Der traurige Optimist

Nguyen Dinh Thi: Ein Dichterleben

Günter Giesenfeld

Auf die Frage nach seiner wichtigsten Charaktereigenschaft hat Nguyen Dinh Thi geantwortet: „Sérénité“. Das französische Wort hat, übersetzt, mehrere Bedeutungen: Heiterkeit, Gelassenheit, Ausgeglichenheit. Eine Geisteshaltung, die der Schriftsteller Nguyen Dinh Thi in seinem Leben oft brauchte: Wenn seine Theaterstücke verboten wurden, wenn sein Blick auf die Geschichte mißverstanden wurde, wenn Sorgen und Befürchtungen für die Zukunft in befremdlichen Gedichtzeilen den offiziellen Optimismus trübten. Und doch hat er seine Kritiker letztlich überzeugt. Öffentlich hochgeachtet und von den einfachen Leuten geliebt, starb er nun nach langer schwerer Krankheit. Wir versuchen ein Bild seines Lebens zu zeichnen, ausgehend von einem ausführlichen Interview, das 1999 aufgezeichnet wurde und aus dem hier zum ersten Mal Passagen wörtlich (kursiv) veröffentlicht werden.

Ich bin in Laos geboren. Mein Vater war zu der Zeit Beamter bei der indochinesischen Post. Ich bin 1924 geboren in Phong Saly und habe meine Kindheit dort verbracht. Das ist ein sehr abgelegener Militärposten. Dort hatte der kleine Sohn des Postverwalters Umgang vor allem mit Angehörigen der ethnischen Minderheiten. Ich habe eigentlich das Laotische kaum gelernt, wo wir wohnten, war eine Gegend, in der ethnische Minoritäten lebten, sehr abgelegene Dörfer, sehr rückständig. Ich erinnere mich, daß die schwangeren Frauen sich regelmäßig zu einem Hügel begaben, wo es eine heilige Erde gab, und sie aßen davon. Ich bin mehrmals mitgegangen und habe auch gegessen. Diese Erlebnisse haben meine Kindheit geprägt, die Berge, die Flüsse und die Brunnen, haben Spuren in meinen Gedichten hinterlassen.

Mit sechs Jahren habe ich Laos verlassen. Mein Vater seine Versetzung nach Vietnam beantragt. Im Kolonialsystem schickte man die jungen Beamten immer erst mal weit weg in die Provinz. Erst nach 10 oder 12 Jahren Dienst durften sie nach Vietnam in die Städte zurückkehren.

Ich stamme also aus einer mittleren Beamtenfamilie, wir waren nicht wohlhabend, aber auch nicht arm.

Nun war es dem Jungen auch möglich, in die Schule zu gehen. Er besuchte die vietnamesische Grundschule in Hanoi und dann das Lycée du protectorat (Gymnasium). In dieser Zeit waren die Schulen und Universitäten bereits Zentren des politischen Widerstands gegen die Kolonialmacht. Flugblätter, Demonstrationen, andere Aktionen hatten regelmäßig Strafaktionen der Schulleitung und der französischen Behörden zur Folge. Thi engagierte sich in dieser Schülerbewegung und wurde 1940 zum ersten Mal verhaftet. Ich wurde von der Schule verwiesen und habe auf eigene Faust weiter gelernt. Literatur und die anderen Geisteswissenschaften habe ich mir als Autodidakt angeeignet. Da die gerichtliche Anklage gegen den noch Minderjährigen offensichtlich unbegründet war und fallengelassen werden mußte, konnte er trotz des Schulverweises sein Studium an der juristischen Fakultät antreten. In diesen 2 Jahren des Studiums war Thi auch wieder bei Protestaktionen dabei und wurde ein zweites Mal verhaftet. Er schrieb damals schon Texte für patriotische Lieder.

Man machte mir den Prozeß vor dem Gericht von Nam Dinh, aber ich wurde wieder freigesprochen wegen Mangels an Beweisen. Trotzdem war ich von da an unter Hausarrest gestellt, bis zum Staatsstreich der Japaner.

