1.

Wie jedes Jahr haben die Veranstalter die Konferenz (oder eher deren Lyrik-Teil) auf eine Provinz außerhalb der Hauptstadt ausgeweitet. Wir sind dieses Jahr in die Provinz Bac Giang gefahren, in deren Hauptstadt ein supermodernes Kulturhaus, vollbesetzt mit Hunderten von Zuschauern, auf uns wartete. Beifall, lächelnde Gesichter, Winken, Zurufe: Ich kam mir vor wie ein Popstar, der zu einem Konzert begrüßt wird. Und die supermoderne Bühne entsprach voll den Maßstäben, die die Veranstaltungsorte in Hanoi gesetzt hatten. Hier hatte der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes, der „Poet“ Nguy?n H?u Th?nh, die Idee, mich am Arm zu packen und mit in die erste Reihe zu schleppen, wo ich mich neben ihn setzen musste.2 Nachdem er mich vor 10 Jahren eher ignoriert hatte und dann wohl von Freunden aus der VDFG darauf hingewiesen wurde, hat er mich dieses Mal jeden Tag stürmisch umarmt und begrüßt. Ich kenne keins seiner Gedichte, aber seine Rede bei fast jeder Veranstaltung war wohl immer dieselbe, wie ich aus der lückenhaften Übersetzung ins Englische erkennen konnte. Seine Person ist für mich mit dem Wort „wuseln“ verbunden – so bewegt er sich bei solchen Anlässen durch die Masse des Publikums, aber er und seine Mitarbeiter haben, was die Organisation betrifft, viel dazu gelernt. Seiner neuen Aufmerksamkeit für mich verdanke ich die zweite Medaille, die er mir dieses Mal wieder ans Hemd steckte, exakt dieselbe wie 2009.


Kiê`u Bi´ch Hâ?u und zwei ihrer Werke

Eine Überraschung

Erst nach einigen Tagen bemerkte ich, dass man mir offenbar eine persönliche Begleitperson zugeordnet hatte, die mich auch am Flughafen begrüßt hatte. Sie war wohl nicht nur für mich, sondern auch für drei oder vier weitere Gäste zuständig, was dazu führte, dass wir an freien Nachmittagen als Gruppe Spaziergänge durch Hanoi machten. Hâ?u ist, was ich nicht wusste, selbst Schriftstellerin, hat einige Bände Erzählungen veröffentlicht3 und arbeitet außerdem als Journalistin.
Vor allem letzteres habe ich allerdings erst später erfahren, und zwar auf eigenartige Weise: Während der Konferenz lag regelmäßig Van Nghê?, die Zeitschrift des Schriftstellerverbandes, aus, ich nahm sie wie jeder mit, konnte aber nicht viel damit anfangen – vietnamesisch! Eines Tages wies mich aber Lady Borton, die in Hanoi lebende Amerikanerin darauf hin, ich solle doch mal die Ausgabe 84 lesen. Und ich entdeckte auf der Seite 16 ein Bild, auf dem ich mit Lê Minh Khuê zu sehen bin. Und ich stellte fest, dass im Text des ganzseitigen5 Artikels mehrfach mein Name auftauchte – ein Artikel über mich, geschrieben von Kiê`u Bi´ch Hâ?u! Später erfuhr ich, dass noch ein ähnlicher Artikel von ihr über mich in der Parteizeitung Nhân Dân stand.6

