Ach, immer fließt
mein Herz
von Gefühlen über


Das Tagebuch der
Dang Thuy Tram

Rezension von Günter Giesenfeld

In Vietnam gilt ein Buch als sehr erfolgreich, wenn es 5.000 mal verkauft wird. Die Auflage dieses Tagebuchs liegt bei derzeit 430.000 Exemplaren. Also ein Mega-Bestseller, und das vielleicht nicht nur in Vietnam. Das Buch wurde schnell ins Englische, Koreanische etc. und nun auch ins Deutsche übersetzt. Radio und Fernsehsendungen wurden ausgestrahlt, ein Film soll entstehen.

Am 22. Juni 1970 bewegt sich in der Nähe von Duc Pho in der Provinz Quang Ngai im damaligen Südvietnam ein Trupp amerikanischer Soldaten durch den Dschungel. Es war eine search and destroyAktion einer Kompanie des 4. Bataillons, 21. Infanterie der USArmy. Die Soldaten hörten plötzlich von ferne ein Radio, der Sender der Befreiungsfront. Dann entdecken die Soldaten vier Personen, die auf einem Dschungelpfad unterwegs waren. Sie schießen sofort, zwei können entfliehen, zwei werden getötet. Eine davon ist die Ärztin Dr. Dang Thuy Tram. Sie hat ein SonyRadio bei sich, ein Buch mit Eintragungen über Reislieferungen, ein medizinisches Notizbuch, in dem sie auf Zeichnungen festgehalten hat, wann und wie sie bestimmte Operationen ausgeführt hat, einige Ampullen, Verbandsmaterial, ein Heft mit Gedichten, das Photo eines Hauptmanns der Nationalen Volksarmee und ein Tagebuch. Die Soldaten nehmen das Tagebuch an sich, es muß untersucht werden, ob man aus ihm geheimdienstliche Erkenntnisse gewinnen kann. Wenn nicht, so die Vorschrift, muß es vernichtet werden.

Fred Whitehurst, Mitarbeiter des amerikanischen Geheimdienstes in Duc Pho, hatte damals die Aufgabe, solches Material ein letztes Mal zu überprüfen und zu vernichten, wenn es nichts "militärisch Relevantes" enthielt. Auf Intervention seines vietnamesischen Dolmetschers verbrannte er Thuys Tagebuch nicht, sondern ließ sich von diesem daraus vorlesen. Gegen die Vorschrift nahm er die beiden unscheinbaren Hefte 1972 mit nach Hause.

Nach dem Krieg studierte Whitehurst und arbeitete für das FBI, das er 1993 verließ, nachdem er seine Behörde öffentlich der Korruption beschuldigt hatte. Die Tagebücher, die seither in einem Schrank gelegen hatten, übergab er nun seinem Bruder Bob, der eine Vietnamesin geheiratet hatte. Beide dachten daran, sie Thuys Familie in Vietnam zurückzugeben. Nach vielen Umwegen gelang es tatsächlich, ihre 81jährige Mutter ausfindig zu machen, eine Kopie des Tagebuchs wurde per Post an sie geschickt1, woraufhin ein reger Email und Briefwechsel begann. Als die beiden Brüder die Familie zum ersten Mal besuchten, waren die Tagebücher in Vietnam schon bekannt geworden. Gedruckt erschienen sie 2005, Thuys Grab am Stadtrand von Hanoi wurde zu einem Pilgerort, in Duc Pho war ein Krankenhaus gebaut worden, das ihren Namen trägt, ein Gedenkstein markiert den Ort in den Bergen, an dem sie gestorben war.

