Sigmar Gabriel, Xi Jinping und Hannelore Kraft reden über die Neue Seidenstraße. Foto: Federico Gambarini/dpa

OBOR
China und die "neue Seidenstraße"

zusammengestellt von Günter Giesenfeld

„One Belt, One Road“, OBOR: Ein Gürtel und eine Straße ist die offizielle Bezeichnung eines wichtigen Teils der Pläne der Volksrepublik China, als alte und wieder neue Weltmacht auf den Kontinenten Asien und Europa eine führende Rolle zu spielen.

Die „alte“ Seidenstraße

Seide war über Jahrhunderte hinweg eines der wichtigsten und bekanntesten Luxusgüter, die international gehandelt wurden. Sie war das begehrteste nach Europa importierte Produkt Chinas, wo die Seidenraupenzucht und die Seidenweberei bis weit in die Jahrhunderte v. Chr. zurückverfolgt werden können. Davon hat die Seidenstraße ihren Namen, obwohl Seide nicht die einzige Ware war, die über diesen Weg von Asien nach Europa kam. Die Herstellung von Seide in großen Mengen für den Export begann in China schon im 3. Jahrhundert v. Chr., als dort Seidenmanufakturen entstanden. Aber an einigen Stellen in Europa ist bei Ausgrabungen schon ältere chinesische Seide gefunden worden.

Vor allem im Römischen Reich war die Seide der wichtigste Luxusartikel, und der stammte fast ausschließlich aus China, obwohl es in der Spätantike in Ostrom auch den Versuch gab, mit Hilfe eingeschmuggelter Raupen eine eigene Produktion zu gründen. Weiterhin waren in der römischen Oberschicht Porzellan, Juwelen und Gewürze aus China beliebt.

Neben diesen kamen auch andere Waren nach Europa wie etwa Aromastoffe sowie Heilmittel wie Schmerzmittel, „Zaubertränke“ und andere Medikamente. In der umgekehrten Richtung gelangten auf der Seidenstraße aus Europa Gold, Edelsteine und Glas, Bronze und Eisen nach Asien und Südostasien.

Die historische Seidenstraße war im Altertum und Mittelalter die wohl erste transkontinentale Kommunikationsverbindung der Welt. Es handelte sich dabei um ein Netz von Karawanenstraßen, das von Zentral- und Ostasien bis zum Mittelmeer reichte und in Wirklichkeit keine durchgängige „Straße“ war, sondern ein Gewirr von vielen sich kreuzenden Wegen, das die Verbindung zwischen den Kontinenten auf dem Landweg ermöglichte und eine Alternative zum Seeweg bildete, der noch kaum erschlossen war.

Ihre größte Bedeutung für den Handel und Austausch erreichte die Seidenstraße von 115 v. Chr. bis zum 13. Jahrhundert n. Chr.1 Sie führte zum großen Teil durch unbewohnte und unwirtliche Wüsten und Gebirge. Für die Aufrechterhaltung der Wege war ein sehr großer Aufwand nötig. Unzählige Tiere, Transportwagen und entsprechendes Personal war nötig um den Warenverkehr zu sichern. Nur selten geschah es, dass ein Transport von Asien bis Europa direkt durchgeführt wurde. Vielmehr war die Seidenstraße auch selbst ein Ort des Handelns und der Erzielung von Gewinnen beim Transport. Denn die Kaufleute bereisten in der Regel nicht die ganze Strecke, sondern es gab Zwischenhändler an allen Streckenabschnitten, die die Waren übernahmen und über eine bestimmte Distanz beförderten. Diese waren in der Regel ortsansässige Stämme, die sozusagen von der Seidenstraße lebten.


Die Alte Seidenstraße. Bild GNU/FDL

Kulturelle und geistige Güter

Es ist wichtig zu betonen, dass die Seidenstraße nicht nur dem Warenaustausch und -transport diente, sondern auch noch immaterielle „Güter“ beförderte. Dazu gehörten zunächst kulturelle oder manuelle Techniken, die als Anhängsel von Waren „mitgeliefert“ wurden: von der Papierherstellung, dem Buchdruck, der Herstellung von Schwarzpulver bis hin zu modernen Pferdegeschirren, um nur einige zu nennen. Der Transfer technischer Errungenschaften war zu der Zeit Ausdruck des Vorsprungs auf vielen Gebieten, die die chinesische Kultur gegenüber Europa hatte.