Nguyen Dinh Thi ist damals nicht, wie viele andere, in den Untergrund gegangen, als Intellektueller blieb er in Hanoi und Haiphong. In den Dschungel ging er erst 1945 als Delegierter der Studenten zur konstituierenden Gründungssitzung für eine provisorische Gegenregierung, zu deren Präsident Ho Chi Minh gewählt wurde. Denn ich war schon kein Unbekannter mehr, hatte schon Bücher veröffentlicht. Mein erstes Buch war ein Essay über Kant und erschien 1942. Von To Hoai, einem ebenfalls bekannten Dichter und Freund This aus jenen Jahren, wissen wir, daß dieser schon als Student in Hanoi und Haiphong eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte, weil er schon mit 16 Jahren ein Buch über Philosophie geschrieben hatte, in dem er Ideen von Kant, Nietzsche und Descartes behandelte.

Ich hatte stets die Absicht, Schriftsteller zu werden, und nie einen anderen Beruf ins Auge gefaßt. Ich lebte seit der Zeit an der Universität vom Schreiben. Ich verfaßte Artikel gegen Honorar für Zeitungen. Mein erster Gedichtband Nguoi Chien Si (Der Kämpfer) ist erst nach dem Krieg veröffentlicht worden, 1956. In der Kriegszeit, habe ich für die Widerstandsbewegung vor allem Lieder geschrieben. Berühmt wurde mein antifaschistisches Lied über Hanoi und die dortige Widerstandsbewegung. Dieses Lied wurde die Erkennungsmelodie unseres Radiosenders. Ich habe auch die Melodie selbst komponiert. Ich war damals vor allem wegen meiner Lieder bekannt.

In der DRV gab es gleich nach dem Kriegsende eine kurze Zeit des Aufschwungs, auch auf kulturellem Gebiet. Es wurde ein Kulturbund gegründet, in dem Thi Mitglied war sowie später der Schriftstellerverband und der Künstlerverband. Als der Krieg gegen die Franzosen aufs Neue begann, blieb Thi nicht mehr in Hanoi. Er engagierte sich in der Volksarmee, wurde Kommissar für Kultur in einer Division, die von den Franzosen die „eiserne Division“ genannt wurde. Ich war bei mehreren Schlachten dabei, bis Dien Bien Phu. Dort kämpfte ich an der Front als Bataillonskommissar. Nach dem Sieg von Dien Bien Phu habe ich den Dienst quittiert, kehrte nach Hanoi zurück und wurde Funktionär beim Schriftstellerverband. Von da an (1955) war das Schreiben meine Hauptbeschäftigung. In dieser Zeit entstanden vor allem Gedichte.

Nguyen Dinh Thi im Süden, 1948

Noch während des Krieges stießen viele seiner Schriften wieder auf Ablehnung und Kritik, Thi spricht sogar von „Skandalen“, die sie ausgelöst hätten. Der Grund: Ich habe nicht die klassischen Formen gewählt, keine Reime, irreguläre Verben benutzt. Im Jahre 1949 gab es ein Parteikolloquium im Dschungel speziell über meine Gedichte. Man beschloß, daß die Gedichte nicht veröffentlicht werden durften. In der Tat sind This wichtigste Gedichte aus dem Krieg erst in den 60er Jahren erschienen. Vor allem das Gedicht Etoile (Stern) war berüchtigt. Er verlegte sich auf die Prosa, und sein erster Roman Xung Kich (Der Angriff) erschien 1951. Es ist dieser Roman, der ihm endlich eine gewisse öffentliche Anerkennung verschaffte, während die Gedichte damals nur in Abschriften zirkulierten.

Nach dem Krieg war die Atmosphäre entspannter und ein erster Gedichtband konnte erscheinen mit den Kriegsgedichten. Von da an wurden die Gedichte regelmäßig gedruckt, erst in Zeitschriften und Zeitungen, dann in einem weiteren Gedichtband 1962.

Die erste Gedichtsammlung war für mich wie eine Pioniertat. Nach der Revolution gab es zuerst die schon bekannten Autoren von vor dem Krieg, die fortfuhren zu schreiben. Ich gehörte zu der Generation nach der Revolution. Diese Generation hat Neuerungen eingeführt, die nicht immer sofort anerkannt wurden. Später, nach und nach hat man meinen Beitrag zu einer Erneuerung der Poesie gewürdigt.

Frage: Was für eine Art Poesie war das?

