Eine Strebernation?

Kommentar von Günter Giesenfeld

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er aufmerksame Leser und die nachdenkliche Leserin werden es bemerkt haben: Die hier vorgestellten Artikel und Diskussionen aus der vietnamesischen Debatte um Kinder und Kinderleben sind ein wenig einseitig auf Probleme einer Mittelschicht konzentriert, die jetzt dabei ist, Kindererziehung in erster Linie als Vorbereitung einer beruflichen Karriere zu sehen - und sich dies auch leisten kann. Daß es auch sehr viele Kinder gibt in Vietnam, die nicht so behütet sind und von ihren Eltern "gecoacht" werden, haben Beiträge im Viet Nam Kurier bereits aufgezeigt (verwiesen sei auf verschiedene Beiträge zum Thema Straßenkinder in den Nummern 1/2000, 2/2000, 1/2001 und 3/2003). Da hat sich in den letzten drei vier Jahren nicht allzuviel geändert. Ein weiterer Aspekt des Themas muß ebenfalls - jedenfalls in dieser Nummer - unberücksichtigt bleiben, weil es dazu nur wenig zugängliche Literatur gibt und hier sicher eigene Erhebungen und Untersuchungen nötig wären: Kinderleben auf dem Land, in den abgelegenen Gebieten und bei den ethnischen Minderheiten. Darauf wollen wir bei Gelegenheit zurückkommen.

Die Artikel und Informationen des vorliegenden Schwerpunkts "Kinder in Vietnam" haben einen bescheideneren Anspruch. Sie sollen eine aktuelle Diskussion über die grundlegenden Absichten eines Erziehungssystems dokumentieren, das immer noch im Aufbau begriffen ist. Wie es der Brief des Staatspräsidenten ausdrückt, legen Staat und Partei einen starken Akzent auf "Leistung" in Schule und Ausbildung, und viele Eltern folgen ihm mit Überzeugung in diese Richtung. Daß sie nicht mehr unumstritten ist, zeigen einige der Artikel, die wir wiedergeben.

Aus dieser Debatte läßt sich ein grundlegender Unterschied im Verhältnis der Kinder (und Eltern) zur Funktion der Schule im Vergleich zu deutschen Zuständen feststellen. Abgesehen vielleicht von Randgruppen sind Erziehung und Schule in der vietnamesischen Gesellschaft positiv besetzte Begriffe. Es ist eine Tatsache, daß die Kinder im allgemeinen gerne in die Schule gehen, und daß schulischer Erfolg für sie sehr wichtig ist. Das läßt sich leicht aus der Geschichte des Landes erklären, enthält aber auch bereits Elemente modernen Leistungsdenkens. Deswegen haben wir es mit einer komplexen Übergangssituation zu tun. Und dazu kommt, daß auch hier politische Auseinandersetzungen hineinspielen: Das alte Ideal des konfuzianischen Gehorsams und der Anerkennung der Autorität von Eltern und Schule nimmt gelegentlich die Form autoritativen Denkens an und droht dann die Kinder eher als zu unterwerfende Objekte wahrzunehmen und indirekt auf Untertanengeist zu setzen. Dieses traditionelle Element läßt sich anscheinend gut verbinden mit einem Druck auf die Kinder im Namen eines modernen Karrierebegriffs, der unübersehbar neoliberale Züge trägt. Die Kinder auf ein Leben vorzubereiten, in dem sie auf sich selbst gestellt sind und sich durch überlegene Kenntnisse und Fähigkeiten gegen andere Konkurrenten durchsetzen müssen, droht zu einer neuen Form von Anpassungsverhalten zu führen, das den vietnamesischen Traditionen eigentlich absolut fremd ist, auch wenn es formal konfuzianischen Prinzipien ähnlich zu sein scheint. Die "Bewegung" (so ist man versucht zu sagen) "Laßt doch die Kinder sich frei vergnügen!" setzt neuerdings andere Akzente, und es scheint etwas in Gang zu kommen, und zwar nicht von unten (von den vielbeschworenen Graswurzeln), sondern da machen sich Fachleute und Funktionäre mit einigen neuen Gedanken vielleicht sogar zunächst unbeliebt.

