ld „Trotzdem sind wir Optimisten“

Interview mit dem General Vo Nguyen Giap

Günter Giesenfeld

Frage: Warum hat Ho Chi Minh damals Sie, einen Wissenschaftler, zum Oberbefehlshaber der neu zu gründenden „Befreiungsarmee“ gemacht, wo es doch viele professionelle, in der Sowjetunion oder China ausgebildete Militärs gab?

Vo Nguyen Giap: Das war im Dezember 1944. Wir bereiteten den allgemeinen Aufstand vor. Vor der Augustrevolution1 lebten wir nämlich im Dschungel, in Cao Bang im Norden. Da gab es ein Treffen, um die allgemeine Situation zu erörtern. Überall war die Bevölkerung zum Aufstand übergegangen, und wir mußten darauf reagieren. Bei dem Treffen war Präsident Ho Chi Minh dabei, ebenfalls zwei oder drei Genossen, die eine professionelle militärische Ausbildung genossen hatten, etwa in China. Und ich, der ich in der Region sowieso ständig arbeitete. Ich war mit der Propaganda unter den Massen beschäftigt. Ich habe mit den ethnischen Minderheiten gearbeitet, die nicht vietnamesisch sprachen. Deshalb hatte ich drei Minderheitensprachen gelernt. Ich habe für den Vietminh2 geworben und eine Organisation in der Gegend aufgebaut. Vor allem habe ich die Arbeit der „Selbstverteidigungsgruppen" koordiniert und ausgebildet, die überall regional und lokal entstanden waren.

Bei dem Treffen war ich sehr erstaunt, als der Präsident plötzlich sagte: „Die Phase des rein politischen Kampfes ist vorbei. Aber die Situation hat sich noch nicht so weit entwickelt, daß ein bewaffneter Aufstand möglich wäre. Wir brauchen eine Übergangs-Arbeitsform. Sicher, langfristig werden wir eine Befreiungsarmee haben, aber wir beginnen mit dem Aufbau einzelner Sektionen, die auch noch Propagandafunktionen ausüben. Der Beginn der Befreiungsarmee wird also eine Propagandaeinheit sein.“

Alle waren einverstanden, dann fuhr der Präsident fort: „Genosse Van3, können Sie diese Aufgabe übernehmen?“ Da war ich natürlich überrascht, aber auch schon ein wenig begeistert, während Ho Chi Minh fortfuhr: „Und können Sie mir garantieren, daß der Feind uns niemals vernichten können wird?“ – „Ja, das kann ich“. Er beauftragte mich, in der Bevölkerung 34 Kämpfer auszuwählen, und zwar unter den Selbstverteidigungseinheiten, und am nächsten Tag formierten wir so die erste Propagandaeinheit der Befreiungsarmee.

Haben Sie jemals erfahren, warum der Präsident gerade Sie für diese Aufgabe ausgewählt hat?

Das müssen Sie den Präsidenten fragen (lacht).

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Ich war selber überrascht. Vielleicht hat es eine Rolle gespielt, daß ich den Präsidenten seit vier Jahren gut kannte, ich habe ihn 1940 getroffen und seither immer eng mit ihm zusammengearbeitet. Und zwar bei der Agitation in der Bevölkerung. Er hatte mir einmal gesagt: „Um die richtigen Kader zu finden, muß man die Geschichte des jeweiligen Kampfes studieren. Und zwar sowohl die Erfolge, als auch die Niederlagen.“ Ich kam aus dem politischen Kampf, oder dem politisch-militärischen Kampf. Vielleicht hatte er das alles vor Augen.

Und ich war noch erstaunter, als er am Ende beim Händeschütteln und Abschied zu mir sagte: „Der erste Kampf muß ein Sieg sein! Das ist nur möglich, wenn man sich auf das Volk verläßt. Mit dem Volk zu handeln, bedeutet siegen.“ Ich kann mich vor allem an den letzten Satz noch sehr genau erinnern.

In den ersten Woche griffen wir einzelne Posten an, blitzartig, mancher Überfall dauerte nur fünf Minuten, und jedesmal hatten wir Erfolg. Wir griffen sogar am hellichten Tage an, wenn niemand es erwartete.