Reine und freie Poesie. This Auffassung von der Lyrik stand im Gegensatz zu den Forderungen der Partei und der Führer des Widerstands, daß die Literatur direkt zum Kampf beizutragen habe, indem sie Heldentaten und mutige Menschen in den Mittelpunkt stellte. Ihm war die Darstellung von Gefühlen und Gedanken wichtiger. „Rein“ war diese Poesie für Thi, weil sie sich nicht solchen Funktionsbestimmungen unterordnen wollte, frei war sie auch deshalb, weil sie die poetischen Formen und Versstrukturen frei schuf und nicht alten Traditionen und Regeln folgte. Was zum Kampf und zur Moral der Bevölkerung beitragen sollte, schrieb er lieber in Prosa (Artikel, Reportagen, Essays und einen Roman), während die Gedichte Reflexe meiner persönlichen Gefühle, meine persönlichen Erlebnisse waren. Trotzdem war der Krieg, der Kampf gegen die Unterdrückung auch in der Lyrik präsent, aber als reflexive Meditation über die individuellen Folgen: Ich schrieb über den Tod auf dem Schlachtfeld, über getrennte Paare, usw.

In den 60er und 70er Jahren lebte Thi weiterhin in Hanoi. Er schrieb in der Zeit nicht viele Gedichte. Der schmale Band aus dieser Zeit Dong Song trong xanh (Der tiefblaue Fluß) kreist um Themen wie: der Kampf im Süden, die sozialen Veränderungen im Norden, der Generationenwechsel, eine neue Art zu leben nach dem Krieg.

1974 ging Thi in den Süden, um dort mit der Befreiungsbewegung zu arbeiten. Nach dem Sieg kehrte er nach Hanoi zurück, schrieb Theaterstücke und Gedichte, um Bilanz zu ziehen über das, was er bisher geschrieben hatte. Eine schwere Krankheit zwang ihn, daran zu denken, daß vielleicht nicht mehr viel Zeit bleiben würde.

In dieser Zeit entstand auch der Roman über die Luftwaffe Mat tran tren cao (Himmelsfront), erschienen 1967, ein Werk, das seinen internationalen Ruhm begründete und in viele Sprachen übersetzt worden ist.

Und er schrieb nun auch für das Theater, wobei er wieder auf Kritik und Schwierigkeiten stieß. Die Stücke wurden entweder gleich oder kurz nach der Uraufführung verboten. Das erste ging auf einen italienischen Stoff zurück, den er bei einer Marionetten-Aufführung kennengelernt hatte. Con Nai Den (Der schwarze Hirsch), 1961, war letztlich die Darstellung des Kampfes zwischen der Wahrheit und der Lüge am Beispiel der Agrarreform der 50er Jahre. Das Stück zeigte, wie auch in unserem Land sich oft die Lüge als Wahrheit verkleidet.

Das nächste Stück war Nguyen Trai o Long Quan (Nguyen Trai in Long Quan). Ich schrieb es zum 500. Geburtstag von Nguyen Trai1. Thematisiert wird der Weg eines Intellektuellen, inspiriert von Brechts Galilei von und einem chinesisches Stück. Welches ist die Rolle des Intellektuellen in Vietnam im Vergleich zu entsprechenden Figuren in Europa oder China.

Beide Stücke sind sofort verboten worden. Ich denke, der Grund dafür lag darin, daß das Schicksal des Intellektuellen in Vietnam sehr eng verbunden ist mit dem Schicksal, dem Überleben der Nation. Beide sind stets bedroht gewesen. Es ist nicht wie in anderen Ländern, wo der Intellektuelle sich mit allem möglichem beschäftigen kann. Hier ist immer Leben und Tod der Nation das Thema. Deshalb darf der Intellektuelle in Vietnam nicht dogmatisch sein, er muß sich immer mit dem Kampf und dem Überleben der Nation beschäftigen. Das ist seine Bestimmung. Zum Beispiel Nguyen Trai. Er ist Konfuzianer. Die erste Pflicht eines konfuzianischen Gelehrten ist die Treue zum König. Er entstammte selbst einer adligen Familie, der Dynastie der Trai. Aber als er sah, daß die Tran-Dynastie unfähig war, die Chinesen zu vertreiben, wurde er seiner Klasse untreu und hat Le Loi unterstützt, der nur ein Bauernführer war. Denn er sah, daß nur dieser das Land retten könnte. Nach der Lehre des Konfuzius war dies Verrat.

