Doi Moi in der WTO?

Ein Kommentar von Günter Giesenfeld

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ie heutige "kannibalische Weltordnung" sei das Ende sämtlicher Werte der Aufklärung, das Ende der Grundwerte und der Menschenrechte, sagt Jean Ziegler, der Schweizer Soziologe und UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung (Interview in der Frankfurter Rundschau vom 05.01.2006). Für ihn hat die Globalisierung ein neues koloniales Zeitalter mit sich gebracht. In einer Zeit, in der auf der ganzen Welt unermeßliche Reichtümer entstanden sind, in der zum ersten Mal jeglicher Mangel an Nahrungsmitteln und Grundversorgungsgütern bei richtiger Verteilung abgeschafft werden könnte, finde eine massive "Refeudalisierung" statt. "Diese neue Feudalherrschaft ist 1000-mal brutaler als die aristokratische zu Zeiten der französischen Revolution"

Die wichtigste Ideologie, um diese neue Herrschaft durchzusetzen, ist der Neoliberalismus. Das Dogma von der vollständigen "Liberalisierung", sprich Privatisie-rung aller gewinnversprechenden Güter und Dienstleistungen in allen Bereichen, auch etwa der Gene von Tieren, Pflanzen und Menschen ist heute in der öffentlichen Diskussion so übermächtig, daß es als Schicksal gilt, diese Verschlechterungen der Lebensbedingungen der Menschen bis hin in die reichen Staaten des Nordens hin-nehmen zu müssen. Und es ist den Propagandisten in den Medien und auf den Poli-tikerstühlen gelungen, den Begriff Globalisierung mit diesem Inhalt zu füllen. Not, Elend, Hunger und Sterben sind dabei die Kollateralschäden, die bei uns hinge-nommen werden, solange sie nur die Länder des Südens betreffen. "Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet", sagt Ziegler.

Um aus dieser Lage herauszukommen, müssen die Wahnideen von der vollständigen Ökonomisierung der Natur erst einmal als Legitimationen von Politik zerstört werden. Solange die strukturelle Gewalt der Konzerne ungebrochen ist, kann keine wirkliche Demokratie verwirklicht werden. Und solange wir von den "Entwicklungsländern" eine Demokratisierung verlangen, deren Zerstörung von unseren eigenen Staaten ausgeht, ist diese Forderung wenig überzeugend. Deswegen meint Ziegler, die beiden Weltorganisationen WTO und IWF müßten eigentlich aufgelöst werden. Denn sie seien die "willigen Helfer" der "Kosmokraten", wie er die neuen Kolonialherren nennt, die dafür sorgen, daß etwa im Niger 3,6 Millionen Menschen vor dem Hungertod stehen, weil der IWF die kostenlose Verteilung von Hirse in diesem Land verboten hat, weil dies "marktverletzend" sei.

Obwohl allgemein verbreitet wurde, daß der WTO-Gipfel in Hongkong im Dezember 2005 für den Süden "Verbesserungen" gebracht habe, wird er in entwicklungspolitischer Hinsicht als ein skandalöser Mißerfolg betrachtet. Die großspurig propagierte Abschaffung von Zollschranken für den Export in Industrieländer betrifft gerade diejenigen Waren nicht, bei denen die armen Länder noch "konkurrenzfähig" sind. Japan darf nach wie vor auf kambodschanischen Reis 750% Einfuhrzoll erheben.

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nd nun bemüht sich Vietnam seit 1995, einer solchen Organisation beizutreten und macht zu diesem Zweck weitreichende Konzessionen, die tief in den Mechanismus der eigenen Wirtschaft eingreifen und auch schwerwiegende Folgen für das soziale Leben haben werden! Die in Vietnam geführte (und in diesem Heft ansatzweise dokumentierte) kritische Diskussion hat die Regierung nicht von diesem Vorhaben abbringen können. Man kann sich vorstellen, daß, von außen gesehen, ein solches Verhalten als das Aufgeben von wichtigen Errungenschaften und Prinzipien gelten kann, als ein weiterer Schritt zur Kapitulation vor dem internationalen Kapitalismus. Es ist aber wieder einmal so, daß dem Land kaum eine andere Wahl bleibt. Außerhalb der WTO müßte die vietnamesische Wirtschaft im internationalen Konkurrenzkampf die Rolle eines Paria spielen, der keinerlei Rechte hat und den Erpressungen der Mächtigen wehrlos ausgeliefert wäre. Was die Mitgliedschaft an Schutz bietet (durch Regeln im Umgang miteinander, die international einklagbar sind), ist nur eine relative Regulierung, die immer in Gefahr steht, von den die Organisation dominierenden Staaten (vor allem den USA) ausgehebelt zu werden, aber auch ein solcher Schutz ist besser als gar keiner. Nicht zufällig spielten im Vorfeld des Beitritts die direkten bilateralen Verhandlungen mit dem zukünftigen "Partner" USA eine so große Rolle. Und ein Indiz dafür, daß da sehr weitgehende Zugeständnisse abverlangt und gewährt wurden, ist die Tatsache, daß die Ergebnisse dieser Verhandlungen auch nach der feierlichen Unterzeichnung des entsprechenden Abkommens nicht veröffentlicht wurden.