Nicht weniger wichtig war die Seidenstraße für die Verbreitung von geistigen Gütern in beiden Richtungen. Wohl eher als Nebeneffekt wurden durch die Reisenden „Lieder, Geschichten, religiöse Ideen, philosophische Ansichten und neues unbekanntes Wissen“ hin und her transportiert.

So kam der Buddhismus über die Seidenstraße von Indien nach China und Japan. Von chinesischen Pilgern, die in das Stammland des Buddhismus pilgerten, stammen übrigens die ersten Beschreibungen von der Seidenstraße. Auch die Verbreitung des Christentums nach Vorderasien und China erfolgte – in vielen komplizierten Schritte und Formen – über die Seidenstraße.2

Der Buddhismus war in vielen Gegenden der mittleren Seidenstraße (Indien, Iran) die herrschende Religion neben dem Islam. Von dort gelangte er wahrscheinlich zur Zeitenwende nach Südostasien, wurde aber dort erst im 4., 5. und 7. Jahrhundert zu einer führenden Religion.

Neben diesen beiden Religionen spielte im Gebiet der Seidenstraße noch der Manichäismus eine Rolle, der im zweiten Jahrhundert n. Chr. in der Gegend des heutigen Iraks (Zweistromland) entstanden ist. Der Manichäismus ist „eine stark vom Gedankengut der Gnosis beeinflusste Offenbarungsreligion der Spätantike und des frühen Mittelalters. Er verlangte von seinen Anhängern Askese und ein Bemühen um die Reinheit, die als Voraussetzung für die angestrebte Erlösung galt“3.

Diese drei Religionen koexistierten im mittleren Bereich der Seidenstraße lange Zeit, bis der Islam sich nach dem Tod Mohammeds 632 n. Chr. auszubreiten begann und wenig später im westlichen Teil der Seidenstraße zur führenden Religion aufstieg. Von da an begann der lange Prozess der Ausbreitung des Islam entlang der Seidenstraße nach Osten. In Zentralasien und China entstanden islamische Gruppen und Gemeinden, aber es war eine friedliche Ausbreitung.

Niedergang und Auferstehung

In der Zeit zwischen dem neunten und zwölften Jahrhundert verlor die Seidenstraße allmählich ihre überragende Bedeutung für den asiatisch-europäischen Handel und Verkehr. Dafür gab es mehrere Gründe: Zunächst entstanden, ausgelöst durch die Handelsbeziehungen mit Europa, in Südostasien neue Märkte, auf denen regionale Güter gehandelt wurden. Zum Bedeutungsverlust der Seidenstraße hat außerdem beigetragen, dass arabische Länder für die Passage durch ihre Hoheitsgebiete immer höhere Zölle verlangten. Dadurch wurden europäische Waren in Asien und asiatische Waren in Europa immer teurer und konnten nicht mehr so leicht verkauft werden.

Auch fand in den Wüsten- und Berggebieten, durch die die Seidenstraße führte, ein gewisser Klimawandel statt, der von Gletschern gespeiste Flüsse versiegen ließ und damit die Versorgung der Passagiere und der Verpflegungsstationen immer schwieriger machte.4

Der Hauptgrund war jedoch die in der frühen Neuzeit erfolgende Erschließung der Seewege nach Asien. Der Handel über die Seidenstraße wurde von den europäischen Seemächten nun mit Schiffen abgewickelt. Chinesische Händler fuhren mit ihren Dschunken bis nach Indien und in die Seengebiete der arabischen Länder. Da der Handel über die terrestrische Seidenstraße für die europäischen Mächte teurer und prekärer wurde, unternahm man auch von hier aus die Suche nach einem Seeweg. Die Portugiesen waren die ersten, die es schafften und 1514 in China einen Handessstützpunkt einrichteten. Es folgte Spanien. Ende des 15. Jahrhundert begann dann die Kolonisierung Asiens, globale Bedeutung gewann sie in China und Südostasien vor allem durch Frankreich und England im 19. Jahrhundert.

Die Seidenstraße verlor damit mehr und mehr ihre Bedeutung und verfiel vollends, und mit ihr die Siedlungen, Städte und Kulturen, die sich ihr entlang gebildet hatten. Als Mythos und Ort von Geschichten und Legenden lebte sie jedoch weiter.

