Politischer Durchbruch mit Risiken und Nebenwirkungen

Nach zehn Jahren Verhandlungen endlich unterzeichnet: das Handelsabkommen mit den USA

Günter Giesenfeld

Bis zum 27. November 2001 war Vietnam eines von nur sechs Ländern – außer Vietnam noch Afghanistan, Kuba, Laos, Nordkorea und Jugoslawien (Serbien und Montenegro) –, mit denen die USA keine "normalen Handelsbeziehungen" unterhielten. An diesem Tag ratifizierte die vietnamesische Nationalversammlung das "Bilaterale Handelsabkommen zwischen Vietnam und den USA". Ein schwieriger Prozeß der Annäherung war zu Ende gegangen und eine unsichere Entwicklung begann...

Die Zustimmung der Abgeordneten entsprach nicht klischeehaften Vorstellungen über die Quasi-Einstimmigkeit von Beschlüssen in einem sozialistischen Land: Nur 64,3 % stimmten dem Gesetz zu, das das Handelsabkommen mit den USA bestätigen sollte. In zwei Tagen Debatte waren viele Stimmen für und gegen den Vertrag zu hören gewesen, und niemand hatte ernsthaft die Illusion, allein aufgrund der epochemachenden Einigung breche jetzt eine Ära der wirtschaftlichen Prosperität aus. Im Gegenteil, angesichts der Unmittelbarkeit der neuen wirtschaftlichen Beziehungen mit den USA (und zugleich mit vielen anderen Ländern auf neuer Basis) waren die vielen vorher schon geäußerten Befürchtungen zur aktuellen Lage geworden: Härtere Konkurrenz auf dem eigenen Markt durch fast ungehindert einfließende Importe, große Probleme, sich mit den einheimischen Produkten auf dem US-Markt zu behaupten...

Bush - Clinton - Bush

Alles fing an mit den langen Verhandlungen über die Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen, die schon unter der Präsidentschaft von George Bush (senior) zu Beginn der 90er Jahre aufgenommen worden waren und im Jahre 1995 zur Aufnahme normaler diplomatischer Beziehungen führten. Ein Jahr zuvor (Februar 1994) hatte Präsident Clinton bereits die Aufhebung des Wirtschaftsboykotts gegen Vietnam verfügt. 1996 begannen die eigentlichen Verhandlungen über ein Handelsabkommen, und 1998 verzichtete Clinton zum ersten Mal auf die Anwendung des sogenannten "Jackson-Vanik-Amendments". Diese Verfassungsergänzung verbietet es dem Präsidenten, normale Wirtschaftsbeziehungen zu sozialistischen oder ehemals sozialistischen Ländern aufzunehmen, wenn sie nicht bestimmten Vorschriften über die Freiheit der Emigration entsprechen. Dieser Verzicht wurde auch für die Jahre 1999, 2000 und 2001 ausgesprochen. Im Prinzip kann der Kongreß diesen jährlichen Verzicht durch eine Mißbilligungsresolution ablehnen. Dies ist auch jedesmal erfolgt, aber diese Resolutionen fanden im Falle Vietnams keine Mehrheit.

Am 13. Juli 2000 unterzeichneten vietnamesische und amerikanische Verhandlungsdelegationen in Hanoi eine pauschale Vereinbarung über die Aufnahme von Handelbeziehungen. Am 8. Juni 2001 unterbreitete Präsident George W. Bush das ausgehandelte und fertiggestellte Handelsabkommen dem Kongreß. Das Repräsentantenhaus verabschiedete das Gesetz durch Handabstimmung mit der Mehrheit der Stimmen, der Senat am 3. Oktober mit 88 gegen 12 Stimmen. In der Debatte äußerte Senator John McCain, Republikaner aus Arizona, der im Krieg ein Jahr in vietnamesischer Gefangenschaft verbracht hat: "Amerika hat sich bewegt, und Vietnam auch. Unsere Pflicht und unsere Interessen verlangen, daß wir es einer nachtragenden Bitterkeit nicht erlauben dürfen, uns die Bedingungen unserer Beziehungen zu anderen Nationen zu diktieren". Solche Statements richteten sich gegen den Versuch, die Abstimmung über das Handelsabkommen mit einer gleichzeitigen Ratifizierung einer vom Repräsentantenhaus schon verabschiedeten Gesetzesvorlage über die Menschenrechte in Vietnam zu verbinden. Aber diese Vorlage war gar nicht erst auf die Tagesordnung gekommen.