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n den vergangenen Jahrzehnten hat der vietnamesische Staat zahlreiche Reformen im Bereich der Bildungspolitik, zu den Lehrplänen und Lehrbüchern in Gang gesetzt. Man betrachtete die Bildungspolitik als Aufgabe ersten Ranges. In der 5. Sitzung der 10. Nationalversammlung (November 1998) wurde ein neues Bildungsgesetz beschlossen. Es gab zwar nur einen wenig konkreten Rahmen vor, setzte aber viele Energien frei, die sich in der Schaffung vieler neuer Bildungsformen manifestierten: zentralisiert, dezentralisiert, kurzfristig, langfristig, regulär, nichtregulär. Man probierte verschiedene Modelle aus: Fernstudium, Weiterbildungs- und Qualifizierungskurse usw. All das sollte dazu dienen, günstige Bedingungen für das Lernen zu schaffen. Seitdem reißt die Kette der Gesetze und Regelungen nicht ab, die das Bildungssystem langsam Gestalt annehmen lassen. Vor allem aber wurde die Ausstattung aller Regionen und Provinzen mit Schulen und Ausbildungszentren vorangetrieben. Dann wurde die Grundschulpflicht eingeführt. Und auf der 8. Sitzung der 10. Nationalversammlung wurde ein landesweites Programm für Mittelschulpflicht beschlossen. Bis Ende des Jahres 2000 wurden 100 % der Provinzen und der regierungsunmittelbaren Städte, 97 % der Landkreise, Distrikte und Provinzstädte, 97,7 % der Gemeinden, Stadtteile und Kreisstädte den Vorschriften gemäß mit Schulen ausgestattet. Derzeit können 94 % der Bevölkerung lesen und schreiben.

Am 7. Februar 2003 unterschrieb Premierminister Phan Van Khai die Entscheidung Nr. 26/2003/QD-TTg als nationales Rahmenprogramm für Ausbildung und Erziehung bis zum Jahr 2005. Dieses Programm sah die Realisierung von acht Projekten vor:

    - weiteres Zurückdrängen des Analphabetismus und Verwirklichung der Grundschulpflicht, Durchsetzung der Mittelschulpflicht;
    - Erneuerung der Lehrpläne und Lehrbücher;
    - Einführung der Informatik in den Schulen, Ausbildung von Computer-Personal
    - Verstärkung des Fremdsprachenunterrichts im System des nationalen Bildungswesens;
    - bessere Aus- und Weiterbildung der Lehrer, stärkere Qualifizierung der Lehrer und eine höhere Qualität der Berufsausbildung
    - Verstärkung der materiellen und technischen Basis der pädagogischen Hochschulen;
    - Unterstützung der Ausbildung in den Bergregionen, bei den ethnischen Minderheiten und in benachteiligten Gebieten;
    - Verbesserung der materiellen Basis für die Schulen, die technischen und berufsorientierenden Zentren sowie wichtige Hochschulen, Universitäten und Fachhochschulen.1

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ie hier vorgestellten Debatten spielen sich also vor dem Hintergrund einer Politik ab, die zur tatsächlichen Förderung des Erziehungswesens bereit und entschlossen ist, obwohl es sicher auch hier die Kluft zwischen Absichtserklärung und Verwirklichung gibt. Fakt ist, daß die vom Staat für Erziehung und Bildung ausgegebenen finanziellen Mittel steigen und nicht fallen wie bei uns. Das Ganze muß zudem vor dem Hintergrund gesehen werden, daß es früher einmal in Vietnam ein komplett kostenloses Bildungssystem gegeben hat, das vor allem auf der Einbindung des Landes in das sozialistische Staatensystem beruhte und auf der von dort kommenden Finanzhilfen. Nach dessen Untergang konnte man sich ein kostenloses Bildungssystem nicht mehr leisten. Sowohl diese Tradition, als auch die des Widerstandskampfes lassen Bildung und Schulbildung als ein lebensnotwendiges und erstrebenswertes Gut erscheinen, dessen Verfügbarkeit lange Zeit nicht gegeben war und das auch heute noch nicht (und angesichts der Einbindung des Landes in die globale Wirtschaftspolitik bald immer weniger) selbstverständlich ist. Daher die noch weit verbreitete tatsächliche (und oft auch eingeforderte) Dankbarkeit und die Verpflichtung, für sich persönlich etwas aus diesem Privileg zu machen. Dieser historisch gewachsene grundsätzlich positive Bezug zu Bildung und Schule scheint heutzutage noch immer weitgehend vorherrschend zu sein. Daß auch er Übertreibungen und Auswüchse kennt, nimmt ihm nicht seine allgemeine Berechtigung.

Anmerkung:
1 Die hier wiedergegebenen Informationen über die Bildungspolitik stammen aus dem Buch: Mai Ly Quang: Viet Nam from past to future, Hanoi, The Gioi Publishers, 2007, Ss. 421-446. Das Kapitel zur Erziehung enthält wertvolle Abrisse zur Geschichte des Erziehungswesens seit dem Mittelalter und zu aktuellen Diskussionen über die Ziele einer Bildungspolitik sowie viel Zahlenmaterial.

Quelle Courrier du Vietnam, 30. September 2007, Übersetzung Günter Giesenfeld

veröffentlicht im Vietnam Kurier 3-4/2007

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