Die Erinnerung an die Seidenstraße ist gleichzeitig die Erinnerung an eine Epoche, in der China eine Weltwirtschaftsmacht war. Um 1820 wurde weltweit etwa ein Drittel aller Güter und Dienstleistungen in China hergestellt oder erbracht. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts machten erst Westeuropa und dann die USA dem Land diese wirtschaftliche Vormachtstellung streitig. Der Grund war, dass China den Anschluss an die Industrialisierung verpasst hatte.

Aber bis dahin war China militärisch und politisch „schier unangreifbar, erhob von seinen direkten Nachbarn Tributzölle und nahm die westlichen Nationen allenfalls am Rande wahr.“5 Zu dieser Zeit galt China als das „Reich der Mitte“, was aussagen sollte, dass es „in der Mitte“ des Welthandels lag und diesen dominierte. Dies änderte sich erst mit dem ersten Opiumkrieg (1839-1842), den England mit seiner modernen Seeflotte gewann. Von da an kehrte sich das Verhältnis um: China musste Zugeständnisse im Außenhandel machen. Im 20. Jahrhundert sank der Anteil der chinesischen Güter am Welthandel bis auf 5 Prozent, um erst mit der Wende zum 21. Jahrhundert wieder anzuwachsen.

Um 1800 war im Zarenreich Russland das wichtigste Verkehrsprojekt des Landes, die Transsibirische Eisenbahn, in Angriff genommen und von 1891 bis 1916 fertig gebaut worden. Obwohl sie vorrangig dem Warentransportverkehr nach Sibirien und nach Wladiwostok zum Pazifischen Ozean (japanisches Meer) dienen sollte, war von Anfang an auch eine Verbindung nach China vorgesehen. Dies diente nicht nur einem leichteren Zugang zum chinesischen Markt, die „Transsib“ war damit auch eine Verkehrsverbindung zwischen China und Europa. China war damals besonders daran interessiert, seinen Handel mit Tee, den Großbritannien durch der forcierten Anbau und Ankauf von indischem Tee zum Erliegen gebracht hatte, wieder zu beleben.

Dies war schon eine Art Vorbote für die Neue Seidenstraße, die also zunächst vor allem ein Schienenweg war. Erst Mitte der 1970er Jahre begann man mit dem Ausbau einer Straßenverbindung, die durch sehr abgelegene und unzugängliche Gegenden und über hohe Gebirgsmassen führt. Die Regierung setzte für den Bau Soldaten ein, Arbeitskräfte, die ihr sozusagen fast kostenlos zur Verfügung standen. Trotzdem war das Ganze ein sehr kostenintensives Projekt, das nur langsam in Gang kam. Dies änderte sich erst, als die chinesische Regierung das Konzept der „neuen Seidenstraße“ entwickelte.

Über den genauen Zeitpunkt der Entstehung dieses Projekts, das seitdem absolute Priorität in der Politik der Kommunistischen Partei Chinas genießt, ist nicht viel bekannt. Im Herbst 2013 verkündete Präsident Xi Jining zum ersten Mal öffentlich die Existenz des langfristigen Projekts OBOR. Auf dem 19. Parteitag wurden weitere Einzelheiten bekannt und Planungen präzisiert, die offenbar schon seit Langem erarbeitet worden waren. Zwischen 2013 und 2016 fanden zahlreiche Besuche hoher Regierungsdelegationen aus China in Nachbarstaaten und in Ländern statt, durch die die Seidenstraße führte. Der Offizielle Name „Ein Gürtel, eine Straße“ deutet an, dass es sich um zwei verschiedene, aber demselben Zweck dienende Projekte handelt. Der „ökonomische Seidenstraßen-Gürtel“ ist die Landverbindung, die „Maritime Seidenstraße“ die Seeverbindung zwischen China und Europa. Beide „Zweige“ oder, wie es in chinesischen Veröffentlichungen heißt, beide „Beine“ des Projekts bauen auf früher schon gebauten oder erschlossenen Verkehrswegen auf. Für den terrestrischen Teil ist dies die Transsib, die um eine alternative Strecke, die nicht durch Russland verläuft, ergänzt wurde. Der maritime Zweig führt durch das südchinesische Meer, die Straße von Malakka, an Indien vorbei und durch den Suez-Kanal nach Europa. Dieser Weg ist eigentlich kein chinesisches Projekt, sondern die vor allem von westlichen Transporten benutzte Haupt-Verkehrsverbindung zwischen Europa und Japan, die von den USA kontrolliert wird. Die in letzter Zeit aufgebrochenen Streitigkeiten im Südchinesischen Meer sind offenbar als der Versuch zu werten, aus dieser „Seidenstraße“ eben ein chinesisches Projekt zu machen, das heißt, sie zumindest erst einmal aus der Dominanz durch den Westen zu lösen. Auch dafür sind, weitgehend unbeachtet im Westen, Vorarbeiten schon seit längerer Zeit im Gang. „Chinesische Konzerne halten Anteile an einer ganzen Reihe von Häfen am Indischen Ozean und sind an einigen Orten sogar direkt an Aufbauarbeiten beteiligt“, etwa in Dschibuti, Hambantota in Sri Lanka, Chittagong in Bangladesch, bis hin zur Sonderwirtschaftszone am Suez-Kanal und an Häfen in Ägypten und Griechenland.6