Durch seine Unterschrift bestätigte Präsident Bush das Abkommen am 18. Oktober. Damit trat das Abkommen nach der Zustimmung der vietnamesischen Nationalversammlung und der gegenseitigen offiziellen Mitteilung über die erfolgreiche Beendigung des Ratifizierungsprozesses in Kraft.

Das Abkommen wurde von Präsident Bush gewürdigt als große Chance für die amerikanische Industrie durch den Abbau einer Vielzahl von Handelsbarrieren auf dem vietnamesischen Markt. Es fehlte nicht der Hinweis, daß die Bush-Administration "fortgesetzten Druck ausüben wird, Vietnam zu Fortschritten auf dem Gebiet der Menschenrechte und der Religionsfreiheit zu zwingen". Auch die gegenwärtige Selbsteinschätzung der USA in der globalen Welt wird ausgesprochen, wenn es heißt: "An der Morgendämmerung eines neuen Jahrtausends sind die Vereinigten Staaten bereit, die Bürde der Führerschaft über die ganze Welt auf sich zu nehmen. Andere Nationen in den Handel einzubinden ist ein vitales Anliegen dieser Führerschaft und ein Schlüsselelement zur Förderung des Wirtschaftswachstums zu Hause und in der ganzen Welt."

Der Text des 120-seitigen Abkommens umfaßt sieben große Kapitel und 71 Paragraphen. Die wichtigsten Themen sind: Marktöffnung für industrielle und landwirtschaftliche Waren, Schutz des intellektuellen Eigentums, Marktöffnung für Dienstleistungen, Schutz von Investitionen, Erleichterungen bei der Abwicklung von Geschäften, Transparenz und Beschwerdeinstanzen. Das Abkommen enthält detaillierte Listen und Zahlen über bisherige und zukünftige Volumina des Im- und Exports bestimmter Güter. Im Falle Vietnams stehen dabei landwirtschaftliche Erzeugnisse (Meeresfrüchte, Fischprodukte, Kaffee, Tee usw.), Lederwaren und Textilien im Mittelpunkt.

Die zwei Seiten der Medaille

In Vietnam sieht man in dem Abkommen nicht nur einen wichtigen Fortschritt auf dem Wege der Integration Vietnams in die internationalen Handelsbeziehungen, sondern stellte bald fest, daß es nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen funktionieren wird. Schon seit einiger Zeit waren die Vor- und Nachteile eines solchen Abkommens in der Öffentlichkeit breit diskutiert worden. So äußerte sich der Vizedirektor der Import-Export-Abteilung im Handelsministerium, Tran Quoc Khanh:

"Die Ratifizierung des vietnamesisch-amerikanischen Handelsabkommens bedeutet nicht, daß nun alle Exporte in die USA mit Steuervergünstigungen rechnen können. Die zu erwartenden Vorteile bei bestimmten Waren wie Kaffeebohnen, Rohöl oder Pfeffer z. B. liegen nicht in erster Linie in Steuergewinnen sondern in der Erschließung neuer Abnehmer. Bei manchen Waren werden die Steuern von den üblichen 40-50 % auf bis zu 3 % fallen; aber die vietnamesischen Exporte werden auf eine harte Konkurrenz anderer Exportländer stoßen, die ihrerseits überhaupt keine Steuern erheben.

Derzeit haben etwa 4.248 einzelne Warengattungen aus 140 Ländern und Regionen dieses Status, was solchen Ländern wie Thailand, Indonesien, Malaysia oder Pakistan eine erhebliche Verschärfung der Konkurrenz gegenüber Vietnam ermöglicht. Der Export-Umsatz im Kleidungs- und Textilsektor wird wahrscheinlich nicht wesentlich steigen, denn die USA wollen ab 2005 die Quoten für Mitglieder der WTO (Welthandelsorganisation) streichen.

