„Wahrheits-Marker“ und „Evaluationen“

Über die Rolle des Hue-“Massakers“ in Vietnam-Reiseführern

Günter Giesenfeld

In der Einleitung zu unserem Schwerpunkt war der Hinweis zu lesen, dass die offizielle US-amerikanische Lesart eines von der FNL planmäßig angerichteten „Massakers“ in Hue bis vor kurzem auch in deutschen Reiseführern zu finden gewesen sei. In den USA ist dies bis heute der Fall. Das hat ein amerikanischer Wissenschaftler untersucht.

„Beruhend auf detaillierten Plänen zur Liquidation feindlicher Elemente in Hue“, so ist in dem Reiseführer von Lonely Planet zu lesen, „wurden mit Hilfe von sorgfältig vorbereiteten Namenslisten Tausende von Menschen bei Razzien von Haus zu Haus zusammengetrieben“1.

In den folgenden Wochen der kommunistischen Kontrolle seien entweder 3.000, aber mindestens 2.800 oder sogar 14.000 Menschen – je nach dem, welche Auflage welchen Reiseführers man liest – „massakriert“ und, wenn man dem Reiseführer Fodor's Exploring Vietnam glauben will, seien die Soldaten der Befreiungsfront „dazu angehalten“ worden, „sich an der Bevölkerung zu rächen“2.

Wegen seiner kalkulierten Planung und unbarmherzigen Durchsetzung galt das „Hue Massaker“ als typisches Kennzeichen kommunistischer Herrschaft, denn, sinngemäß nach einer Definition der UN, konnten die kommunistischen Bewegungen in einer wirklich freien Gesellschaft nicht auf volkstümliche Unterstützung rechnen und mussten deshalb auf den Terror als notwendige Voraussetzung für ihre politische Kontrolle zurückgreifen. Für Zehntausende von westlichen Touristen, die in der Ideologie des Kalten Krieges erzogen worden sind, wurde die Lektüre über dieser Episode in ihren Reiseführern zum Beweis für diese These.

Das Auftauchen dieses Ereignisses in dieser Form in der touristischen Literatur scheint mehreren Zwecken zu dienen. Denn nicht nur bestätigte die behauptete Gnadenlosigkeit des Massakers die im volkstümlichen Bewusstsein verankerte Bösartigkeit der „Kommunisten“. Nach Ende des Krieges 1975 führte überdies „Hue“ die Unfähigkeit der vietnamesischen Regierung der Nachkriegszeit den Touristen vor Augen, mit ihrer eigenen Geschichte angemessen umzugehen: Es wird in den vielen einschlägigen vietnamesischen Museen, aber auch auf Gedenktafeln an den Krieg nicht erwähnt.

In dieser Hinsicht funktioniert das „Hue-Massaker“ als das, was Dean MacCannell ein „Wahrheits-Marker“ (truth marker) nennt.3 Ein solcher Marker zementiere die Bindung des Touristen an die entsprechende Behauptung oder Interpretation eines historischen Ereignisses und stärke sein Bewusstsein, durch sein „Mehrwissen“ ein privilegierter Beobachter, ein zur Beurteilung berechtigter Zeuge zu sein. Denn durch die Abwesenheit der „Massaker“ in den Museen und in der offiziellen Geschichtsschreibung werde der Tourist an die Selektivität der vietnamesischen Darstellungen des Konflikts erinnert, was den Effekt habe, Zweifel an allen übrigen offiziellen nationalen Geschichtsdarstellungen zu erwecken.

Jedenfalls betreffe dies Schilder und Informationstafeln in Museen, an Gedenkstätten, Kriegsdenkmälern überall im Land. Zur in Vietnam sehr wohl vorhandenen wissenschaftlich-historischen, oft kontroversen Diskussion und Literatur habe ja ein Tourist normalerweise keinen Zugang.

Dies ist kritisch zu sehen, denn im Gegensatz zu den meisten populären Darstellungen in den Vereinigten Staaten und Europa wird der Konflikt im Land selbst als ein landesweiter revolutionärer anti-imperialistischer Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit aufgefasst – und nicht als eine „Bemühung von gutmeinenden Politikern in Washington, Vietnam vor seinen nordvietnamesischen Eindringlingen zu schützen“4. Einige der Reiseführer verweisen sogar explizit auf diesen Zusammenhang zwischen der Abwesenheit des Ereignisses in den Museen und der daraus abzuleitenden Unzuverlässigkeit der öffentlichen vietnamesischen Geschichtsschreibung. Dabei genügt in der Regel schon ein kleines Wort, die Gedanken der Touristen in die gewollte Richtung zu lenken: „natürlich“: „Natürlich gibt es keinen Hinweis auf das Massaker im Kriegsmuseum von Hue“, schreibt der Fodor-Führer5, und fährt fort: Auch im War remnants Museum in Ho-Chi-Minh-Stadt fehle natürlich „jeder Hinweis auf einige abscheuliche Taten der Befreiungsfront, vor allem die 14.000 Menschen, die während der Tet-Offensive in Hue massakriert worden sind“6.

