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„Trotzdem sind wir Optimisten“
Interview mit dem General Vo Nguyen Giap
Günter Giesenfeld |
Er ist 94 Jahre alt. Sein Auftritt ist unspektakulär, er trägt eine Art
Ziviluniform, seine Frau begleitet ihn. Er ist freundlich und zuvorkommend,
redet schnell, engagiert und konzentriert in der für ihn trotz allem fremden
(französischen) Sprache. Nicht alles, was er sagt, ist sensationell neu, vieles hat er
mündlich und schriftlich schon formuliert, in diesem Jubiläumsjahr 50 Jahre
Dien Bien Phu, in dem er ganz im Mittelpunkt des Interesses steht. Dabei ist
endlich helles Licht auf die unter Experten bis heute diskutierte Frage
gefallen, ob Ho Chi Minh tatsächlich damals, als er ihn berief, alle Berater
aus der Sowjetunion und China vor den Kopf gestoßen hat. Er hat, wie auch das folgende
Gespräch zwischen den Zeilen erkennen lässt.
Frage: Warum hat Ho Chi Minh damals Sie, einen
Wissenschaftler, zum Oberbefehlshaber der neu zu gründenden „Befreiungsarmee“
gemacht, wo es doch viele professionelle, in der Sowjetunion oder China
ausgebildete Militärs gab?
Vo Nguyen Giap: Das war im Dezember 1944. Wir
bereiteten den allgemeinen Aufstand vor. Vor der Augustrevolution1 lebten wir nämlich im Dschungel, in Cao Bang im Norden. Da gab es ein Treffen,
um die allgemeine Situation zu erörtern. Überall war die Bevölkerung zum
Aufstand übergegangen, und wir mußten darauf reagieren. Bei dem Treffen war
Präsident Ho Chi Minh dabei, ebenfalls zwei oder drei Genossen, die eine
professionelle militärische Ausbildung genossen hatten, etwa in China. Und ich,
der ich in der Region sowieso ständig arbeitete. Ich war mit der Propaganda
unter den Massen beschäftigt. Ich habe mit den ethnischen Minderheiten
gearbeitet, die nicht vietnamesisch sprachen. Deshalb hatte ich drei
Minderheitensprachen gelernt. Ich habe für den Vietminh2 geworben und eine Organisation in der Gegend aufgebaut. Vor allem habe ich die
Arbeit der „Selbstverteidigungsgruppen" koordiniert und ausgebildet, die überall
regional und lokal entstanden waren.
Bei dem Treffen war ich sehr erstaunt, als der Präsident plötzlich sagte: „Die
Phase des rein politischen Kampfes ist vorbei. Aber die Situation hat sich noch
nicht so weit entwickelt, daß ein bewaffneter Aufstand möglich wäre. Wir
brauchen eine Übergangs-Arbeitsform. Sicher, langfristig werden wir eine
Befreiungsarmee haben, aber wir beginnen mit dem Aufbau einzelner Sektionen, die
auch noch Propagandafunktionen ausüben. Der Beginn der Befreiungsarmee wird also
eine Propagandaeinheit sein.“
Alle waren einverstanden, dann fuhr der Präsident fort: „Genosse Van3,
können Sie diese Aufgabe übernehmen?“ Da war ich natürlich überrascht, aber auch
schon ein wenig begeistert, während Ho Chi Minh fortfuhr: „Und können Sie mir
garantieren, daß der Feind uns niemals vernichten können wird?“ – „Ja, das kann
ich“. Er beauftragte mich, in der Bevölkerung 34 Kämpfer auszuwählen, und zwar
unter den Selbstverteidigungseinheiten, und am nächsten Tag formierten wir so
die erste Propagandaeinheit der Befreiungsarmee.
Haben Sie jemals erfahren, warum der Präsident gerade Sie für diese
Aufgabe ausgewählt hat?
Das müssen Sie den Präsidenten fragen (lacht).
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Ich war selber überrascht. Vielleicht hat es eine Rolle gespielt, daß ich den
Präsidenten seit vier Jahren gut kannte, ich habe ihn 1940 getroffen und seither
immer eng mit ihm zusammengearbeitet. Und zwar bei der Agitation in der
Bevölkerung. Er hatte mir einmal gesagt: „Um die richtigen Kader zu finden, muß
man die Geschichte des jeweiligen Kampfes studieren. Und zwar sowohl die
Erfolge, als auch die Niederlagen.“ Ich kam aus dem politischen Kampf, oder dem
politisch-militärischen Kampf. Vielleicht hatte er das alles vor Augen.
Und ich war noch erstaunter, als er am Ende beim Händeschütteln und Abschied
zu mir sagte: „Der erste Kampf muß ein Sieg sein! Das ist nur möglich, wenn man
sich auf das Volk verläßt. Mit dem Volk zu handeln, bedeutet siegen.“ Ich kann
mich vor allem an den letzten Satz noch sehr genau erinnern.