Die Weltbank schätzt die Situation so ein, daß der gegenseitige Handel zwischen den USA und Vietnam "dramatisch zurückgehen wird, wenn das Handelsabkommen in Kraft tritt."

Le Quoc An, der Vorsitzende des Verbandes der Textil- und Kleidungsindustrie, schätzt die Situation für seinen Verband vorsichtig positiv ein: "Weniger konkurrenzfähige Sektoren wie Kommunikation, Luftfahrtgesellschaften, Versicherungen oder Finanzdienstleister werden sicherlich große Schwierigkeiten haben. Bei der Kleider- und Textilindustrie sieht es besser aus, weil die Arbeitskraft hier billiger ist als in den USA.

Aber das bedeutet nicht, daß alle vietnamesischen Textil- und Kleidungsexporte in den USA sofort einen Markt finden werden. Denn dies ist ein sehr wettbewerbsstarker Markt, auf dem vorwiegend free on board (FOB - direkt vom Transportmittel, d. h. Schiff oder LKW) gehandelt wird, während die meisten vietnamesischen Textilien und Kleider aufgrund vertraglicher Aufträge verkauft und nicht immer rechtzeitig geliefert werden.

Der Verband der Textil- und Kleidungsindustrie VINATEX plant die Eröffnung eines Büros in den USA. "Wir wollen auch anderen vietnamesischen Produzenten dabei helfen, ihre Geschäfte mit US-Partnern voranzutreiben, indem wir z. B. Treffen zwischen den Vertretern der US Garment Exporter’s Association und vietnamesischen Exporteuren veranstalten."

Nguyen Van Kich, Direktor der CAFATEX Gesellschaft in der Provinz Can Tho, die mit Meeresfrüchten handelt, rechnet damit, "daß vietnamesische Unternehmen mit besseren Dienstleistungen und Geschäftsabläufen rechnen können in den Sektoren Zahlung, Transport, vereinfachter Import-Export-Bestimmungen und Warenkontrolle", die in diesem Exportzweig, der bislang auf den Absatz auf dem japanischen Markt konzentriert war, offenbar nicht immer gegeben sind.

Ronald Kiel, Direktor der 3M-Gesellschaft und früherer Vorsitzender der US-Handelskammer in Vietnam sieht auch große Chancen, warnt aber: "Amerikanische Verbraucher sind sehr anspruchsvoll: Sie sind nicht nur an Qualität, am Preis und am Design interessiert, sondern auch an der Produktsicherheit."

Um Kunstprodukte und Artikel des Kunsthandwerks auf dem US-Markt umsetzen zu können, denkt Frau Doan Minh Chau, Direktorin der Nhu Y Gesellschaft für schöne Künste an die Einrichtung von Kunstagenturen und Galerien in den USA oder an Kontakte zu dort bereits bestehenden kommerziellen Kunsthändlern, um über die Markttendenzen auf dem Laufenden zu sein.

Diep Thanh Kiet, Generalsekretär der Vereinigung der Leder- und Schuhproduzenten in Ho Chi Minh Stadt sieht "mehr Herausforderungen als Möglichkeiten", denn:

"Unser Hauptproblem ist das Rohmaterial. Einheimische Schuhfabrikanten müssen viele Rohmaterialien importieren, das bedeutet, daß unsere Endpreise ziemlich hoch sind. Um unsere Produktionskosten zu senken, müssen wir damit beginnen, diese Materialien selbst herzustellen. Unser zweites Problem ist, daß wir nicht viel über internationale Märkte wissen. Die meisten Exporte werden bei uns über Unterverträge abgewickelt, so haben wir keine direkten Partner auf Märkten wie in den USA. Wenn unsere Schuherzeugnisse bei der Einführung auf den US-Markt auf sich gestellt sind, dann müssen wir in den USA Niederlassungen eröffnen oder bei entsprechenden Viet Kieu-Organisationen Hilfe suchen. Sie könnten als unsere Agenten die Aufgabe übernehmen, vietnamesische Produkte den Importeuren in des USA bekanntzumachen."