Bürgerliche Herkunft

Dang Thuy Tram wurde 1943 in Hanoi geboren. Ihr Vater war Chirurg, die Mutter Dozentin am pharmazeutischen Institut der Universität, die Familie war nicht reich, aber gebildet. Der Vater liebte klassische Musik und die Tochter lernte Geige und Gitarre. Sie ging auf die Chu VanOberschule, das frühere berühmte Lycée du protectorat. Anschließend studierte sie Medizin und spezialisierte sich auf Chirurgie. Nach dem Abschluß ihres Studiums entschloß sie sich, in den Süden zu gehen und für die Befreiungsfront zu arbeiten. Im Dezember fuhr sie auf einem LKW, zusammen mit weiteren Freiwilligen, 400 km weit zu einem Stützpunkt in der Provinz Quang Binh. Drei Monate lang marschierte die Gruppe dann, bepackt mit Rucksäcken, über den Ho Chi MinhPfad nach Quang Ngai, einer Provinz, die damals eine Hochburg des Widerstandes war. Dort arbeitete sie als Ärztin, Klinikleiterin und Ausbilderin in den dichten Wäldern und hohen Bergen südlich von Hoi An und fing an, ein Tagebuch zu führen.

Dang Thuy Tram als Schülerin, Hanoi 1958

In dieser Zeit kurz nach der Tet-Offensive 1968 war das ganze Gebiet zur free fire zone erklärt worden. Das bedeutete, daß die amerikanischen Soldaten und ihre südvietnamesischen Verbündeten den Befehl hatten, auf alles zu schießen, was sich bewegte, auf Kämpfer und Zivilisten. Regelmäßig wurde die Dörfer und Weiler überfallen und systematisch zerstört, und die Luftwaffe bombardierte fast pausenlos. Immer wieder mußte die Klinik verlegt werden, weil ihr Standort entdeckt oder verraten worden war. Die Kranken mit ihren Wunden mußten durch den Dschungel und über steile Berge in ein neues Versteck laufen oder getragen werden. Es war ein Leben unter ständiger Bedrohung, manchmal verbrachte Thuy ganze Tage und Nächte in Schutzkellern und höhlen, in unmittelbarer Nähe des Feindes.

Die junge Ärztin hatte wohl anfangs Schwierigkeiten, sich in die Guerilla-Truppe zu integrieren. Das spiegelt sich in ihrem Tagebuch darin, daß sie sich zunächst vergeblich um Aufnahme in die kommunistische Partei bemühte, die ihrer Meinung nach viel zu spät erfolgt sei. Der Grund, so stellte es sich ihr dar, lag in der Korruption oder im Opportunismus einiger Kader: "Würmer und Maden zerfressen die Partei, wenn diese Schädlinge nicht ausgerottet werden, werden sie den Glauben des Volkes und seine Liebe zur Partei allmählich untergraben." (S. 56) Es hatte wohl neben ihrer Unerfahrenheit auch etwas mit ihrer bürgerlichen Herkunft zu tun. Bitter merkt sie an: "Das Traurigste ist, daß ich in all diesem Leid immer noch keine Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit finden kann. Nirgendwo ein Versuch, die Partei von der weit verbreiteten Kleingeistigkeit und Feigheit zu befreien, die die Ehre des Titels Parteimitglied beflekken." (S. 63f.) Sie war ja eine Intellektuelle, stammte nicht aus der Arbeiterklasse, war allerdings trotzdem wegen ihrer Qualifikationen ein sehr wichtiger Bündnispartner. Mehrfach fiel ihr auf, daß es anscheinend Befehle gab, sie speziell davor zu schützen, zu fallen oder in Gefangenschaft zu geraten. Die Kritik am Verhalten mancher Genossen verlor sich im Laufe der Erzählung, nachdem sie am 27. September 1968 tatsächlich als Mitglied aufgenommen wurde.

Was Thuy über die Partei schreibt, ist sehr idealistisch: "Millionen Menschen haben eine große Mutter geschaffen die Partei" (S. 89). Es scheint von offizieller Rhetorik ebenso inspiriert wie Ausdruck einer gewissen Naivität zu sein. Politische Überlegungen sind nicht ihre Sache, und wir erfahren überhaupt nichts über die Gründe für ihre Entscheidung, eine erfolgreiche berufliche Laufbahn aufzugeben, um sich dem Befreiungskampf anzuschließen. Man weiß zwar, daß es noch zwei weitere Hefte gab, die bei einer Razzia den Amerikanern in die Hände gefallen und verloren gegangen sind. Erhalten ist also nur der zweite und letzte Teil des Tagebuchs. Aber aus der ganzen Anlage des Überlieferten kann man die Vermutung ableiten, daß auch dort keine tiefergehenden Erwägungen zu finden gewesen wären.

