Über Vietnam reden - in Italien

Fortschritte und Rückschritte in der Solidarität


Sandra Scagliotti

„2013 und die Zukunft der Solidarität mit Vietnam“, das kennzeichnet ohne Zweifel ein wichtiges Thema, und eine Debatte vorzuschlagen über die Beziehungen mit dem Land, das wir alle lieben, bedeutet eine Herausforderung für alle diejenigen, die seit langer Zeit intensiv daran gearbeitet haben, die viertausend Jahre alte Kultur dieser außergewöhnlichen Nation bekannt zu machen und zu fördern sowie über ihre Vergangenheit, ihre Erfolge, ihren Aufbau, ihre Kreativität und die Entwicklung ihrer künstlerischen Werke zu informieren.

Das Jahr 2013 markiert darüber hinaus einen wichtigen Wendepunkt für Italien – das dieses Jahr das 40jährige Jubiläum des Beginns der diplomatischen Beziehungen mit Vietnam feiert: Vom Januar bis zum Dezember, von Rom bis Palermo und in den Regionen, die dazwischen liegen, überall und zu jede Zeit wird jetzt über Vietnam gesprochen. Auch wenn das Haupt-Motto solcher Gespräche vor allem das business ist, so muss doch Vietnam auch in seiner ganzen wunderbaren Komplexität gesehen werden: Bräuche und Traditionen, Landschaften, Musik, Kunst und Tanz – auch muss an die Verbindungen zwischen Vietnam und unserem Land in schwierigen Zeiten erinnert werden. Italien hat während des Kriegs und unmittelbar danach die Solidarität mit Vietnam hoch gehalten, was jedoch vor allem durch die Bürger unseres Landes geleistet wurde. Da­ran hat kürzlich der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Vietnams bei seinem Besuch in Rom erinnert:

„Auch wenn sie geographisch sehr weit auseinander liegen, haben Vietnam und Italien über eine sehr lange Zeit Kontakte und die gegenseitige Verständigung gepflegt. Im Gedächtnis von Generationen von Vietnamesen ist immer noch das Bild der Australe lebendig, jenes Freundschaftsschiff, wie es vom Hafen von Genua im Jahre 1973 ausläuft, voll beladen mit Nahrungsmitteln, Medikamenten und wichtigen Bedarfsgütern, alles Geschenke des italienischen an das vietnamesische Volk.“

Dieses Freundschaftsschiff ist zu einem schönen Symbol geworden für die Solidarität und Freundschaft, an das die Vietnamesen immer noch mit Respekt denken. Eine sehr große Anzahl von Italienern bekennen sich noch heute dazu, zur „Generation Vietnam“ zu gehören, zu einer Generation, die aufgewachsen ist unter dem Zeichen der Ideale der Vietnambewegung, d. h. der Bewegung, die das kämpfende Vietnam unterstützte. Damals war es relativ einfach, Leute zu mobilisieren, vor allem auch junge – es war die Zeit, in der Vietnam im Zentrum der politischen Diskussionen stand, und in der seine Ziele allgemein anerkannt waren: Wiedervereinigung und Unabhängigkeit. Sobald jedoch der Krieg zu Ende war, wurde es immer schwieriger, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Vietnam zu lenken.

In unserem Land – wo das Interesse und die wissenschaftliche Aufmerksamkeit immer schon geringer waren als in anderen europäischen Ländern – stellt sich das Problem, nach dem Verschwinden der Solidarität im Kampf und in Zeiten des schwierigen Aufbaus unsere Erfahrungen, unser Wissen und die Beziehungen, die wir haben knüpfen können, einer neuen jungen Generation zu vermitteln. Dies war eine der Hauptaufgaben, denen sich unsere Organisation gewidmet hat. Es gab, und das muss man mit bedenken, seit Anfang der 1980er Jahre auch in unserem Land ein wachsendes Desinteresse bei den Medien. Dies hat sich vor allem darauf ausgewirkt, dass es kaum neue junge Wissenschaftler gab, die sich mit Vietnam beschäftigen wollten.

Aus diesem Grund hat die nationale Vereinigung Italien-Vietnam – vor allem, das muss betont werden, dank der Anstrengungen ihres Vorsitzenden Ettore Masima, eines engagierten Intellektuellen, der mit unserer Hilfe zum enthusiastischen jungen „Vietnamologen“ geworden war – beschlossen, ein Zentrum für Vietnamstudien in Italien zu gründen, dem eine Bibliothek beigeordnet ist. Damit sollten junge Interessierte angezogen werden, vor allem Studenten, die die Vorlesungen über Vietnam besuchten, die ich an der Universität von Turin hielt, mit Unterstützung durch die großen Gelehrten Enrica Collotti, Giuseppe Morosini, Francesco Gatti und Michelgulielmo Torro. Da wir keine Unterstützung in Form von Personal und Finanzmitteln erhielten, war dies eine Aktion der Solidarität – was auch für unsere Agent Orange-Aktionen gilt, die immer noch laufen.