Inzwischen habe ich mir den Artikel übersetzen lassen, es ist eine seltsame Lektüre! Ja, sehr freundlich und positiv, aber auch von vielen Klischees durchsetzt über „Deutsche“. Ich wusste nicht, dass ich einem allgemein verbreiteten Bild eines Deutschen so sehr entspreche: Anfangs habe sie den Eindruck gehabt, schreibt Hâ?u, ich sei „mürrisch, aber auch lustig“. Wie es sich für einen Deutschen gehöre, sei ich „streng, präzise und ernsthaft“. Ich muss auf sie den Eindruck gemacht haben, auch mit mir selbst „äußerst streng“ zu sein. Das war wohl, als ihr ihr erzählte, ich würde nach der Konferenz noch eine Woche bleiben, und ich hätte für diese Zeit schon einen minutiösen Zeitplan von der VDFG. Und dann kommt ein dickes Lob (?): „Schon nach einem kurzen Kontakt mit ihm habe ich wichtige Erfahrungen für meine Arbeit, für meine Disziplin sowie für die Teamarbeit versammelt.“ Hâ?u unterstellt mir, ich könne nur deshalb „so viele Dinge tun“, weil ich „mich an die Disziplin und den ernstesten Plan mit der engsten Zeit“ halte.7 So wird einem ein Spiegel vorgehalten. Weiterhin gibt sie ziemlich genau wieder, was ich über unsere Übersetzungsarbeit erzählt habe, obwohl sie bei unseren Unterhaltungen offensichtlich keine Notizen gemacht hatte. Sie hat sich auch nicht als Journalistin zu erkennen gegeben, weshalb ich total überrascht wurde durch den Artikel.

Der Artikel in Nhân Dân ist anders, mehr auf die Rezeption durch „normale“ Leser ausgerichtet. Er ist in der englischen Ausgabe geschmückt mit einem Foto aus dem Internet: ich in meinem Kameramuseum. Es wird berichtet, ich würde gern durch die Straßen der Altstadt von Hanoi spazieren und erfreute mich an vietnamesischen Speisen in Restaurants wie Ph? und Bun. Im übrigen verrät dieser Artikel, erst im April veröffentlicht, dass die Redaktion oder Hâ?u inzwischen gegoogelt haben, denn es wird ausführlich über vieles aus meinem Leben berichtet, was ich aktuell bei diesem Besuch niemand erzählt habe…

Gedichte fliegen durch die Luft

Gegen Ende der Konferenz wurde dann der Spagat zwischen den beiden gleichzeitigen, aber so verschiedenen Veranstaltungen auf geniale Weise überbrückt bei einer Aktion, die im Literaturtempel in Hanoi stattfand. Während sich auf der Bühne die üblichen Tanzvorführungen mit Gedichtrezitationen abwechselten, versammelten sich auf den Wegen zwischen den Sitzen der Zuschauer immer mehr junge, in weiße Ao Dais gekleidete junge Frauen, die je eine Luftballon in der Hand hielten. Ich erinnerte mich, dass sich dasselbe auf der letzten Konferenz auch schon abgespielt hatte: Gegen Ende bewegten sich die Ballons an der Hand ihrer Trägerinnen auf die Bühne und stellten sich auf. An jedem Ballon hing ein Zettel, auf dem ein Gedicht ge schrieben stand. Ich suchte und entdeckte auch eines von Ch? Lan Viên.

Auf ein lautes Signal hin ließen die Frauen die Luftballons los, diese stiegen als dicker Pulk hoch, wurden immer kleiner, verteilten sich und flogen in verschiedene Richtungen davon. Niemand weiß, wo sie landen werden, wo jemand dann auf dem Boden ein Gedicht findet und es liest.

Eine wunderbare Idee: Gedichte kommen wie Wolken, Sonne oder Regen zu ihren Lesern – vom Himmel herab.

Alle Photos: gg

Anmerkungen:
1 Es ist eigentlich ein Gästehaus der Regierung mit der Besonderheit, dass die Telefone auf jedem Zimmer nur für Anrufe innerhalb des Hotels funktionierten, man konnte nicht einmal in die Stadt Hanoi anrufen… Aber wir leben ja im Zeitalter des Handys.
2 Was mir deshalb eher nicht recht war, weil ich mich „benehmen“ musste angesichts der Reporter und TV-Teams, die natürlich die erste Reihe ins Visier nahmen.
3 Einen hat Kiê`u Bi´ch Hâ?u mir geschenkt: Smart wife Vo? A?o. Hanoi (Frauenverlag) 2018.
4 Vom 23.2.2019
5 Im A3-Format!
6 Nhân Dân online english, 5.4.2019
7 Die Übersetzung wurde von Studenten der Hanoier Universität gemacht und ist zuweilen holprig, was für mich einen besonderen Charme hat.

veröffentlicht im Vietnam Kurier 1/2019

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