Wer Angst hat, Vietnam würde hier, aus Unkenntnis oder geblendet durch den Blick auf eine helle Zukunft im Umgang "auf Augenhöhe" mit dem Rest der Welt, Beziehungen eingehen, deren Konsequenzen seine Regierenden nicht überblicken, sei an die Geschichte Vietnams erinnert. Dort gibt es viele Beispiele dafür, daß scheinbar demütigende und fatale Kompromisse mit Feinden eingegangen wurden, deren anscheinend unvermeidliche Folgen dann doch nicht so schlimm waren. Ich erinnere an die zähen Verhandlungen mit der französischen Regierung nach 1945, bei denen die vietnamesischen Politiker Pham Van Dong, Ho Chi Minh und andere sich bemühten, mit der ehemaligen Kolonialmacht zu einer Einigung zu kommen, die diese vor einem erneuten militärischen Eingreifen abhalten könnte, denn noch hatten alle die Erklärungen de Gaulles im Exil in den Ohren, man werde Indochina die Unabhängigkeit gewähren. In Fontainebleau waren die Verhandlungen abgebrochen worden und die vietnamesische Delegation abgereist. Ho Chi Minh aber blieb und bettelte - auf aus damaliger Sicht einiger vietnamesischer Politiker demütigende Weise - um ein Minimalabkommen, das wenigstens vorsah, daß der Wiedereinmarsch der französischen Truppen nach Nordvietnam ein "friedlicher" war.

Ho Chi Minh wurde damals intern heftig kritisiert wegen seiner "Illusionen über einen Frieden" (so General Vo Nguyen Giap in seinem Buch "Volkskrieg, Volksarmee"), und auch heute mag es in den parteiinternen Diskussionen auch verschiedene Meinungen darüber geben, ob der WTO-Beitritt mehr Vorteile oder mehr Nachteile bringt. Ein weiteres kommt hinzu: Vietnamesische Politiker und Denker hatten schon immer die Tendenz, unabhängig von ihren marxistischen Grundüberzeugungen die positiven Wurzeln und Prinzipien der westlichen Kulturen sehr ernst zu nehmen. Das gilt für demokratische Traditionen (Unabhängigkeitserklärung, französische Revolution) ebenso wie liberale Auffassungen vom Umgang zwischen Menschen und Staaten in der bürgerlichen Tradition. Einer solchen ist auch, ungeachtet der Praxis und neuester Entwicklungen, die WTO zuzuordnen: 1995 gegründet, ist sie die praktisch-organisatorische Umsetzung der Idee des freien Handels unter verschieden mächtigen internationalen Partnern. Fast wie ein souveräner Staat hat die WTO gesetzgeberische, exekutive und juridische Autonomie. Trotzdem beruht sie im wesentlichen auf bilateralen Verträgen zwischen ihren Mitgliedern. Da diese immer wieder neu verhandelt werden, ist die WTO auch ein Forum des Austauschs, das aufgetretene Mißverständnisse, Ungerechtigkeiten nicht nur feststellen und kritisieren, sondern auch selbst bereinigen kann. Die Macht in dieser in Genf stationierten Organisation üben also nicht die etwa 600 Funktionäre aus, sondern die Mitgliedsstaaten selbst. Unter ihnen gibt es formell eine Gleichstel-lung - Jedes Mitglied hat, ungeachtet seiner politischen oder wirtschaftlichen Grö-ße, nur eine Stimme. Einigungen beruhen auf dem Prinzip des Konsenses, kommen sie nicht auf diesem Wege zustande, kann die Sache vor den internen Gerichtshof (DSB, siehe den Artikel in diesem Heft) gebracht werden.

Nun sind die hehren Grundsätze, die bei der Geburt der WTO festgelegt wurden, inzwischen mehr als aufgeweicht durch Entwicklungen, die in ihrer Gesamtheit eine zunehmende Bedeutung der Bilateralität gegenüber der Multilateralität bewirken. So hat Vietnam bei den vorbereitenden Verhandlungen mit 40 Mitgliedsstaaten 30 bilaterale Wirtschaftsabkommen geschlossen. In diesen Verhandlungen, vor allem denen mit den USA und der EU, ist natürlich das Prinzip der Gleichberechtigung aufgehoben. Hier zählt ausschließlich die Macht, dem Partner, der hier vor allem ein wirtschaftlicher Konkurrent ist, seine eigenen Vorstellungen aufzuzwingen, und das Ergebnis entspricht zumeist den Machtverhältnissen.

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ahrscheinlich spiegelt das Vertrauen Vietnams in die ursprünglichen Ideen, die bei der Gründung der WTO Pate gestanden haben, einen Trend wider, der mit zu deren gegenwärtiger Krise geführt hat. Während die reichen Mitglieder sich mehr und mehr auf bilaterale Verträge konzentrieren, bei denen sie ihre Macht offener ausspielen können, hat sich in den letzten Treffen der WTO (Scheitern der Außenministertreffen von Seattle 1999 und Cancun 2003, Aussetzen der in Doha 2001 begonnenen Verhandlungen bei dem letzten Gespräch in Genf 2006) Widerstand formiert. Denn sowohl die Prinzipien der Multilateralität, als auch diejenigen des freien Austauschs von Waren und Dienstleistungen sind in den letzten Jahrzehnten so offen und dreist (vor allem von den USA und der EU) gebrochen worden, daß man von einer schweren Krise der WTO spricht, die deren Existenz bedrohen könne.

Man kann das aber auch anders sehen: Die Kritiker (sowohl aus den armen Ländern als auch aus den Metropolen der reichen) klagen die ursprünglichen Ziele und Werte gegenüber einer Entwicklung ein, die diese außer Kraft setzen wollen und dies auch schon ein Stückweit getan haben. Auch hierin ist sicher einer der Gründe zu sehen für die Bereitschaft Vietnams, diesen WTO-Beitritt zu wollen und nach Kräften zu befördern. Er würde ein Lager unter den 150 Mitgliedsstaaten stärken, das neuerdings innerhalb der Weltorganisation und mit ihren Mitteln für gerechtere Handelsbeziehungen kämpft und damit für den Erhalt eines sozialen Wirtschaftsliberalismus als Alternative zur neoliberalistischen Zerstörung aller Werte.

veröffentlicht im Vietnam Kurier 2/2006

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