Die Neue Seidenstraße. Bild Xinhua

Ein Jahrhundert-Projekt

Der erste Eindruck trügt zwar nicht, dass OBOR zunächst und vor allem ein Infrastruktur-Projekt ist.7 Ein Aktionsplan, den die National Development and Reform Commission der chinesischen Regierung (NDRC) am 29. März 2015 veröffentlicht hat, zählt vier Schwerpunkte dieser Infrastruktur auf:
- Transport (Straßen, Schienen, Häfen, Flughäfen)
- Energie (Pipelines, Raffinerien)
- Telekommunikation und
- Spezielle industrielle Zonen.8

Aus dieser Auflistung, die erweiterbar ist, geht schon hervor, dass hier ein sehr weites Verständnis von „Infrastruktur“ vorliegt, und dass OBOR schon jetzt auch Investments in ausländische Projekte, multilaterale Bauvorhaben umfasst. Dies hat zur Folge, dass für die Finanzierung entsprechende Institutionen geschaffen werden mussten und müssen.

Es wurde zunächst ein eigenes Geldinstitut gegründet, die Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB), die mit einem Kapital von 100 Mrd. US-$ ausgestattet wurde. Sie soll die laufenden finanziellen Transaktionen im Zusammenhang mit dem Projekt durchführen. Der Silk Road Fund verwaltet die Gesamtkosten für das Projekt von geschätzt 1 Billion US-$. Die China Development Bank soll die regionalen Investment-Projekte verwalten.

Innenpolitisch hat das Projekt zum Ziel, die nationale Wirtschaft zu fördern, wozu insbesondere auch die Förderung armer Provinzen vor allem an der Seidenstraße selbst gehört. Außerdem dient es, wie in früheren Zeiten, auch dazu, Märkte für den Absatz der heimischen Überproduktion auf den Gebieten des Bauwesens, der Stahlförderung und -verarbeitung, Kohle u. a. zu erschließen.

Obwohl also jetzt nicht mehr vorwiegend Seidenstoffe transportiert und gehandelt werden sollen, hat man den alten Namen Seidenstraße als volkstümliche Bezeichnung beibehalten. Es soll damit bewusst an die Große Zeit erinnert werden, als zu Zeiten der Reisen eines Marco Polo9 China die größte Weltmacht war. Insofern sprechen Beobachter von einer „rückwärtsgewandten Vision von der Zukunft“10. Die neue Seidenstraße soll an den Glanz und die Machtfülle des alten „Reichs der Mitte“ anknüpfen. Dabei wurde zum Teil genauso vorgegangen wie damals. Länder, durch die die Straße führte, werden bewusst gefördert und zu befreundeten Staaten gemacht – aus Dankbarkeit gegenüber China, das ihnen mit der Straße wirtschaftlichen Aufschwung brachte. Die neue Seidenstraße soll für China zugleich der Weg zu einer neuen politischen Dominanz in Asien sein. Und nicht nur in Asien.

Deswegen ist es wichtig zu erwähnen, welche begleitenden allgemeineren außenpolitischen Projekte die Regierung in China gleichzeitig verfolgt. So soll etwa die erwähnte Bank AIIB in der westlich geprägten Finanzwelt einen neuen Akzent setzen, der Weltbank und der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB) Konkurrenz machen. Des Weiteren beteiligt sich China an multilateralen Handelsmechanismen wie dem Transitsystem TIR11 der Vereinten Nationen, das den grenzüberschreitenden Containertransport auf der Straße vereinfachen soll. Aus chinesischer Sicht wird damit eine verstärkte Präsenz des Landes in der internationalen Handelspolitik verstärkt und gleichzeitig können politische Handelsschranken abgebaut werden.