„Für Touristen, die sich in den Reiseführern über die Geschichte Vietnams informieren wollen, und das ist die überwiegende Mehrheit derjenigen, die individuell nach Vietnam reisen, gibt es eine Vielzahl von solchen problematischen 'Markern', die vor allem die offizielle Darstellung in Museen und Kriegsschauplätzen in Frage stellen.“7 Dabei spielt der Gebrauch des Wortes „natürlich“ eine große Rolle, mit dem ein ganz wichtiger Teil dessen, was bei einem Besuch im fremden Land „erfahren“ werden kann, von vorneherein in Frage gestellt wird. Es entsteht ein Misstrauen, das einen großen Teil der Kommunikation zwischen den Touristen und der Mehrheit der Bevölkerung ebenso betrifft wie den Kontakt zu offiziellen Stellen, zu denen in diesem Fall auch vietnamesische Tourguides gehören. Die damit auch verbundene Warnung wird jedoch niemals auf die Gegenseite angewendet, denn mit dem „natürlich“ erscheint ohne Diskussion indirekt und undifferenziert jegliche offizielle Ideologie des Westens als „selbstverständlich richtig“.

In seinem Buch führt Scott Laderman das Beispiel einer Analyse aus Indien an: Die indische Tourismus-Forscherin Deborah Bhattacharyya zum Beispiel bezieht sich auf Theorien von Erik Cohen und seinen Begriff der „kommunikativen Mediation“ und untersucht den Reiseführer von Lonely Planet über Indien.8

Nach Cohen bedeutet Kommunikative Mediation „die (vom Reiseführer vorgegebene) Auswahl der Sehenswürdigkeit, die man besucht haben muss, indem über sie bestimmte Informationen geliefert werden und darüber hinaus dem Touristen eine bestimmte Interpretation nahegelegt wird.“9

„Ein Reiseführer prägt das Bild der Sehenswürdigkeit durch sowohl die Auswahl als auch durch eine angebotene Interpretation. Dabei ist der Prozess der Interpretation für den Touristen, die dessen Sicht lenkt, das entscheidende Element. Dieser Prozess ist eine Mischung aus 'Kontextualisation und Evaluation'. Dabei präsentiert der Reiseführer seine Interpretation nicht als eine mögliche, sondern als die einzig legitime. Auf Vietnam übertragen, entsteht dabei ein Portrait Vietnams, das eine einfach, glatte (straightforward), selbstevidente Beschreibung liefert, und nicht eine sozial bezogene Präsentation“.10

Der Begriff der kommunikativen Mediation ist grundlegend wichtig für das Verständnis der historischen Synopsen, die man in den Vietnam-Reiseführern findet. Laderman hat einen der Autoren des Lonely Planet-Reiseführers11 über Vietnam interviewt. Robert Storey betonte dabei, dass er sich immer bemühe, eine „neutrale“ und „unvoreingenommene“ Darstellung zu liefern, die nur „beschreibt, was passiert ist“. Aber: „Sicher habe ich meine politische Voreingenommenheit. Ich habe es ihnen ja schon gesagt: ich bin ziemlich antikommunistisch. Aber auf der anderen Seite denke ich, es ist nicht fair, forsch heranzugehen (play fast) und dabei historische Fakten zu unterschlagen. Wenn du eine Schlacht verloren hast dann musst du zugeben, dass du verloren hast. Wenn wir was falsch machen, dann müssen wir es zugeben. Wir haben viel falsch gemacht. Agent Orange. Oder das My Lai-Massaker, was ein zurecht sehr bekanntes Ereignis war, war offensichtlich ein tragischer Fehler. Irgendjemand hat ihn gemacht, und du musst damit zurechtkommen.“12

Bei solcher Sicht fällt unter den Tisch, dass My Lai oder Agent Orange, wenn sie als „tragischer Fehler“ bezeichnet werden, den „irgend jemand“ gemacht hat, damit gleichzeitig behauptet wird, der amerikanische Krieg sei, davon abgesehen, ein legitimes Unternehmen gewesen. Nebenbei: Storey hat damit zugegeben, dass er einen einflussreichen Teil der historischen Literatur über den Vietnamkrieg einfach ignoriert, weil er sie ideologisch unpassend findet. Storey hat in dem Interview offen zugegeben, dass er die Bücher von Noam Chomsky „links liegen gelassen habe“, weil sie „linke Propaganda“ seien. Diese und die Forschungen des Indochina Ressource Center (IRC) in Washington vermittelten „einen falschen Eindruck von dem, was da passiert ist“13.

