Fliegen auf den Schwingen der Tradition

Intervention auf dem Kongreß zur Förderung der vietnamesischen Literatur im Ausland, Hanoi Januar 2010

Phan Huyen Thu

Ich fühle mich wirklich sehr geehrt, daß ich hier eine Chance habe, mich im Namen der vietnamesischen Bewegung „Junge Poesie” zu äußern. Und ich bekenne, daß ich mich wohl fühle angesichts des Themas, das ich für meinen Beitrag gewählt habe: Ich denke es ist sowohl typisch als auch außerordentlich, bei jedem Nachdenken über die junge Poesie auch die junge poetische Sprache zu benutzen. Im Ganzen gesehen ist das Hauptanliegen der gegenwärtigen jungen vietnamesischen Dichter „ihre Poesie durch eine neue Qualität der Sprache zu bekräftigen”.

Was ist nun „Tho tre” oder die „junge Poesie” als Bewegung? Welche Innovationen weist sie in ihrer Struktur auf? Ind ihren Ideen? Und in ihrem Stil? Junge Poesie war durchaus ein kontroverses Thema in Vietnam, und einige haben versucht, sie so zu beschreiben: Junge Poesie ist nur für die jungen Leute, die nach 1970 geboren wurden. Andere versuchen, sie mit Namen neuer Schriftsteller zu charakterisieren, ungeachtet ihres Alters, solange sie einen „jungen” Geist aufweisen. Mit umfangreicheren Darlegungen haben manche Kritiker versucht, die alten Schriftsteller mit hineinzuziehen, indem sie ihnen zugestanden, daß auch sie Neues hervorbringen könnten, in der Lage wären, einen neuen Geist zu entwickeln und die poetische Sprache zu erneuern.

Wir sollten diese Bewegung in dem allgemeinen Strom der literarischen Entwicklung sehen, dann werden wir die Besonderheit der „jungen Poesie” schon erkennen. Denn abgesehen von allem Lob und Tadel kann niemand die Exi­stenz dieser unübersehbaren Bewegung leugnen.

Was die Inhalte angeht, so drücken die Autoren der „jungen Poesie”-Bewegung ihre Leidenschaft aus, ihre ganz persönliche Sicht, ihren außergewöhnlichen Stil und die Besonderheiten der Sprache der jungen Poesie zu realisieren. Zum ersten Mal überhaupt hat sich das „ich” und seine Spuren in einer so unschuldigen und fruchtlosen Weise enthüllt. Und deshalb hat natürlich diese neue Art des Dichtens zu heftigen Diskussionen geführt. Viele kritische Beiträge sind über die Jahre erschienen, die dieses Phänomen „junge Poesie” und die entsprechenden Dichter zu analysieren versuchten.

Meine persönliche Meinung dazu ist, daß ich auf den Flügeln der Tradition fliegen möchte. Aber der Sex und die poetische Sprache sind ebenfalls Gesichtspunkte bei der Debatte um Phan Huyen Thus Gedichten. Die Grenze zwischen der Duldung und dem Verbot von Sex in der Poesie ist sicherlich heikel. Unser Land befindet sich noch immer in der Entwicklung und bleibt immer noch hinter der übrigen Welt zurück. Der allgemeine Standpunkt zu den traditionellen Werten ist immer noch strikt und zäh. Von diesem traditionellen Schreibstil habe ich gelernt, wie man übertreibt, vergleicht, verkürzt, andeutet etc. und ich machte Schluß mit einem widersprüchlichen, abgedroschenen und unaufrichtigen Stil, ebenso mit der Imitation der gängigen poetischen Sprachformeln.

Ich wurde anerkannt als eine weibliche Dichterin mit einem sehr persönlichen Stil in meinen Gedichten. Auch der Sex kommt ziemlich oft vor in meinen Gedichten, aber versteckt als ein delikates Gefühl. Er erscheint nicht offen in meinen Gedichten, beansprucht aber die Geduld der Leser, weil sie sich durch die Andeutungen von Bettgefühlen hindurch lesen müssen und dann auf die Hoffnungslosigkeit der Liebe stoßen, auf die Gleichgültigkeit, die mit der Anerkennung der traurigen Realität verbunden ist.

Ein anderer Kritiker fand in meinen Gedichten eine Neigung, stets schon überzeugt zu sein, niemals in der Liebe meine Befriedigung zu finden. Dann gibt es noch andere Kritiker, die in meiner Nutzung der poetischen Sprache etwas „Lächerliches” auszumachen glauben. Ich treibe meinen Spaß nur mit mir selbst, ich mache mich über meine eigene Trauer lustig und auch über die übliche Angst vor dem Verlust der traditionellen Werte und deren ästhetische Ausdrucksweisen, die als unsere nationale „Eintrittskarte” gelten in das neue poetische Zeitalter! Für mich selbst ist die poetische Sprache ein Fliegen auf den Schwingen der Tradition.

Einmal habe ich meine Meinung über den Bruch mit formalistischen und protokollarischen Tönen ausgedrückt, indem ich mich erhob und in Richtung Podium proklamierte: „Tut mir leid, aber meine Poesie ist nicht für Sie bestimmt!” Damit wollte ich kritisieren, wie meistens mechanisch poetische Regeln angewendet werden und der Rhythmus vernachlässigt wird. Wir wollte obsolete Traditionen verbrennen und den Mißbrauch traditioneller Kriterien auf unbedeutende, unehrliche Hervorbringungen abschaffen.