Kiet weist auch auf ein allgemeines Problem hin, das beim ausschließlichen Blick auf den mit so vielen Hoffnungen verknüpften US-Markt leicht aus dem Blickfeld geraten könne: "Bei dem Bemühen, Exportmöglichkeiten zu erschließen, dürfen wir den einheimischen Markt nicht aus den Augen verlieren. Denn das Handelsabkommen wird es ausländischen Unternehmen erleichtern, hier zu investieren, und es kann passieren, daß wir bald auf unserem eigenen Markt einer wesentlich härteren Konkurrenz ausgesetzt sein werden."

Störfeuer

Immer noch gibt es in den USA reaktionäre Kreise, vor allem unter den Exilvietnamesen, für die sowohl die Aufnahme diplomatischer Beziehungen als auch der Abschluß des Handelsabkommens mit Vietnam Vorgänge sind, die ihrer rückwärtsgewandten politischen Sicht zuwiderlaufen. Die radikalsten von ihnen gehen dabei davon aus, daß der Vietnamkrieg noch nicht beendet sei, daß das alte südvietnamesische Regime immer noch legitime Regierung Vietnams sei, wenn sie auch derzeit nur aus dem Exil agieren könne. Der Krieg selbst wird aus der Perspektive der militantesten Kreise der damaligen Administrationen (Nixon, Johnson) betrachtet, woraus man das Recht ableitet, mit illegalen Methoden auf die politische und gesellschaftliche Entwicklung in Vietnam selbst von außen einzuwirken.

Während der Verhandlungen und im Vorfeld der Verabschiedung des Handelsabkommens wurde klar, daß solche Ansichten zwar vielleicht in der Öffentlichkeit noch eine gewisse Unterstützung genießen und in politischen Kreisen vor allem der republikanischen Partei geteilt werden, daß die Regierungspolitik auch eines republikanischen Präsidenten nicht mehr abzuwenden ist, die seit gut einem Jahrzehnt auf eine völlige Normalisierung der Beziehungen zwischen den USA und Vietnam hinausläuft.

Vorbereitet durch die aus den USA zumindest mit verursachten Unruhen in der Bergregion im Februar 2001 haben Anhänger des alten Thieu-Regimes unter den Exilanten in den USA nunmehr einen wohl letzten Versuch unternommen, das Rad der Entwicklung anzuhalten. Durch eine erneute Debatte über "Menschenrechte in Vietnam" sollte die Ratifizierung des Handelsabkommen in letzter Minute verhindert werden oder sollten entsprechende Bedingungen dafür sorgen, daß es faktisch nicht in Kraft treten könnte. Konservative Politiker brachten einen Gesetzesentwurf ins Parlament ein, der zusammen mit dem Handelsabkommen beschlossen werden sollte. Dieser Entwurf trug den Titel "Vietnam Human Rights Act", durch ihn sollten viele Bestimmungen und die Anwendung des Abkommens an rigide, immer wieder neu zu überprüfende Bedingungen geknüpft werden, die seine Anwendung praktisch sabotiert hätten. Im Repräsentantenhaus wurde der Entwurf am 6. September mit großer Mehrheit verabschiedet, aber im entscheidenden Gremium, dem Senat, wurde von der Mehrheit verhindert, daß er auf die Tagesordnung kam und war dadurch gegenstandslos geworden.

Erinnerungen an die dunklen Zeiten des Kriegs

Sehr auffällig jedoch war, daß es auf diesen Beschluß des Repräsentantenhauses eine äußerst heftige Reaktion in Vietnam gab. Zwar hielten sich offizielle Stellen eher zurück, es gab einen Protestbrief der "Union der Freundschaftsgesellschaften" an den Präsidenten der USA, in dem an den Krieg der USA in Vietnam erinnert wird, "den barbarischsten, unmenschlichsten, blutigsten und längsten Krieg nach dem 2. Weltkrieg". Trotz aller Opfer hätten die Vietnamesen "in ihrer Tradition des Großmuts und der Nachsicht, mit großem Verständnis und großer Bereitschaft zur Freundschaft mit allen Völkern, auch dem amerikanischen, geglaubt, daß die Vergangenheit nicht mehr die Gegenwart beeinträchtigen würde können" .