Aber das Ziel des Befreiungskampfes stand für sie niemals in Frage, und der Feind (den sie regelmäßig als "Banditen, Verbrecher" usw. bezeichnet) war für sie der Urheber so vieler Leiden und Qualen, so vieler Zerstörungen und Verluste, daß für sie das Engagement dagegen wahrlich keiner politischen Begründung (oder Propaganda) bedurfte. Die Partei war für sie ganz einfach die abstrakte Verkörperung eines SichWehrens in existentiell gefährdeter Situation, kein Wunder, daß ihr kleinliche Unterscheidungen in Klassen als lächerlich vorkamen. In ihrem Diskurs zu diesem Thema kommt häufig das Wort "Herz" vor: "Ich gehöre nicht zur Parteiavantgarde", so beklagt sie sich, als sie noch vergeblich auf Antwort auf ihren Aufnahmeantrag als Mitglied wartet: "Meinem Herzen fehlt das wärmende Feuer der Partei. Ich bin mit opferbereitem, offenem Herzen zur Partei gekommen, doch es scheint, daß die Partei mir das nicht mit gleicher Münze vergilt." (S. 70)

Eine paradigmatische Figur

Leser, die sich von diesem Buch Erkenntnisse politisch-historischer Natur erwarten, werden enttäuscht sein. Es gibt weder Hinweise auf die konkrete Situation, in der sich Thuy befindet (Wie ist die Klinik organisiert, wie viele Kranke werden behandelt, welche medizinischen Geräte und Medikamente stehen zur Verfügung, wie wird die Versorgung damit organisiert?), noch auf die Arbeit und den Kampf der Befreiungsfront (Wie laufen die Kämpfe konkret ab, welche Beziehungen bestehen zur lokalen Bevölkerung?). Wir erfahren auch nichts über die berühmte Formel der Verbindung von Kampf und Produktion. Die immer wieder zerstörten Kliniken, die ambulanten medizinischen Stationen, die Schutzräume, die sie umgebende, mit dichtem Wald bedeckte, atemberaubend schöne Berglandschaft sind für Thuy wie eine große Insel, auf der sie lebt und arbeitet. Die durch die feindlichen Aktionen aufgezwungene Isolation vollzieht sie geistig nach bis hin zur Ausblendung jeglicher aktueller politischer und strategischer Fragen. Historische Ereignisse wie die TetOffensive, der Beginn der Pariser Verhandlungen, die wechselnden Taktiken der USStreitkräfte werden allenfalls genannt, nicht aber in ihren Auswirkungen auf die konkrete Situation in ihrem Lebens und Kampfbereich reflektiert. Nur ganz selten wird diese Perspektive verlassen: "Die Revolution des Südens! Viele heldenhafte Taten, viele historische Ereignisse, aber auch soviel Wirrsal und Unrat in dieser Gesellschaft. Es ist verständlich, daß wir uns bei all unseren WehrtdenAmerikanernrettetdasLandAktionen noch nicht auf unsere Stärke besinnen können, um unsere Gesellschaft wieder aufzubauen und unser Volk zu lehren, wie es sich zivilisiert benehmen und leben soll." (S. 301f.)

Dang Thuy Tram in Pho Cuong, 1968

Zwar haben wir es hier mit einem persönlichen, intimen Text zu tun, es ist kein Roman (allenfalls die Umstände der Entdeckung und öffentlichen Wirkung der Tagebücher sind eine spannende story), und kein fingiertes, sondern ein echtes Tagebuch, das offensichtlich nicht zur Veröffentlichung bestimmt war. Thuy selbst stellte sich vor, daß es nach ihrem eventuellen Tod ihrer Familie ausgehändigt werden solle (S. 186).