Bevor sie Vietnam bereisen, haben Touristen gewöhnlich einige der unzähligen Filme und Fernsehprogramme gesehen, die sich mit dem Krieg beschäftigen. Oder sie haben Geschichten gehört von Freunden und Bekannten. Einige haben vielleicht auch persönliche Erinnerungen, als Veteranen, die dort gekämpft haben oder als Aktivisten der Antikriegsbewegung. Wenn sie nach Vietnam reisen, dann sind ihre Erfahrungen dort ganz entscheidend durch die Leute beeinflusst, die sie dort kennenlernen, die Dinge, die sie sehen, und was sie dort lesen. Aber für die meisten bleibt trotzdem der Reiseführer, den sie stets dabeihaben, die entscheidende Instanz, die entscheidet, wie sie ihre Erlebnisse und Begegnungen aufnehmen und für sich beurteilen. „Von den 94 Touristen, die ich im Juni 2000 in Vietnam interviewt habe, benutzten 84 einen Reiseführer. […] 60 von ihnen behaupteten, nichts oder fast nichts zu wissen über den Krieg.“14 Durch Gespräche hat Laderman versucht, herauszufinden, inwiefern dieses Wissen während ihrer Reise in Vietnam nicht von dort, sondern aus dem Reiseführer stammte. Dabei kam heraus, dass die Touristen, wenn sie über den Krieg befragt wurden, dieselben Worte und Wendungen benutzten, die sich in ihren jeweiligen Reiseführern fanden – und die auch den Diskursen glichen, welche die massenmedial vermittelten amerikanischen Darstellungen über den Konflikt widerspiegelten.

In diesen Darstellungen finden sich viele Mythen, die jeglicher empirischen Grundlage entbehrten. So glaubten bei einer Umfrage im Jahre 1993 noch zwei Drittel der Amerikaner, dass „in Südost asien immer noch US-amerikanische Kriegsgefangene (POWS) festgehalten würden. „Ich bin dem auch begegnet in Hanoi, wo ich einen gebildeten amerikanischen Touristen interviewte – er war ein Kriegsgegner in der Zeit des Krieges gewesen, arbeitete jetzt als Lehrer und war zum siebenten Mal in Vietnam – der behauptete, es gäbe immer noch POWs in Südostasien, aber die Vietnamesen hätten sie jetzt nach Laos gebracht, um nicht die Normalisierung der Beziehungen zwischen Vietnam und den USA zu stören.“15

Zu diesen Mythen gehört auch der vom „Hue-Massaker“. „Und dreißig Jahre nach der von den USA zu verantwortenden totalen Zerstörung von Hue finden sich in den Reiseführern immer noch nur die grausamen Details eines Massakers, das nur eine sehr vage Ähnlichkeit hat mit der historischen Realität.“

Anmerkungen:
1 Mason Florence und Rober Storey: Vietnam, Lonely Planet Guide, 5. Auflage, Victoria (Australien) 1999, S. 314.
2 Fiona Dunlop, Fodor's Exploring Vietnam, New York 1998, S. 114
3 Dean MacCannell: The Tourist. A New Theory of the Leisure Class, New York 1976, hier S. 137f., das Zitat auf S. 137f.
4 So in Newsweek, in einem Artikel von Evan Thomas mit dem Titel „The Last Days of Saigon“, 1. Mai 2000, S. 36
5 Dunlop, a.a.O., S. 114. Dieser Führer schießt den Vogel ab, was die Höhe der Opferzahl angeht.
6 Natasha Lesser: Vietnam (Fodor-Guide) New York 1998, S. 191
7 Scott Laderman: The „Hue Massacre“, Travel Guidebooks and the Shaping of Historical Consciousness in Vietnam, = das 3. Kapitel seines Buchs: Tours of Vietnam. Travel Guides and Memory, Duke University Press, Duluth Minnesota, 2009. Aus diesen Text werden in diesem Artikel die Hauptargumente referiert. Zitat S. 9
8 Deborah Bhattacharyya: Mediating India. An Analysis of a Guidebook. In: Annals of Tourism Research 24,2, 1997, Seiten 378ff., hier zitiert nach Laderman.
9 Erik Cohen: The Tourist Guide. The Origins, Structure and Dynamics of a Role“, in: Annals of Tourism research 12, 1985, S. 5-29.
10 Bhattacharyya, S. 376
11 In den Jahren 2000 bis 2002 der Marktführer in den USA.
12 Interview mit Robert Storey in Jiafeng, Taiwan am 30. Mai 2000
13 Am IRC arbeitete auch Porter
14 Laderman, S. 13
15 Laderman, S. 14

Quelle:
Dieser Artikel beruht weitgehnd auf den Forschungen von Laderman, genauer: auf dem 3. Kapitel seines Buchs Tours of Vietnam. Travel Guides and Memory, Duke University Press, Duluth Minnesota, 2009. Dieses Kapitel ist auch als Aufsatz im Internet veröffentlicht worden:
http://www.amazon.com/Tours-Vietnam-American-Encountersteractions/dp/0822344149#reader_ 0822344149

veröffentlicht im Vietnam Kurier 3-4/2015

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