Außerdem ist Nguyen Trai eine wichtige Figur der vietnamesischen Literatur, er schrieb in der Nationalsprache. Nach dem Sieg hat der Nachfolger von Le Loi ihn hinrichten lassen. Nguyen Trai ist als Figur die Inkarnation des vietnamesischen Intellektuellen, vor allem auch wegen seines Antidogmatismus. Den Zensoren gefiel der Kampf gegen den Dogmatismus nicht. Es gibt da im Stück die Figur dieses kleinen Mädchens, eine stumme fahrende Tänzerin, die ihre Gedanken mit ihrem Tanz ausdrückt und die Nguyen Trai adoptiert hat. Man sagt, das sei eine sehr starke Figur, die sehen, verstehen kann, aber nicht sprechen.

Inzwischen ist das Stück etwa ein Dutzend mal inszeniert worden. Die Premiere 1980 war ein wichtiges kulturelles Ereignis in Hanoi. Das große Theater war überfüllt, so daß viele Zuschauer in den Gängen stehen mußten. Es wurde aber dann doch wieder abgesetzt, weil es zu viele Diskussionen hervorrief. Dabei ist zu bedenken, daß die Stücke von Nguyen Dinh Thi nicht leicht zu inszenieren sind. Regisseure haben Schwierigkeiten mit der schönen, gehobenen Sprache und den Notwendigkeiten, auf der Bühne spannende Handlungen zu inszenieren. Die Stücke verlangen vom Zuschauer höchste Konzentration und viel Vorwissen.

In der Lyrik dieser Zeit verschwindet das Thema Krieg. Ins Blickfeld treten die normalen, und doch grundlegenden Probleme der Gegenwart. Das Leben geht weiter, Sand und Staub. Nach der Unruhe jetzt langsam Zeichen der Reife. Und mit ihr die Sérénité. Sie setzt er gegen die aktuellen Probleme und existentiellen Verunsicherungen der Zeit: Zusammenbruch des Sozialismus, die Einführung einer Marktwirtschaft, die Öffnung zum Westen und seiner Kultur. Er ist überzeugt, daß in Vietnam letztlich die tiefen Ansprüche der Menschen auf ein menschlicheres, besseres Leben, auf Gerechtigkeit und Freiheit, nicht zerstört werden können.

Zum Beispiel das Problem der Kunst in einer Marktgesellschaft: Ich habe diese Probleme in einem Stück behandelt, einem Stück in Versen, Giac Mo (Der Traum), 1983, geschrieben, das auf einem anderen Stück aus dem Jahre 1971 beruht. Ein Soldat kehrt aus dem Krieg zurück und sieht sich mit dem Händler konfrontiert. Der singt das Lied vom Kaufen, vom Handeln. Der Händler sagt: „Mein Metier ist so alt wie die Welt. Den Austausch hat es immer gegeben und wird es immer geben. Zwei Menschen treten einander gegenüber und tauschen etwas aus. Jetzt kann alles ausgetauscht werden, alles hat einen Preis. Sogar ein Mensch oder ein Menschenleben. Und das Geld läßt all dies zirkulieren.“ – Der Händler hat ein kleines Rechengerät bei sich. Der Soldat sagt: „Ihr Lied ist mir nicht unbekannt. Ich habe es Leute singen hören, die in der Agonie lagen, es ist das Lied des Todes. Der Unterschied ist, daß Sie eine Rechenmaschine haben und ich nur einen Glauben. Es gibt Dinge, die keinen Preis haben, die nicht kalkuliert werden können. Zum Beispiel der Bambus, den ich gepflanzt habe, er ist für mich nicht nur ein Bambus, er ist für mich außerdem noch dies und jenes“ etc.