Übrigens: Die Frage, die Sie mir da stellen, haben auch andere Freunde schon aufgeworfen. Und immer habe ich geantwortet, daß sie dies den Präsidenten Ho Chi Minh fragen sollten. Dies, um zu sagen, daß ich die Antwort nicht exakt weiß, weil ich selbst erstaunt war. Ein Grund könnte auch gewesen sein, daß ich seit meiner Kindheit im Widerstand gearbeitet hatte, oder daß ich Journalist war, oder daß ich einige Fremdsprachen konnte...

Sie sprechen in Ihren Memoiren von der „schwierigsten Entscheidung in Ihrer Funktion als Befehlshaber“ (Damit ist gemeint, daß Dien Bien Phu nicht, wie vorgesehen, sofort angegriffen wurde und man sich stattdessen auf den erfolgversprechenderen Angriff nach sorgfältiger Vorbereitung entschloß. Red.). Gab es eine solche wichtige Entscheidung auch im Krieg gegen die US-amerikanische Invasion?

Wir haben die Schlacht von Dien Bien Phu am 7. Mai (1954. Red.) gewonnen. Am selben Abend schickte ich dem Präsidenten ein Telegramm. Am 8. Mai erhielt ich von ihm eine Antwort, ein Glückwunschtelegramm. In diesem Telegramm stand folgender Satz: „Der Sieg ist groß, aber es ist nur der Anfang.“ Eine Woche später war ich im Hauptquartier des Präsidenten. Das war immer noch im Dschungel, ich brauchte zu Pferd eine Woche, um da hinzukommen. Ich ging nicht nach Hause, sondern zuerst zum Präsidenten. Er kam vor sein Zelt, um mich zu begrüßen, ich saß immer noch im Sattel. Er drückte mir die Hand, er umarmte mich und sagte: „Ich wünschte mir, daß dies schon der Sieg sei. Aber wir müssen wohl noch gegen die Amerikaner kämpfen."

Was war der Unterschied in diesem neuen Kampf gegenüber dem, der mit dem Sieg von Dien Bien Phu geendet hatte? In Dien Bien Phu hatte es zunächst geheißen: ‚Schneller Angriff, schneller Sieg', und dann: ‚Angriff nur, wenn Erfolg sicher, und Sieg später’4 (das waren dann 55 Tage), so war dies bei der letzten Schlacht gegen die Amerikaner 1875 anders. Unser Plan sah vor, daß dieser Kampf zwei Jahre dauern würde.

Das Hauptkontingent der feindlichen Truppen5 war in Tourane (Da Nang, Red.) konzentriert. Sie hatten den Befehl, bis zum letzten Mann auszuhalten. Ich glaubte nicht, daß sie das tun würden, ich sagte: „Sie werden sich zurückziehen“. Ich ließ alle Divisionen zusammenführen und gab den Befehl, in drei Tagen anzugreifen. Es war sehr schwierig, unter dem Artilleriefeuer bis dorthin zu gelangen, aber als wir schließlich ankamen, war die Mehrzahl der Soldaten weg, sie hatten den Rückzug gewählt.

Das war eine neue Situation, die unseren Plan, in zwei Jahren die Befreiung zu vollenden, in Frage stellte. Ich sagte: „Nein. Der Feind hat ja schon jetzt keinen Kampfgeist mehr, es gibt sogar Zeichen dafür, daß sich die Truppen in Auflösung befinden. Jetzt müssen wir also schnell angreifen." Ich gab also die Parole heraus: „Mut, Mut, Schnelligkeit, Vorrücken in den Süden Minute für Minute, um unser Land zu befreien.“ Das war der Wortlaut meines Telegramms.

Da gab es aber noch ein anderes Problem, das wir später „Dien Bien Phu am Himmel“ nannten. Der Präsident sagte: „Die modernste Waffe der Amerikaner, das sind die B 52. Und wir müssen diese B 52 am Himmel von Hanoi schlagen“. Das hieß auch hier, durch überraschende Angriffe Verwirrung zu stiften, damit sie sich zurückziehen. Ich gab den Befehl, untersuchen zu lassen, wie man sie abschießen könnte. Die B 52 galten als unbesiegbar, denn sie flogen so hoch, daß sie von keiner Luftabwehr erreicht werden konnten. Die Mittel, die wir schließlich anwendeten, waren: Radar, weil man sie ja nicht sehen konnte, und die SAM-Raketen. Ich begab mich zu der Zeit in die Zentrale der Luftabwehr, wo daran gearbeitet wurde. Wir benutzten die SAM 2 Raketen. Es gab zwar schon das Nachfolgemodell SAM 3, aber von diesen Raketen war noch keine bei uns angekommen, sie lagen noch an der Grenze. Unsere sowjetischen Freunde sagten: „Unsere vietnamesischen Freunde sind die besten Raketentechniker, die die SAM 2 je benutzt haben.“ In der Tat, es war sehr schwierig, auch mit diesen modernen Raketen, die B 52 zu treffen. Aber es gelang uns. Dies war entscheidend, nicht so sehr die schnellen Erfolge im Süden. Wenn wir die B 52 nicht ausgeschaltet hätten (wir haben über Hanoi 34 Stück von ihnen abgeschossen, etwa 10 % des gesamten Flotte), wäre der Sieg unmöglich gewesen.