In den ersten Woche griffen wir einzelne Posten an, blitzartig, mancher
Überfall dauerte nur fünf Minuten, und jedesmal hatten wir Erfolg. Wir griffen
sogar am hellichten Tage an, wenn niemand es erwartete.
Übrigens: Die Frage, die Sie mir da stellen, haben auch andere Freunde schon
aufgeworfen. Und immer habe ich geantwortet, daß sie dies den Präsidenten Ho Chi
Minh fragen sollten. Dies, um zu sagen, daß ich die Antwort nicht exakt weiß,
weil ich selbst erstaunt war. Ein Grund könnte auch gewesen sein, daß ich seit
meiner Kindheit im Widerstand gearbeitet hatte, oder daß ich Journalist war,
oder daß ich einige Fremdsprachen konnte...
Sie sprechen in Ihren Memoiren von der „schwierigsten Entscheidung in
Ihrer Funktion als Befehlshaber“ (Damit ist gemeint, daß Dien Bien Phu nicht, wie vorgesehen, sofort angegriffen wurde und man sich stattdessen auf den erfolgversprechenderen Angriff nach sorgfältiger Vorbereitung entschloß. Red.). Gab es eine solche wichtige Entscheidung auch
im Krieg gegen die US-amerikanische Invasion?
Wir haben die Schlacht von Dien Bien Phu am 7. Mai (1954. Red.) gewonnen. Am
selben Abend schickte ich dem Präsidenten ein Telegramm. Am 8. Mai erhielt ich
von ihm eine Antwort, ein Glückwunschtelegramm. In diesem Telegramm stand
folgender Satz: „Der Sieg ist groß, aber es ist nur der Anfang.“ Eine Woche
später war ich im Hauptquartier des Präsidenten. Das war immer noch im
Dschungel, ich brauchte zu Pferd eine Woche, um da hinzukommen. Ich ging nicht
nach Hause, sondern zuerst zum Präsidenten. Er kam vor sein Zelt, um mich zu
begrüßen, ich saß immer noch im Sattel. Er drückte mir die Hand, er umarmte mich
und sagte: „Ich wünschte mir, daß dies schon der Sieg sei. Aber wir müssen wohl
noch gegen die Amerikaner kämpfen."
Was war der Unterschied in diesem neuen Kampf gegenüber dem, der mit dem Sieg
von Dien Bien Phu geendet hatte? In Dien Bien Phu hatte es zunächst geheißen:
‚Schneller Angriff, schneller Sieg', und dann: ‚Angriff nur, wenn Erfolg sicher,
und Sieg später’4 (das waren dann 55 Tage), so war dies bei der letzten Schlacht gegen die
Amerikaner 1875 anders. Unser Plan sah vor, daß dieser Kampf zwei Jahre dauern
würde.
Das Hauptkontingent der feindlichen Truppen5 war in Tourane (Da Nang, Red.) konzentriert. Sie hatten den Befehl, bis zum
letzten Mann auszuhalten. Ich glaubte nicht, daß sie das tun würden, ich sagte:
„Sie werden sich zurückziehen“. Ich ließ alle Divisionen zusammenführen und gab
den Befehl, in drei Tagen anzugreifen. Es war sehr schwierig, unter dem
Artilleriefeuer bis dorthin zu gelangen, aber als wir schließlich ankamen, war
die Mehrzahl der Soldaten weg, sie hatten den Rückzug gewählt.
Das war eine neue Situation, die unseren Plan, in zwei Jahren die Befreiung
zu vollenden, in Frage stellte. Ich sagte: „Nein. Der Feind hat ja schon jetzt
keinen Kampfgeist mehr, es gibt sogar Zeichen dafür, daß sich die Truppen in
Auflösung befinden. Jetzt müssen wir also schnell angreifen." Ich gab also die
Parole heraus: „Mut, Mut, Schnelligkeit, Vorrücken in den Süden Minute für
Minute, um unser Land zu befreien.“ Das war der Wortlaut meines Telegramms.