Trotzdem ist es unausweichlich, daß wir als Leser den Text als eine "Erzählung"2 wahrnehmen, in der sich vor uns eine Persönlichkeit (um nicht zu sagen: eine Protagonistin) selbst gestaltet. Die Frage danach und das Interesse dafür, was denn diese Person ausmacht, ist legitim in dem Augenblick, in dem der Text (vermutlich gegen den Willen der Autorin) veröffentlicht wird. Deswegen ist es auch legitim, danach zu fragen, wie diese Person sich sieht, was sie wahrnimmt und was nicht, Fragen die hier jedoch einer wirklichen Person gelten, und nicht einer literarischen Figur. Um so weniger wäre es angebracht, diese Figur dabei einer Kritik zu unterziehen, das wäre im strengen Sinn absurd. Daß die hier literarisch präsente Dang Thuy Tram aber eine paradigmatische Figur ist, beweist allein der Erfolg des Buchs. Und sie hat es auch selbst so gesehen: "Doch dieses Tagebuch ist nicht nur für mein Privatleben da. Es muß auch das Leben meiner Leute und ihre unzähligen Leiden festhalten, dieser Leute aus Stahl in diesem Land des Südens." (S. 229f.)

Die Leiden aufschreiben

Das wichtigste, fast auf jeder Seite erneut gestaltete Thema des Tagebuchs ist das Leiden. In ihre Klinik, auf ihren Operationstisch kommen die Opfer, die Verletzten, die Sterbenden oder die, denen sie helfen kann und die dann doch kurze Zeit später fallen. Der Tod ist in dieser Geschichte nicht in seiner "normalen" KriegsForm präsent (als massenhaftes Umkommen in der Schlacht, unter den Bomben oder in den Gefängnissen), sondern hier sterben einzelne Menschen, und Thuy ist sehr oft, wenn sie sie nicht retten kann, bei ihrem Sterben dabei. Die Sterbenden haben Namen, sind ihr vertraut, manchmal in Liebe verbunden, jeder einzelne ein persönlicher Verlust.

Das allgemeine Leiden am Krieg tritt uns als ihr persönliches Leiden am Krieg gegenüber, und es ist trotzdem "die Unermeßlichkeit, die Ungeheuerlichkeit unserer Leiden!" (S. 45) Einmal fragt sie sich: "Muß ich mein liebes Tagebuch denn seitenweise mit Blut füllen?" Aber dann fühlt sie auch die Verantwortung gegenüber den Opfern, ihr Leiden nicht dem Vergessen zu überlassen. "Und in den letzten Tagen dieses tödlichen Kampfes verdient es jedes Opfer erst recht, verzeichnet, erinnert zu werden. Warum? Weil wir seit vielen Jahren kämpfen und Opfer bringen. Hoffnung leuchtet wie ein helles Licht am Ende des Tunnels, heute, wo wir unserem Ziel nahe sind, sind so viele von uns gefallen." (S. 82) Die Überzeugung, daß der Sieg kommen wird (wenn er auch im Jahre 1968 noch nicht so nahe war, wie Thuy vielleicht glaubte), ist (über-) lebensnotwendig, denn anders kann man die Leiden nicht ertragen und nicht akzeptieren. Immer wieder wird diese Hoffnung ausgedrückt: in zugleich nostalgischen und zukunftsgewissen Evokationen eines friedlichen Lebens in Hanoi, in der Vorstellung, viele der hier gewonnenen Freunde danach wiederzusehen wenn sie den Krieg überleben3, oder ganz einfach im Bild der wiedervereinigten Familien, auch derjenigen, die durch die Bestimmungen des Genfer Abkommens oder durch die Kämpfe getrennt worden waren. Häufig ist diese Hoffnung der Gegenpol zu einem Gefühl des Hasses, der gegenüber den amerikanischen "Teufeln" und den mit ihren verbündeten "Verrätern" empfunden wird. In dieser emotionalen Erregung bringt Thuy unbewußt den Vietnamkrieg auf die einfachste Formel, jenseits aller historischen und machtpolitischen, ja auch ideologischen Erwägungen: Ihr Land wurde überfallen, ihr Volk muß sich wehren, weil es sonst untergehen wird. Diese Einschätzung brauchte den vietnamesischen Bauern (und offensichtlich auch vielen Intellektuellen) nicht in Schulungen vermittelt zu werden, sie war die elementare Wahrheit.