In der Presse waren die Kommentare von Repräsentanten vieler Berufe und gesellschaftlicher Gruppen wesentlich offener und oft von Empörung geprägt. Es wurden Worte wie "Imperialisten" gebraucht, die einer vergangenen Zeit anzugehören schienen. Da der Wortlaut der Gesetzesvorlage viele wieder an den Krieg erinnert hat, sind die Gedanken an ihn in den Kommentaren auch wieder präsent:

"Für die Bevölkerung ist sie (die Gesetzesvorlage, Red.) eine schmerzliche Erinnerung an das häßliche Gesicht des Krieges, der durch die US-Imperialisten gegen Vietnam geführt worden ist. Diese haben mehr als eine halbe Million Soldaten geschickt, die in Vietnam eingedrungen sind, verschiedene Arten von Waffen dort angewendet haben, darunter chemische, und damit Millionen von Vietnamesen getötet haben, mit dem Ziel, ihr Streben nach Unabhängigkeit zu unterdrücken und alle Vietnamesen zu ihren Sklaven zu machen. Es sind jene Imperialisten, die Völkermord in My Lai und an anderen Orten in Vietnam begangen haben, die Bomben auf dichtbesiedelte Wohngebiete, zum Beispiel auf die Khan Thien Straße am Weihnachtsabend 1972 geworfen haben, Millionen Kilo dioxinhaltige chemische Mittel auf Zehntausende von Menschen versprüht haben, an deren Folgen unabsehbare Generationen noch leiden werden. Mehr als 25 Jahre nach dem Krieg leiden immer noch Millionen von Menschen und Kriegsveteranen an den Folgewirkungen dieses Krieges", schreibt Generalleutnant Tran Van Quang, der Vorsitzende der Veteranenvereinigung Vietnams.

Der Journalist Do Phuong erinnert an den freundlichen Empfang, den die vietnamesische Bevölkerung Präsident Clinton bei seinem Besuch in Vietnam bereitet hat: "Dies geschah nicht, weil Clinton einst gegen den Vietnamkrieg war oder weil er es war, der den Normalisierungsprozeß einleitete oder weil das Handelsabkommen zwischen Vietnam und den USA unter seiner Präsidentschaft ausgearbeitet wurde.

Der eigentliche Grund war, daß Vietnam dem obersten Repräsentanten des amerikanischen Volkes seine aufrichtige Absicht zeigen wollte, die Feindschaft zu überwinden und freundliche Beziehungen zwischen den beiden Ländern und zwischen dem vietnamesischen und dem amerikanischen Volk aufzubauen." Dieses Vertrauen werde durch den vorliegenden Text enttäuscht, denn "es gibt eine Sache, die sie (die Vietnamesen, Red.) niemandem durchgehen lassen werden: wenn jemand diese Menschlichkeit ausnutzt und ihren Sinn für Würde, Unabhängigkeit und Souveränität sowie ihr Recht, den eigenen Weg in die Zukunft zu gehen, verletzt."

Der buddhistische Bonze Hochwürden Thich Tri Quang übt direkte Kritik an den Verhältnissen in den USA: Dort lebten 19 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, in New York seien mindestens 45.000 Menschen obdachlos. Aus mehreren Organisationen der UNO seien die USA ausgeschlossen worden. Solche Angriffe sind für vietnamesische Verhältnisse äußerst ungewöhnlich, in der Regel tun vietnamesische Offizielle niemals das, was sie der anderen Seite vorwerfen: sich in deren innere Angelegenheiten einzumischen, und sei es nur durch Kritik. Das Aufweisen von Schwachpunkten im sozialen System war, außer in wissenschaftlich-theoretischen Debatten, stets ebensowenig üblich wie Kritik an der Innenpolitik der USA. Daß dies hier geschieht und veröffentlicht wird, läßt auf die tiefe Betroffenheit angesichts eines Hauchs von kaltem Krieg ahnen, als der die Intervention der reaktionären Kreise empfunden wird.