Außerdem ist die chinesische Seite im Rahmen der wirtschaftspolitischen Bedeutung der Seidenstraße dazu übergegangen, mit den EU-Ländern bilateral über wirtschaftliche Zusammenarbeit zu verhandeln. „Das erschwert es der EU, mit einer Stimme zu sprechen“12. Dieses letzte Merkmal der chinesischen Außenpolitik – nämlich dafür zu sorgen, stets bilateral und nicht mit multinationalen Organisationen zu verhandeln13, finden wir auch bei der Lösung der Konflikte im Südchinesischen Meer: Stets lässt sich China – wenn überhaupt – ausschließlich auf bilaterale Verhandlungen ein, ist also nicht bereit, etwa mit ASEAN zu verhandeln.

Dieser Linie folgt auch die Erklärung der chinesischen Regierung, der Internationale Schiedsgerichtshof in den Haag sei für Streitigkeiten in Südostasien nicht zuständig. Man stellt alle westlich geprägten multilateralen Vereinbarungen und Organisationen in Frage.

Martin Ueberle kommt bei der Frage, wie eine von Beijing geprägte „Globalisierung“ aussehen könnte, zu dem Ergebnis: „Eine abschließende Bewertung der Neuen Seidenstraße fällt deshalb ambivalent aus. Vor dem Hintergrund diverser Rückschläge für die Globalisierung wie dem weltweit erstarkenden Rechtspopulismus mit seinen protektionistischen Tendenzen, dem Brexit-Votum oder der zunehmenden Zerstrittenheit der EU sind die chinesischen Anstrengungen als positiv zu bewerten. Sie versprechen profitable Investitionen in Zeiten eines globalen Kapitalüberangebots und damit Wachstum und Wohlstand durch Handel. Wie aber eine Globalisierung zukünftig aussieht, die stärker in Peking geprägt wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer einzuschätzen. Die Rolle humanitärer, sozialer und ökologischer Standards wird wohl unter anderen Vorzeichen neu bestimmt werden müssen.“14

Eisenbahnverbindungen gab es schon lange. Bild xinhua

Ob China die ihm hier zugeschriebene Absicht (Wohlstand durch Handel) wirklich verfolgt, darf bezweifelt werden und man kann in diesem Sinne nur von Kollateralwirkungen sprechen. Es sollen mit OBOR sicherlich primär neue Einflusssphären vor allem in Europa geschaffen werden, das Land nutzt „seinen Handel und seine Industrie für die Ausdehnung eigener Interessen auf andere Länder“15.

Aber auch als Wertschöpfungskette ist die Seidenstraße für China interessant, selbst an den Stellen, wo sie durch andere Länder führt. Mit chinesischem Geld entstehen entlang der Strecke riesige Industrieareale, errichtet durch chinesische Bauunternehmen, finanziert von chinesischen Banken, also von Beijing kontrolliert. So entsteht – als Nebenprodukt – an der Strecke eine Art chinesischer Schutzzone, die anfängliche Zweifel (u.a. aus Deutschland), teure Güter auf eine lange, unsichere Reise durch Kasachstan oder Russland zu schicken, verstummen ließ.

In 15 Tagen nach Duisburg

Schon seit 2008 ist die Eisenbahnverbindung zwischen China und Europa, die durch Russland führt, in Betrieb – allerdings nur für Güterzüge. Von Chongqing werden die Waren durch Russland, Belarus und Polen direkt zum Duisburger Hafen gebracht, von wo sie per Schiff weitertransportiert werden. Die Bahnverbindung, die zuweilen als 'rollende Seidenstraße' bezeichnet wird, verdeutlicht „die große wirtschaftliche Dynamik, die sich entlang der Neuen Seidenstraße bereits entwickelt hat oder ihr Potential noch entfalten wird“, so der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Mai 201616. Der größte Vorteil dieser Verbindung ist die Verkürzung der Transportzeiten: Über den üblichen Seeweg sind die Waren mehr als 40 Tage unterwegs, in Duisburg kommen sie schon nach 15 Tagen an. Demgegenüber ist der schnellere Transport auch teurer, weswegen die volle Kapazität dieser Verbindung noch nicht ausgelastet ist.