Thi ist davon überzeugt, daß die gegenwärtigen Einflüsse von außen mit ihren negativen Elementen die traditionellen Werte und tiefen Überzeugungen der Vietnamesen nicht zerstören können. Es gibt viel Besorgnis. Aber wenn man sich im Volk umhört, so haben sie ihre moralischen und geistigen Werte bewahrt. In den ersten Jahren der „Erneuerung“ gab es auch in Vietnam eine Entwicklung in Richtung einer allgemeinen Verbreitung des Konsumwesens, der Ellbogengesellschaft und der ungerechten Verteilung der Güter. Diese neue Weltkultur sei vor allem über das Fernsehen vermittelt worden. Aber er glaubt auch zu entdecken, daß die Vietnamesen ihr gegenüber schon wieder bis zu einem gewissen Grad immun geworden sind. Zum Beispiel, was die Lieder angeht. Vor einiger Zeit gab es nur leichte Musik in den 80er Jahren nur ausländische und amerikanische Lieder, heute sind es vietnamesische. Die Basis kommt wieder zutage. Der langfristigen Heiterkeit, die Nguyen Dinh Thi für sich als Teil seiner philosophischen Gelassenheit in Anspruch nimmt, könnte hier entgegnet werden, daß die populäre Liedkultur in Vietnam zwar die vietnamesische Sprache für ihre Texte benutzt, aber ganz und gar die westliche Machart und Seichtigkeit übernimmt, ein Vorgang der kulturellen Vietnamisierung? Oder ist das nur eine kurzfristige Erscheinung?

Als gutes Zeichen sieht er auch, daß mehr Gedichtbände gedruckt werden als je zuvor. Hier bei uns gibt es eine poetische Inflation. Jedes Jahr erscheinen etwa hundert Sammlungen von Gedichten. Darunter viele von Amateuren, oft auf eigene Kosten gedruckt und vertrieben. Jeder könne jetzt ja praktisch seine Texte auf eigene Kosten veröffentlichen. Aber es fehle ein wenig an Talenten.

Seine eigene letzte Gedichtsammlung ist 2001 erschienen unter dem Titel Song Reo (Das Plätschern der Wellen). Der Titel entstammt einem 1997 geschriebenen Gedicht Regnerische Nacht:

    Regennacht auf regungslosen Bäumen
    Die Straße brummelt weiter ihr Licht blendet
    Das Regenwasser überschwemmt die Augenlider
    Ich dreh mich um mein Haupthaar ist schon weiß
    Das Leben läuft wie ein Schatten an mir vorbei. Lachen Tränen
    Steigen in rollenden Wogen auf ins Unendliche
    Träumer, er schaut auf seine Hände
    Regennaß der Zweig der veilchenblauen Orchidee.
    2

Befragt nach seiner Meinung über die gegenwärtige vietnamesische Literatur, antwortet er spontan: Irrtümer, mißlungene Versuche, Leute guten Willens und böse Menschen, aber es gibt eine Tendenz zu einem tieferen und auch volkstümlicheren Realismus. Sie könne vielleicht (toutes proportions gardées) verglichen werden mit Rabelais. Die frühere Einheit des Lebensgefühls ist dahin. In diesen Büchern gibt es das Leben mit seinen Fleischesfreuden neben dem geistigen Leben. Es gibt Romane, die den Krieg tiefer reflektieren, zum Beispiel: Un jour et une vie von Le Van Thao. Eine Befreiungskämpferin in Saigon, die einen Angriff organisiert. Das Leben einer Frau ohne Idealisierung. Ein wahres Bild der Kämpferin. Und dann auch eine Tendenz von Büchern über das moderne Leben, wie etwa der Roman meines Sohnes Nguyen Dinh Chinh: Ky Uc (Aber so viel Vergessen, 1997). Sein Held ist ein wenig schizophren, kann deshalb die Seele der Toten verstehen. Man könnte das nennen: fantastischer Realismus, pikaresker Roman. Eine Reflexion über den Tod mit Figuren aus der Unterwelt unserer Marktgesellschaft. Und trotzdem gibt es Nächstenliebe und Lebenswille. Oder der Roman von Nguyen Khac Truong: Manh dat lam nguoi nhieu ma (Von Menschen, aber auch von Geistern und Hexen, 1990). Ein Bild des Lebens auf dem Lande mit historischen Rückblicken.

In der vergangenen Periode (1930-45) haben wir einen bestimmten Klassizismus gesucht. Jetzt sind wir in der postklassizistischen Periode. In allen Perioden gibt es große, wahre Dichter, aber auch mittelmäßige und opportunistische Schriftsteller. Immer und in jeder Epoche gab es eine Reihe opportunistischer Schriftsteller. Früher waren die opportunistischen Schriftsteller diejenigen, die das Lob der Macht sangen, heute ist es „Mode“, sie zu verunglimpfen. Auch das ist Opportunismus.