Auch ein Angehöriger einer Minderheit in der Bergregion meldet sich zu Wort, und es ist nicht irgendeiner, sondern der ehemalige stellvertretende Vorsitzende der FULRO, jener Organisation, die gegen Ende des Krieges auf der Seite der USA gegen die Befreiungsfront gekämpft hat. Ya Duck ist heute stellvertretender Vorsitzender der Vaterländischen Front von Lam Dong im zentralen Hochland. Er greift die Kritik auf, die Angehörigen der Minderheiten würden gezwungen, vietnamesisch zu lernen: "Im Juni letzten Jahre fragte mich ein Amerikaner, der die US-Administration vertritt, warum der vietnamesische Staat alle Kinder der ethnischen Gruppen dazu zwinge, die Sprache der Kinh zu lernen, und warum alle offiziellen Dokumente in der Kinh-Sprache abgefaßt sein müssen. Ich widersprach ihm und sagte, daß die 54 Minderheiten selbst sich für Kinh als die allgemeine Sprache entschieden haben. Sie ist uns nicht aufgezwungen worden. Und ich fragte ihn: "In den USA gibt es auch viele Nationalitäten, warum wird dann Englisch als die Hauptsprache benutzt?"

Der Dichter Vien Phuong aus Ho Chi Minh Stadt erinnert sich ebenfalls an den Krieg, den er in der Gegend von Cu Chi erlebte: "Sie waren entschlossen, uns von allen unseren kulturellen und geistigen Werten zu trennen, die uns an unsere Heimat binden. (...) Sie waren entschlossen, uns des Wassers und jeglicher Nahrung zu berauben, so daß uns nichts anderes übrig bleiben sollte, als unsere Häuser zu verlassen und mit ihnen zu gehen.

Es gab Zeiten, da mußte unser kleines Gebiet 18 bis 20 Luftangriffe von B 52 Bombern täglich erdulden. Zeiten, in denen kein einziger Hahn krähte, keine Vögel sangen, keine Wiegenlieder ertönten und keine Kinder schrieen. Das Leben auf der Erde war vollständig zerstört, und nur die Guerillas, die unter der Erde lebten, tauchten auf, um sich zu wehren. (...) Die USA haben kein Recht, über Menschenrechte in anderen Ländern zu urteilen, und besonders nicht in Vietnam, wo sie eine katastrophale Saat hinterlassen haben."

Es kann nunmehr als bewiesen gelten, was wir im Viet Nam Kurier als Vermutung geäußert haben, daß nämlich der "Aufstand" in der Bergregion gerade jetzt inszeniert worden sein könnte, um die Entscheidung im Kongreß zu beeinflussen.

Die ungewohnt heftige Reaktion in der vietnamesischen Öffentlichkeit deutet darauf hin, daß die "Versöhnungspolitik" der Regierung dem ehemaligen Feind gegenüber noch leicht irritiert werden kann. Vielleicht ist es eine Auseinandersetzung, die hier wie dort nur noch diejenigen beschäftigt, die noch eigene Erinnerungen an den Krieg haben. Die Jugend dürfte in beiden Ländern solche plötzlichen Verdunklungen durch die Schatten der Vergangenheit unbefangener hinnehmen. Und wie die Geschichte des Handelsabkommens zeigt, scheinen es wirklich nur vorübergehende Schatten zu sein. Aber sie deuten auf Wunden hin, die noch nicht verheilt sind.

Der Kampf in den USA wird auch um die Frage geführt, wie der Vietnamkrieg zu bewerten sei, und es scheint, daß eine weitverbreitete Tendenz, die Geschichte dieses Krieges im Sinne eines neuen Patriotismus aus aktuellem Anlaß umzuschreiben, durch die Interessen der amerikanischen Industrie nur unterdrückt, nicht aber widerlegt worden ist. Schlimm wäre es, wenn eine neue "Arroganz der Macht" die Diskussion um Recht und Unrecht im internationalen Umgang der stärksten mit den schwächeren Mächten überhaupt als überholt ansehen würde.

veröffentlicht in Vietnam Kurier 3-4/2001

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