Da gab es aber noch ein anderes Problem, das wir später „Dien Bien Phu am
Himmel“ nannten. Der Präsident sagte: „Die modernste Waffe der Amerikaner, das
sind die B 52. Und wir müssen diese B 52 am Himmel von Hanoi schlagen“. Das hieß
auch hier, durch überraschende Angriffe Verwirrung zu stiften, damit sie sich
zurückziehen. Ich gab den Befehl, untersuchen zu lassen, wie man sie abschießen
könnte. Die B 52 galten als unbesiegbar, denn sie flogen so hoch, daß sie von
keiner Luftabwehr erreicht werden konnten. Die Mittel, die wir schließlich
anwendeten, waren: Radar, weil man sie ja nicht sehen konnte, und die
SAM-Raketen. Ich begab mich zu der Zeit in die Zentrale der Luftabwehr, wo daran
gearbeitet wurde. Wir benutzten die SAM 2 Raketen. Es gab zwar schon das
Nachfolgemodell SAM 3, aber von diesen Raketen war noch keine bei uns
angekommen, sie lagen noch an der Grenze. Unsere sowjetischen Freunde sagten:
„Unsere vietnamesischen Freunde sind die besten Raketentechniker, die die SAM 2
je benutzt haben.“ In der Tat, es war sehr schwierig, auch mit diesen modernen
Raketen, die B 52 zu treffen. Aber es gelang uns. Dies war entscheidend, nicht
so sehr die schnellen Erfolge im Süden. Wenn wir die B 52 nicht ausgeschaltet
hätten (wir haben über Hanoi 34 Stück von ihnen abgeschossen, etwa 10 % des
gesamten Flotte), wäre der Sieg unmöglich gewesen.
Wir haben gesiegt, weil unser Volk eine tausendjährige Geschichte und eine
tausendjährige Kultur des Patriotismus hat. Wir haben in dieser Geschichte 17
Invasionen zurückgeschlagen, einschließlich derjenigen japanischer und
chinesischer Truppen. Kublai Khan und die Mongolen haben drei mal Hanoi erobert.
Unser Volk hat immer gesagt: „Besser sterben als in Sklaverei leben. Man muß
Herr im eigenen Land sein.“
Im Zusammenhang mit gegenwärtigen Ereignissen (Kriege in Afghanistan und
Irak) wird immer wieder der Vergleich mit dem Vietnamkrieg gezogen. Wie sehen
Sie von heute aus die historische Bedeutung des Vietnamkriegs?
Es ist sehr schwierig, Voraussagen zu machen. Als die Amerikaner in unser
Land eindrangen, haben uns unsere chinesischen und sowjetischen Freunde geraten:
„Beenden Sie den Kampf und geben Sie sich mit dem Norden zufrieden“. Es hat sich
gezeigt, daß auch Leute wie Deng Xiao Ping oder Mao Zedong keine Voraussagen
machen konnten, deshalb haben sie uns schlechte Ratschläge gegeben. Mir geht es
jetzt genauso, deshalb mache ich lieber keine Voraussagen. Ich habe neulich
einen Satz in ein Buch geschrieben, den ich Ihnen statt einer Antwort zitieren
möchte.
(Giap schreibt den Satz für uns noch einmal auf)
Er heißt: „Dien Bien Phu, das ist die Begegnung, die die Geschichte für alle
diejenigen bereithält, die in unserem Zeitalter Invasionskriege führen.“
Und das wäre dann das Schicksal der USA in Bagdad?
Ich kann keine Voraussagen machen. Aber meine Antwort ist trotzdem klar,
nicht wahr?
Das wichtigste ist, daß der Mensch selbst über sein Schicksal entscheidet.
Aber es muß ein Mensch sein, der Kultur hat. Derjenige, der Kultur hat, wird
gewinnen. Alle Menschen, die auf der Welt leben, streben nach dem Recht zu leben
und dem Recht, sich zu entwickeln. Deshalb sind wir, trotz allem,
Optimisten.
Das Gespräch fand am 19. Juli 2004 im Büro des Generals statt.
Interview und Übersetzung aus dem französischen Original: Günter
Giesenfeld
Anmerkungen:
1 Damit
ist die Gründung der Demokratischen Republik Vietnam 1945 gemeint. (alle
Anmerkungen: Red.)
2 „Liga für die Unabhängigkeit Vietnams“, politisch-militärische
Bündnisorganisation, die den Kampf gegen die Kolonialherrschaft organisierte,
gegründet 1941. Der Vietminh umfaßte neben Kommunisten auch andere
Organisationen und gesellschaftliche Gruppen.
3 Van war Vo Nguyen Giaps Kriegs-Deckname.
4 Als sich abzeichnete, daß die Kolonialmacht in der Festung Den Bien Phu die
Entscheidung suchte, gab es eine Meinungsverschiedenheit im Kommandostab der
Befreiungsarmee. Die meisten wollten sofort angreifen, noch während die
Franzosen die Stellung ausbauten. Giap war dagegen, er sah mehr Erfolg in einer
sorgfältig vorbereiteten Schlacht, die lange dauern konnte, aber sicherer war.
Er setzte sich, auch gegen den Rat der sowjetischen und chinesischen Berater,
durch. Die bereits weit gediehenen Vorbereitungen für deren Plan wurden
abgebrochen.
5 Truppen des südvietnamesischen Thieu-Regimes. Die US-Army hatte 1973 das
Land verlassen.
Veröffentlicht im Vietnam Kurier 2/2004