Die Liebe

Als sie 17 Jahre alt war, lernte Thuy, damals noch Schülerin, einen Jungen kennen, der auch aus einer Hanoier Intellektuellenfamilie stammte. Er hieß Khuong The Hung, führte als Künstler das Pseudonym Do Moc. Er machte ihr den Hof, vor allem, als sie an der Universität studierte. 1962 ging er, vermutlich als Mitglied einer Kulturgruppe, in den Süden und schloß sich der Befreiungsfront an. Er schrieb ihr Briefe, und man kann vermuten, daß Thuy, als sie vier Jahre später ebenfalls in den Süden ging, auch hoffte, ihn wiederzusehen. Dies geschah auch, aber da wir die ersten beiden Hefte der Tagebücher nicht haben, können wir nur vermuten, was bei diesem Treffen geschah. "M.", wie sie ihn in ihrem Tagebuch nennt, hatte inzwischen eine militärische Karriere gemacht, war Hauptmann und politischer Offizier einer Pioniereinheit geworden, die den Ruf genoß, besonders heldenhaft zu kämpfen. Aus den Andeutungen im erhaltenen Text kann man schließen, daß sie beim Wiedersehen enttäuscht war, und das kann verschiedene Gründe haben: War er eine andere Beziehung eingegangen? Hatte er sich charakterlich verändert? Liebte er sie nicht so intensiv wie sie ihn? Unklar ist auch, ob sie die Verbindung aus Stolz gelöst hat, oder ob er "Schluß gemacht" hatte. Ein Freund hat später behauptet, "M." habe Thuy damals erklärt, daß er sein Leben ganz dem Kampf verschrieben habe und nicht damit rechne, den Krieg zu überleben. Deshalb könne er sie nur wie eine Schwester lieben. "Du hast eine wunderbare Liebe begraben", wirft sie ihm vor, "du hast gerade das, was du die vergangenen acht Jahre hochgehalten hast, leichtfertig aufs Spiel gesetzt." (S. 104)

M. hat überlebt, mit Narben von mehr als 20 Verwundungen, heiratete nach dem Krieg und hatte zwei Söhne, als er 1999 starb. Manche nehmen die Tatsache, daß er nach dem Krieg die Familie Thuys nicht besucht hat, als Beweis für ein "schlechtes Gewissen"4.

Diese eigentlich bereits gestorbene Liebe wird im Tagebuch zur Projektionsfläche von Sehnsüchten und Träumen von einem emotional erfüllten Leben. Thuy war offensichtlich nicht in der Lage, diese Enttäuschung zu akzeptieren oder, anders ausgedrückt, ihr Glücksverlangen brauchte diesen fiktiven Bezugspunkt, um, neben der Hoffnung auf den Sieg, im sie umgebenden Leid nicht den Mut zu verlieren. Deswegen hält sie innere Zwiesprache mit M., von dem sie selten noch Briefe erhält, und über den ihr andere im Gespräch und in Briefen berichten. Da klingt dann manchmal eine gewissen Kritik an: In ihrer Umgebung, die vermutlich falsch oder gar nicht über die wahren Umstände informiert ist, geistert eine Vorstellung von so etwas wie einem Traumpaar herum, als das man sie und M. anscheinend immer noch sehen will: "Ich bekomme Briefe von M. und seinem Vater. Fast alle, die über uns Bescheid wissen, freuen sich für mich. Und dennoch bin ich tief betrübt." (S. 127) In solchen Momenten hadert sie mit sich und ihrer Natur: "Ach Thuy! Ach du von Zuneigung überströmendes Mädchen!" (S. 113)

Thuys "Adoptivbrüder"