Viele andere Gebiete der wirtschaftlichen Aktivität in China sind unter der Ägide der Neuen Seidenstraße zu größerer Bedeutung auch für die Außenpolitik geworden. Dazu gehört der Ausbau der Infrastruktur auf dem Gebiet der Energiegewinnung und -verteilung ebenso wie grenzüberschreitende Glasfaserkabel, transkontinentale Unterwasser-Kabelverbindungen und Satelliten-gestützte Informationskanäle. Eine besondere Beachtung findet auch international das von China entwickelte und jetzt forciert exportierte Modell der speziellen Industrieparks, die jetzt in Ländern wie Indien, Belarus, Kasachstan und Sri Lanka entstehen sollen – und schwerpunktmäßig entlang der Seidenstraße. Schon früher war versucht worden, Industrieparks außerhalb von China einzuführen (zum Beisiel in Ägypten), aber unter der Regierung Xi wurde dies noch einmal forciert – obwohl die Effizienz und Attraktivität solche Zonen in China selbst schon wieder angezweifelt werden – sie bringen nicht immer den erwarteten Profit.17

Vage Visionen

Mit Ausnahme der im engeren Sinn infrastrukturellen Ziele (die ja zum Teil schon erreicht sind) bleiben die allgemeinen Ziele, die mit dem Mammutprojekt erreicht werden sollen, immer noch relativ unklar. Nach einer Aussage von Xi auf dem letzten Parteitag (Herbst 2016) werde dies erst 2050, also zum 100. Jahrestag der Gründung der Partei, genauer definiert werden.

Das lässt Raum für Vermutungen und Muße für eine eher theoretische Betrachtung des Projekts, denn die verschiedenen Äußerungen der chinesischen Führung18 sind zwar eine Art Werbung für das Projekt im internationalen Rahmen, lassen aber doch Rückschlüsse auf die Vorstellungen oder vielleicht sogar Visionen zu, die mit dem Projekt verknüpft werden, abgesehen von allen „Risiken und Nebenwirkungen“.

Folgt man diesen für eine kritische Öffentlichkeit aufbereiteten Formulierungen, soll OBOR nichts weniger sein als ein „neues Modell internationaler Kooperation und globaler Governance19“, das Modell „einer ausgeglichenen regionalen ökonomischen Kooperations-Architektur“, man spricht sogar von einer (neuen und speziellen) „multilateralen OBOR-Diplomatie“.20


Jetzt werden Autobahnen gebaut. Bild xinhua

Es fällt auf, dass China in den letzten beiden Jahren immer häufiger internationale öffentliche Plattformen entweder selbst organisiert oder besucht, um OBOR zu propagieren, als sei dieses Projekt auch eine neue Regierungsform oder Staatstheorie oder gar politische Ideologie. „Wenn man davon ausgeht, dass OBOR ein work in progress-project darstellt, das in die verschiedensten Richtungen entwickelt werden kann, erscheint die Anzahl der potentiellen Gipfeltreffen und Kooperations-Konferenzen unbegrenzt. […] In vieler Hinsicht ist OBOR ein allgemeines Diskussionsthema, um das Zusammenkommen der verschiedensten internationalen Akteure, die für China interessant sind, zu erleichtern, mit denen man dann weitere bilaterale Themen besprechen kann, neben der formellen OBOR-Agenda.“21

Es scheint, als wolle China mit OBOR auch eine Art Einladung an die ganze Welt oder an potentielle Partner verbinden, in diesem vagen Ideenraum eigene Beiträge zu liefern oder für sich im Hinterkopf zu haben, die dem ganzen neben der Monumentalität und Globalität auch eine theoretische Welt-Bedeutung verleihen. könnten So kann jedenfalls Elemente der OBOR-Propaganda verstehen, die von chinesischen Regierungsvertretern, allen voran Xi Jinping, immer wieder betont werden, und die man in die folgenden Punkte zusammenfassen kann:
- OBOR ist eine Initiative, nicht eine Strategie.
- OBOR ist offen, jedes Land ist willkommen.
- OBOR nützt nicht nur der chinesischen Wirtschaft, sondern auch den Interessen aller Länder, die involviert sind.
- OBOR ist nicht ein Gegenentwurf zu nationalen Plänen und Initiativen, sondern es soll sie ergänzen.
- OBOR ist auf natürliche Weise ökonomisch, nicht eine Sicherheits- oder geopolitische Strategie und gehorcht nicht offiziellen Anweisungen.22