Wir haben gesiegt, weil unser Volk eine tausendjährige Geschichte und eine tausendjährige Kultur des Patriotismus hat. Wir haben in dieser Geschichte 17 Invasionen zurückgeschlagen, einschließlich derjenigen japanischer und chinesischer Truppen. Kublai Khan und die Mongolen haben drei mal Hanoi erobert. Unser Volk hat immer gesagt: „Besser sterben als in Sklaverei leben. Man muß Herr im eigenen Land sein.“

Im Zusammenhang mit gegenwärtigen Ereignissen (Kriege in Afghanistan und Irak) wird immer wieder der Vergleich mit dem Vietnamkrieg gezogen. Wie sehen Sie von heute aus die historische Bedeutung des Vietnamkriegs?

Es ist sehr schwierig, Voraussagen zu machen. Als die Amerikaner in unser Land eindrangen, haben uns unsere chinesischen und sowjetischen Freunde geraten: „Beenden Sie den Kampf und geben Sie sich mit dem Norden zufrieden“. Es hat sich gezeigt, daß auch Leute wie Deng Xiao Ping oder Mao Zedong keine Voraussagen machen konnten, deshalb haben sie uns schlechte Ratschläge gegeben. Mir geht es jetzt genauso, deshalb mache ich lieber keine Voraussagen. Ich habe neulich einen Satz in ein Buch geschrieben, den ich Ihnen statt einer Antwort zitieren möchte.

(Giap schreibt den Satz für uns noch einmal auf)

Er heißt: „Dien Bien Phu, das ist die Begegnung, die die Geschichte für alle diejenigen bereithält, die in unserem Zeitalter Invasionskriege führen.“

Und das wäre dann das Schicksal der USA in Bagdad?

Ich kann keine Voraussagen machen. Aber meine Antwort ist trotzdem klar, nicht wahr?

Das wichtigste ist, daß der Mensch selbst über sein Schicksal entscheidet. Aber es muß ein Mensch sein, der Kultur hat. Derjenige, der Kultur hat, wird gewinnen. Alle Menschen, die auf der Welt leben, streben nach dem Recht zu leben und dem Recht, sich zu entwickeln. Deshalb sind wir, trotz allem, Optimisten.

Das Gespräch fand am 19. Juli 2004 im Büro des Generals statt.
Interview und Übersetzung aus dem französischen Original: Günter Giesenfeld
Anmerkungen:
1 Damit ist die Gründung der Demokratischen Republik Vietnam 1945 gemeint. (alle Anmerkungen: Red.)
2 „Liga für die Unabhängigkeit Vietnams“, politisch-militärische Bündnisorganisation, die den Kampf gegen die Kolonialherrschaft organisierte, gegründet 1941. Der Vietminh umfaßte neben Kommunisten auch andere Organisationen und gesellschaftliche Gruppen.
3 Van war Vo Nguyen Giaps Kriegs-Deckname.
4 Als sich abzeichnete, daß die Kolonialmacht in der Festung Den Bien Phu die Entscheidung suchte, gab es eine Meinungsverschiedenheit im Kommandostab der Befreiungsarmee. Die meisten wollten sofort angreifen, noch während die Franzosen die Stellung ausbauten. Giap war dagegen, er sah mehr Erfolg in einer sorgfältig vorbereiteten Schlacht, die lange dauern konnte, aber sicherer war. Er setzte sich, auch gegen den Rat der sowjetischen und chinesischen Berater, durch. Die bereits weit gediehenen Vorbereitungen für deren Plan wurden abgebrochen.
5 Truppen des südvietnamesischen Thieu-Regi­mes. Die US-Army hatte 1973 das Land verlassen.

Veröffentlicht im Vietnam Kurier 2/2004

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