Bei den Kämpfern der Befreiungsfront, der Bevölkerung der Bergdörfer, im Umkreis ihrer beruflichen Aktivitäten war Thuy äußerst beliebt. Sie half nicht nur wo sie konnte, sie "liebte" alle Patienten, Kämpfer (was meist identisch war), Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Klinik. Ich habe keine Erhebung gemacht, aber mir schien bei der Lektüre, daß "Liebe" und "lieben" die allerhäufigsten Vokabeln sind, die in dem Tagebuch vorkommen. Thuy wendet also dieses Wort nicht nur auf ihre Beziehung mit M. an, sondern es taucht bei allen Berichten über Patienten auf, mit denen sie länger oder wiederholt zu tun hatte, sie betrauert sie, als wären es ihre Verwandten gewesen, wenn sie sterben.

Immer wieder betont sie den Unterschied zwischen diesen "Lieben" und der einzigartigen, ganz anders gearteten Liebe zu M. Aber die Wortwahl und Rhetorik an den Stellen, an denen sie von der Liebe zu ihren "Adoptivbrüdern" spricht, ist, mit den Augen eines westlichen Lesers gesehen, ganz ähnlich der Art, wie eine emotionale und erotische Liebesbeziehung beschrieben wird.5 Wahrscheinlich deswegen hat Thuy an mehreren Stellen versucht, dieses Mißverständnis zu verhindern:

"Im Grunde ist es nicht meine Liebe zu einem bestimmten jungen Mann, die mich so fühlen und handeln läßt, wie ich es tue. Es ist etwa Unermeßliches, Lebenssprühendes in mir. Meine Sehnsucht erstreckt sich auf viele Menschen, reicht von einem zum anderen, von einer Nichte6, die ich nie kennengelernt habe, bis zu einer kleinen Schwester, die mit ihren Aufgaben zu kämpfen hat und mich stets ‚zweite Schwester' nennt. Wie ich den lieben jüngeren Bruder vermisse, der sich mit Haut und Haaren in die Arbeit stürzte, sein Herz jedoch ganz mir vorbehielt." (S. 150) "Es ist nicht bloß Zuneigung! Zuneigung kann nicht diese heiße Heftigkeit haben; sie kann die Gefühle eines Menschen nicht so völlig beherrschen." (S. 189)

Solche innigen Beziehungen, "heißen" Gefühle sind für Thuy eine Art emotionales Gegengewicht zu den Entbehrungen, Enttäuschungen und Verlusterlebnissen ihres alltäglichen Lebens. "So viel Arbeit, Kopfzerbrechen und Erschöpfung! Ich wünsche mir nichts mehr, als still und leise in den Trost der Liebe zu flüchten." (S. 116) Und oft muß sie sich selbst ermahnen, nicht allzu sehr in diese Trostwelt abzutauchen: "Mein Herz hat all meine persönlichen Träume beiseitegeschoben, damit ich mich ganz meinen Pflichten widmen kann." (S. 103)

Umschlag der ersten vietnamesischen Ausgabe 2005
mit einem Bild Thuys im Park der Wiedervereinigung in Hanoi 1965

Dieser spezielle emotionale Bereich hat im Kontext des Tagebuchs zwei verschiedene Aspekte. Einmal scheinen diese engen Beziehungen zu meistens jungen Kämpfern auch in Thuys direkter Umgebung manches Mißverständnis oder manche Vermutung hervorzurufen, und zwar über ihren eventuell sexuellen Charakter. Thuy achtet im konkreten Umgang mit ihren "Adoptivbrüdern"7, so der Ausdruck, den ihre Kolleginnen manchmal benutzen und damit vielleicht andeuten, daß es sich um Geliebte handeln könnte, stets sorgfältig darauf, daß solche Vermutungen keine Anhaltspunkte haben, etwa indem sie dafür sorgt, daß bei einer gemeinsam verbrachten Nacht im engen Untergrundschutzraum immer eine Kollegin dabei ist. Als einer der "jüngeren Brüder" nach einer Schlacht wohlbehalten auftaucht, muß sie ihre Freude darüber gewaltsam im Zaum halten: "Ich habe Angst davor, was sie von uns denken werden, Angst, daß sie unsre noble Liebe, diese ganz und gar unschuldige Hingabe, mißverstehen könnten. Ich weiß, daß diese Liebe rein ist. Ihre Vielschichtigkeit ist es, die mich beunruhigt. (…) Es gibt wirklich nichts daran zu deuteln, wenn du meine Hand hältst und sie liebe und respektvoll küßt, doch ich sorge mich trotzdem, daß die Leute unsere Zuneigung falsch verstehen könnten." (S. 161)