Gegen die naheliegende Vermutung, dies seien nur Werbesprüche für ein riesiges Geschäft, das eigentlich beworben werden soll, spricht die Tatsache, dass man für die Ausarbeitung dieser, sagen wir einmal, propagandistischen Modellierung des OBOR-Projekts in China drei Jahre lang gebraucht hat, von 2013 bis 2015. In dieser Zeit wurden, unter der Leitung der NDRC, in allen Institutionen Diskussionsforen eingerichtet, Konferenzen organisiert und Delegationsreisen veranstaltet, um Vorschläge, Ideen, Fragen und Kritiken zu sammeln. Darüber hinaus sind ausländische Partner, etwa die Anrainergebiete der Seidenstraße oder Handelspartner, ebenfalls in diesen Diskussionsprozess eingebunden. Dabei fungiert die Regierung in Beijing anscheinend vor allem als Aufsichtsinstanz.

Bei der Beurteilung der Bedeutung scheinbar unwichtiger oder nur regionaler Konflikte im südostasiatischen Raum sollte stets die Rolle mitbedacht werden, die sie vielleicht im Rahmen von OBOR spielen könnten, und zwar nicht nur als konkreter Teil eines wirtschaftlichen Projekts, sondern auch als Hintergrundfolie für einen Traum, eine Idee, oder auch eine Utopie, für deren Realisierung in China jedenfalls ungeheure Mittel eingesetzt werden.

Anmerkungen:
1 Wikipedia, Artikel „Seidenstraße“. Dieser Artikel und das Buch von Hans-Joachim Klimkeit: Die Seidenstraße, Köln 1990 sind die Hauptquellen der vorliegenden Darstellung der frühen Geschichte der Seidenstraße.
2 Dieses frühe Eindringen christlicher Elemente in China wurde im 14. Jahrhundert nach der Niederschlagung der Mongolenherrschaft beendet. Die eigentliche Verbreitung des Christentums vor allem in Südostasien erfolgte mit der Kolonialisierung. Vgl. Klimkeit, S. 83.
3 Klimkeit, a.a.O. S. 87
4 Vgl. Peter Hopkirk: Die Seidenstraße, Paul List Verlag, München 1986, S. 42
5 So Martin Uebele von der Universität Groningen in einem Gastbeitrag, veröffentlicht in iwd kompakt, (Institut für die deutsche Wirtschaft), 22.10.2016, www.iwd.de/artikel/was-china-mit-der-neuen-seidenstrasse-wirklich-will-306326/
6 Vgl. Jörg Kronauer in Konkret 8/2016
8 Vgl. Alice Ekman: China's New Silk Road: A flexible implementation process. In: Ekman, Nicolas, Seaman et al. (ed.) Three years of China's New Silk Road, Etudes de l'IFRI, Februar 2017, S. 9-16
9 Um 1280
10 So der Globalisierungsforscher David Arase von der Universität Nanjing, zit. in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27.12.2016
11 Transports Internationaux Routiers, TIR. Ein in Genf 1975 beschlossener multilateraler Vertrag, der die Formalitäten für den internationalen Transport von Waren auf der Straße erleichtern und regulieren soll. Den Regelungen dieses von der UNO überwachten Vertrags sind bis Januar 2017 69 Staaten und die EU beigetreten.
12 Uebele, a.a.O.
13 Was zwei Vorteile hat: Man befindet sich stets einem viel schwächeren Partner gegenüber und man kann die Partner gegeneinander ausspielen.
14 Ueberle, a.a.O.
15 So Birger Nicolai in Die Welt, 16.01.2014.
16 Zit. nach Konkret, a. a. O.
17 Ekman, a. a. O. S. 11
18 So z.B. eine Rede von Xi Jinping bei einer Veranstaltung der UNO in Genf am 18.01.2017, die unter dem Titel stand: „Work Together to Build a Community of Shared Future for Mankind“.
19 Ich lasse hier den englischen Begriff stehen, zu dem es keine eindeutige deutsche Entsprechung gibt. Bezeichnet wird damit eine Regierungs-, Amts- bzw. Unternehmensführung oder auch Lenkungsform, allgemeiner: das Steuerungs- und Regelungssystem für die Leitung von Institutionen, häufig von Staaten. (Wikipedia)
20 Zitate aus dem im März 2015 veröffentlichten offiziellen OBOR-Aktionsplan, nach Ekman, a. a. O., S. 15
21 ebda.
22 Ekman, a. a. O., S. 13

veröffentlicht im Vietnam Kurier 3-4/2016

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