Wenn wir früher vietnamesische Gäste – Politiker, Wissenschaftler oder Künstler – hier bei uns empfingen, dann haben wir immer auch, wenn es die Zeit erlaubte, einen Besuch in Trier, dem Geburtsort von Karl Marx, einplanen müssen. Als Nguyen Dinh Thi hier war und mir bei der Fertigstellung der Übersetzungen von Che Lan Vien half, äußerte er nur die Bitte, nach Bonn zu fahren. Ob er dort die Regierung oder das Parlament besuchen wolle, fragte ich etwas erstaunt. Nein, er wollte Beethovens Geburtshaus sehen. Als wir dann dort waren, konnte er kaum Tränen der Rührung unterdrücken und hätte am liebsten an einem Portrait des Komponisten Räucherstäbchen angezündet. Noch am selben Tag schrieb er ein Gedicht. Wir mußten noch einmal ins Museum gehen und es dort deponieren. Er schrieb es in französisch und hat es nicht in spätere Sammlungen aufgenommen, m. W. gibt es auch keine vietnamesische Fassung

    Beethovens Haus
    So bin ich, nach langer, windgeschüttelter Fahrt,
    angekommen in diesem Haus.
    In deinen Zimmern, roh und einfach, Meister
    Sah ich die alltäglichen Züge deines Gesichts
    Und die hölzernen Tasten, die noch den Abdruck deiner Finger tragen.
    Von hier aus flogen die Keime der Liebe, die du für die Ewigkeit ausgesät hast,
    über unerhörte Horizonte.
    Unter den Leuten, die heute von überall hergekommen sind,
    bringt dir das Lachen jener jungen Mädchen
    mit den rosigen Wangen ein wenig Trost,
    an diesem Ort, an dem jeder Wassertropfen erzittert
    Von deinen Leiden und deiner unendlichen Güte.
    3. Oktober 1992

Nicht Mozart oder Bach, sondern Beethoven, der „deutscheste“ der großen Drei war This Bezugspunkt. Es mag die diesem Meister zuzuordnende Mischung aus genialer Größe und großen Leiden (Taubheit am Ende des Lebens) gewesen sein, die ihm des Komponisten Schicksal als dem seinen so nahe erscheinen ließ. Bei Nguyen Dinh Thi kam das konfuzianische Grund-Lebensgefühl hinzu, das ihm zu jener Gelassenheit verhalf, jener Heiterkeit, die sich im Vertrauen auf das Gute im Menschen entfaltet und gewiß keine hervorstechende Eigenschaft des romantischen Deutschen war. Als einen „traurigen Optimisten“ hat er sich selbst bezeichnet.

Anmerkungen
1 Nguyen Trai, 1380-1442, ist der berühmteste Dichter, Gelehrte und Politiker der frühen Neuzeit in Vietnam. Sein Leben spielte sich abwechselnd am Hof der Könige der Tran-, frühen Ly- und späteren Le-Dynastie und, in Zeiten der Verfolgung, auf dem Land und in den Bergen von Con Son ab. Er nahm teil am Widerstand gegen die chinesischen Ming-Herrscher, die 1407 Vietnam erobert hatten, aber nicht mit den Tran, sondern auf der Seite des Volkswiderstands unter Le Loi. Schließlich wird er mit seiner gesamten Familie wegen einer Hofintrige hingerichtet. Er hinterließ ein sehr umfangreiches literarisches Werk, das erst in den Jahrhunderten nach seinem Tod erschlossen und herausgegeben wurde. Das neueste Resultat dieser schwierigen Restauration ist der Band Uc Trai Thi Tap (Sammlung der nachgelassenen Schriften von Trai), 3-sprachig, Hanoi 2000.
2 Deutsch von Günter Giesenfeld
3 überstzt etwa: ungeachtet der nicht vergleichbaren historischen Verhältnisse

Das Interview wurde in Hanoi am 10. September 1999
auf Französisch geführt und ist bislang unveröffentlicht.
Übersetzung Günter Giesenfeld.

Dieser Artikel wurde später stark erweitert und erschien als Vorwort zu dem Gedichtband von Nguyen Dinh Thi

veröffentlcht im Vietnam Kurier 2/2003

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