Es gab unter diesen jüngeren Brüdern vermutlich viele, die Thuys Liebe gern anders interpretiert hätten, Verehrer, die sie gerne geheiratet hätten. Sie hat ihnen offenbar zu verstehen gegeben, daß keine solche Hoffnung bestehe, und dabei wohl auch die allgemeine Auffassung ausgenutzt, sie sei (mit M.) verlobt. Von solchen Verehrern erhält sie Liebeserklärungen, die auf den ersten Blick skurril klingen: "Wenn ich eine Geliebte habe, werde ich ihr sagen, daß meine Liebe zu dir, große Schwester, höher steht als meine Liebe zu ihr" (S. 121).

Liebe und Revolution

Daß diese "schwesterliche" Liebe höher steht als die Liebe unter Geliebten (also die sexuelle oder eheliche), verweist auf den zweiten Aspekt, unter dem "Liebe" in diesem Tagebuch zu betrachten ist. Die erwähnte Ambiguität der Liebe zu den "jüngeren Brüdern" dürfte zunächst (auch bei den Betroffenen) als das Wirken konfuzianischer Traditionen erscheinen, denen gemäß voreheliche sexuelle Beziehungen tabu sind. Und wenn man einer sich als realistisch auffassenden neueren Literatur über den Krieg (von Bao Ninh, Duong Huong und Nguyen Khac Truong8) glauben will, wurden solche Verhaltensregeln in der Ausnahmesituation des Krieges oft nicht mehr wirksam.

Bei Thuy steckt noch eine andere Dimension dahinter. "Es ist seltsam, denn es gibt keine heißere Liebe als die deine", so wendet sie sich fiktiv an einen der Verehrer, "auch wenn die unsere nur eine Liebe zwischen Schwester und Bruder ist", und sie fügt hinzu: "die Liebe eines Revolutionärs".

Diese besondere Liebe, die wir vorläufig mit ihr "revolutionär" nennen wollen, beschreibt sie so: "Wir lieben einander mit einer wunderbaren Liebe, die Menschen sich selbst vergessen und nur an ihre Liebe denken läßt. Aus dieser Liebe heraus vermögen Menschen ihr Leben zu opfern, um ihre Lieben zu beschützen." (S. 138) Die Liebe, jenes Element also, das ihr innere Zuflucht, moralischer Bezugspunkt und Ersatzerfüllung "normaler" emotionaler und erotischer Bedürfnisse zugleich ist, wird in engste Nähe zu dem gerückt, was wir mit einigen blasseren Worten als Patriotismus, Solidarität oder auch Heldentum bezeichnen würden.

Wir sollten vorsichtig sein und nicht glauben, es läge hier eine philosophische, patriotische oder gar ideologische geistige Konstruktion vor. Thuy, die sich selber als "ein einsames Mädchen voller unerfüllter Hoffnungen und Träume" bezeichnet (S. 37), hat ganz sicher nicht die Absicht, mit der Schilderung ihrer Gefühle einen Weg zur Erhöhung der Moral der Befreiungskämpfer zu weisen. Die Trauer, die sie angesichts des Krieges empfindet, gilt der Erkenntnis, in den "drei Säulen des Lebens" versagt zu haben, die da sind: "Ideal, Beruf und Liebe" (S. 70). Da muß man ihr wohl widersprechen: Das Versagen geht auf das Konto des Krieges, Gegen dessen übermächtige Gewalt sie sich auflehnt und dabei eben gerade njcht "versagt". Ihr bescheidener moralischer Sieg ist mehr wert die der US-Generäle und Präsidenten, die es schon lange aufgegeben haben, Politik als einen Ausdruck "nachdenklicher Nationen" aufzufassen.9