Die vietnamesische Sprache ist unerschöpflich und sehr schön, reich an Tönen, Melodien und Bildern. Es ist wahrhaft eine poetische Sprache. Jeder einfache Vietnamese spricht von selbst schon Sätze und Wörter in einem bestimmten Rhythmus und einer bestimmten Melodie aus. Ausländer haben immer wieder den Eindruck, daß die Vietnamesen „singen, wenn sie sprechen”. Indessen kommt es darauf an, wie man mit den Tönen umgeht. Immer noch sind 72 % der Töne des modernen Vietnamesisch chinesischen Ursprungs. Aber es wird in lateinischen Buchstaben geschrieben. Vietnamesisch hat dabei besondere ergänzende Regeln für die Töne zur Standardisierung der melodischen Silbensprache.

Mich bewegt und inspiriert zu meinem Schreiben vor allem eine Frage: wie kann man sowohl in der traditionellen Sprache neue Werte entwickeln, als auch eine moderne Sprache schaffen. Viele klassische Ausdrücke sind schon sehr alt und zu toten Worten geworden, oder ihre Bedeutung wurde reduziert und zu eng gefaßt. Aber eigentlich hat die polytonale und polysemantische1 vietnamesische Sprache eine große Kapazität, tote Worte wieder zum Leben zu erwecken.

Lange Zeit gebrauchten vietnamesische Dichter die Sprache nur als Bedeutungsträger, als ein Werkzeug, um Gefühle auszudrücken. Inzwischen haben viele Worte ihren polysemantischen Charakter durch ihren Gebrauch in der Poesie und im Leben verloren. Das ermutigt mich zu ernsthaften Wortexperimenten beim Schreiben.

Wie zu erwarten, gab es viele Einsprüche als meine Gedichtsammlung veröffentlicht wurde. Man bezeichnete sie als Mißbildung, als eine Mixtur aus Sino-vietnamesisch und moderner Sprache. Die meisten fanden, daß es einer zu großen Massen an grauen Zellen bedürfe, die Gedichte zu lesen und zu verstehen. Es gab viel nicht mehr gebräuchliche Wörter, die ich wiederbelebte und direkt mit einer ganz aktuellen, völlig modernen Welt verband. Oder ich versuche umgekehrt, Verhaltensweisen und Gefühle des modernen Lebens mit klassischen Sätzen und Begriffen zu beschreiben. Bis jetzt kann man diese Versuche als erfolgreich bezeichnen – abgesehen von einem langsamen, aber ermutigenden Ansteigen der Akzeptanz bei vielen Lesergruppen für meine spezielle poetische Sprache und meinen Wortgebrauch.

Einige Dichter der neuen Generation in der innovativen Gruppe der „jungen Poesie” haben die Tendenz, „den traditionellen Stil zu verbrennen”. Aber eigentlich setzt das Entstehen einer neuen poetischen Strömung die vollständige Negation früherer Stile nicht voraus, aber es ist notwendig, einen gewissen „Kampfgeist” zu entwickeln den anderen Strömungen gegenüber. Wir schreiben im Geist der Zerstörung des Alten, um Raum zu schaffen für das Aufblühen des Neuen. In der literarischen Welt Vietnams von heute sind das Fehlen von Informationen und die Schwierigkeit, eine Diskussion zwischen den Generationen zu führen, ebenso real und lästig wie viele andere Erscheinungen des Lebens, und vor allem die Barriere des „Sturms der Telekommunikation” spielt hier eine Rolle.

Eine neue Generation von Schriftstellern, die sich 80+ nannte (d.h. geboren in den 1980er Jahren) führt ihr literarisches Leben vorwiegend online. Die Veröffentlichung und die traditionellen öffentlichen Auftritte sind für sie keine ernsthafte Alternative mehr. Das Leben hat sich verändert, und die vietnamesische Mentalität hat sich ebenfalls verändert, schnell und im Zuge der allgemeinen Entwicklung aller Lebensaspekte. Es scheint, als hätten Generationen von Vietnamesen und vietnamesischen Schriftstellern keine Zeit mehr, miteinander in einen Dialog zu treten, über konzeptionelle Konflikte einen Disput zu führen, wie dies zuvor der Fall war. Jede Generationen muß ihren eigenen Weg gehen.

In dem speziellen Bereich der Sprachen und der sprachlichen Lösungen für die vietnamesische Dichtung glaube ich unbedingt an das Auftauchen von Schreibern der „jungen Poesie”, daß sie Erfolg haben werden und daß es ihnen schließlich zugestanden werden wird, den Weg zu bahnen für die noch jüngeren neueren Generationen der Zukunft, in Einklang mit der regionalen und kontinentalen Entwicklung. Und es erscheint unwahrscheinlich, daß es dafür einen besseren Weg gibt, als den, neue Werte zu schaffen, die auf der traditionellen Kultur gründen. Sie werden ihre eigenen Flüge in neue Räume unternehmen, und sie werden natürlich auf den Schwingen der Tradition fliegen, um zur Modernität und Erneuerung zu gelangen. Für mich gibt es allerdings auch eine gegensätzliche Vorstellung: Warum fliegen wir nicht auf den Schwingen der Erneuerung hin zu den Traditionen unserer Nation?

Übersetzung aus dem englischen Manuskript: Günter Giesenfeld

veröffentlicht im Vietnam Kurier 1/2010

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