Nachdenkliche Leser werden aus diesem Aspekt des Tagebuches von Dan Thuy Tram am meisten lernen können. Ohne eine theoretische Ableitung nötig zu haben, gibt es eine einsichtige Erklärung für die erstaunlichen Erfolge, die der vietnamesische Widerstand viele Jahrzehnte lang erringen konnte und eine Antwort auf die Frage, warum dies trotz der unendlichen Leiden, der übermenschlichen Anstrengungen und Opfer möglich war.

Anmerkungen:
1 Das Original liegt heute im Archiv der Texas Tech University (USA).
2 In der literaturwissenschaftlichen Fachsprache wäre es ein "Ich-Roman" mit einem subjektiven Erzähler. Davon gibt es in der Literaturgeschichte aller Länder unzählige Beispiele, die meistens "fingiert" sind, d.h. der Autor erfindet eine Per-son, deren Tagebuch er "gefunden" habe, und die dann ihrerseits zum Objekt der Gestaltung wird.
3 Vgl. das Gedicht von Thuy Diesen Nachmittag (S. 253ff.)
4 Diese Informationen entnehme ich der Einleitung von France FitzGerald zur amerikanischen Ausgabe des Tagebuchs, die ungekürzt in die deutsche Ausgabe übernommen wurde.
5 Man kann wohl ausschließen, daß die Identität der beiden Gefühle (man könnte sie als "schwesterlich" und "erotisch" differenzieren) dadurch zustande gekommen ist, daß bei der Übersetzung ein unterschiedlicher Sprachgebrauch eingeebnet worden ist. Im Original tauchen verschiedene Ausdrücke für "lieben, gern haben" (thuong, tinh) auf, werden aber nicht differenzierend gebraucht. Dies wird auch durch die Angst von Thuy bestätigt, daß andere die Unterscheidung nicht verstehen könnten.
6 Solche Bezeichnungen benennen nicht eine familiäre Verwandtschaft, sondern eine unterschiedliche Intensität der Beziehung.
7 Thuy nennt diese ihre engen Freunde stets "jüngerer Bruder", eine Anrede, die im vietnamesi-schen Alltag bereits eine gewisse Intimität kennzeichnet. Der Ausdruck "Adoptivbrüder" betont und verstärkt den Grad der Intimität. Es ist auch ein "älterer Bruder" unter denjenigen, die Thuy auf diese Weise "liebt": ein hochrangiger Kader, der für sie eigentlich nur ein "Onkel" sein dürfte.
8 Diese drei Schriftsteller wurden 1991 mit dem Preis des Schriftstellerverbandes ausgezeichnet für ihre Romane Die Leiden des Krieges, Am Ufer der Frauen ohne Männer und Von Geistern und Menschen. Der erste, der lange Zeit als Werk eines "Dissidenten" galt, liegt in Englisch vor, die beiden anderen in Französich. Bao Ninhs Roman trug übrigens ursprünglich den Titel: Die Leiden der Liebe (Than phan cua tinh yen).
9 Der Ausdruck stammt von dem Dichter Che Lan Vien: "Die Zeiten der nachdenklichen Nationen sind vorbei" heißt es in seinem Gedicht "Hamlet in Vietnam", (Che Lan Vien, Gedichte, Düsseldorf, Hanoi 2002, S. 51)

Dang Thuy Tram:
Letzte Nacht träumte ich vom Frieden.
Ein Tagebuch aus dem Vietnamkrieg,
(Nhat Ky Dan Thuy Tram Das Tagebuch der Dang Thuy Tram)
Krüger Verlag (S. Fischer) Frankfurt 2008, ISBN 978-3-38105-2029-6, € 18,90

veröffentlicht im Vietnam Kurier 1/2008

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