Wir begannen eine Newsletter Mekong zu veröffentlichen, aus dem dann eine Zeitschrift wurde mit dem Titel Quaderni vietnamiti (Vietnamesische Hefte). Dann organisierten wir informelle Treffen und wissenschaftliche Vorträge innerhalb und außerhalb der Universität. Die Berufung eines vietnamesischen Honorar-Konsulats im Jahre 2009, das ich die Ehre habe zu leiten, hat uns die Knüpfung von Verbindungen mit Vietnam stark erleichtert und uns Interessenkreise von verschiedenster Art eröffnet: Touristen, Unternehmer, Adoptivfamilien, und es ergaben sich viele Kontakte. Aber es handelte sich dabei um ein Publikum, das nicht dauerhaft zu binden war: Es klopfte bei uns an und ging dann wieder.

Die italienischen Institutionen allgemein sind nicht besonders sensibel, wenn es um die Kultur und die wissenschaftliche Erschließung im internationalen Rahmen geht – und die kürzliche Krise hat diese Situation verschärft. Daraus folgt, dass unsere Aussichten auf öffentliche Förderung äußerst begrenzt sind. Demgegenüber haben wir mit der Zeit gute synergetische Beziehungen knüpfen können: mit vietnamesischen und italienischen Universitäten, mit anderen Organisationen (etwa der Industrie- und Handelskammer des Piemont oder Organisationen wie Asia major, Osservatore Asia sowie anderen Freundschaftsgesellschaften mit Cuba etc.) Diese Kontakte haben es uns ermöglicht, das Bild eines neuen Vietnam und die Idee der Kooperation zu verbreiten.

Trotzdem ist unsere Gesellschaft nicht mehr so aktiv wie damals. Es gibt zwar noch örtliche Gruppe in Rom, Mailand, Venedig, Genua, aber deren Aktivitäten sind spontan und haben nicht die notwendige Effektivität. Es sind, das müssen wir eingestehen, zumeist Feste und Feiern, oder Galaempfänge anlässlich des Tet-Festes. Solche Ereignisse werden von den jeweiligen Komitees regelmäßig mit großem Eifer organisiert. Vielleicht kann man darin ein Zeichen der Zeit sehen. So blieb die Hauptaktivität bis 2000 beschränkt auf die gemeinsame Arbeit zwischen der Freundschaftsgesellschaft und dem Studienzentrum.

Fragen ohne Antworten

Unsere Freundschaftsgesellschaft, die in Turin beheimatet ist, hat natürlich nicht ihre ursprünglichen Ziele vergessen. Sie ist sich jedoch bewusst, dass sie sich heute einer allgemeinen inneren und äußeren Lage gegenüber sieht, die von vielen Veränderungen geprägt ist. Wir sind, natürlich, immer noch eine beliebte und unabhängige Gesellschaft. Sie ist sich jedoch der Hauptschwierigkeit bewusst, die darin besteht, junge Menschen anzuziehen – und zwar als Interessierte und als aktive Mitglieder. Was die sozialen und politischen Initiativen angeht, so haben wir erhebliche Schwierigkeiten. Es hat – nicht nur in unserem Land – einen Verfall des Bildungswesens in Schule und Universität gegeben. Junge Italiener interessieren sich allgemein nicht mehr sehr stark für die internationale Politik oder die sozialen Fragen einer globalisierten Welt.

Unser nationales Erziehungswesen hat seit Jahrzehnten seine „edlen“ Ziele vernachlässigt. Es nähert sich immer mehr dem Modell des industriellen „Konsums“ und erzieht passive Konsumenten. In unserem Land muss man deshalb einen starken Niedergang des Ni­veaus der Erziehung und vor allem der kulturellen Bildung konstatieren – dies wirkt sich sogar auf die Gesetzgebung aus. Italien steht im internationalen Vergleich auf einem der letzten Plätze, was Investitionen in Kultur und Bildung betrifft. Es ist nicht meine Absicht, ein Horrorgemälde unserer kulturellen Situation zu entwerfen, aber man muss feststellen, dass mehr als 50 % der Einwohner Italiens Schwierigkeiten haben, schriftliche Informationen zu verstehen, und vielen gelingt das nicht einmal mit gesprochenen Informationen.1

Parallel dazu sind auch in Vietnam tiefgreifende Veränderungen im Gange. Das Land ist in das System der Weltwirtschaft integriert, die sich in einem Prozess der totalen Globalisierung befindet. Vietnam führt seine Politik des doi moi fort, was übersetzt soviel bedeutet wie: „sich verändern, um neu anzufangen”. Die Herausforderungen, Widersprüche, Schwierigkeiten und Erfolge dieser vietnamesischen Politik können nicht getrennt von den internationalen politischen und sozialen Fragen gesehen werden. Wir müssen diesen Prozess aus der vietnamesischen Perspektive sehen lernen, ihn genau verfolgen, verstehen und dann auch an den aktuellen Debatten teilnehmen, die in Vietnam darüber hinaus mit Leidenschaft geführt werden. Sie gehen uns alle an und nicht nur die Spezialisten.

So gesehen hat unsere Freundschaftsgesellschaft nicht die Kraft, einem solchen aktuellen Diskurs in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen, und damit eine adäquate politische Informationsarbeit zu leisten. Und dazu genügt es nicht, mit derselben Leidenschaft, der gleichen Aufopferungsbereitschaft weiter zu machen wie früher. Die Mitglieder des Vorstands sind überdies alt und es gibt keine Nachfolger. Es muss auch ein großes Desinteresse der Medien erwähnt werden, begleitet von der Vermittlung einer ungenauen Darstellung der laufenden Entwicklungen, und dies trotz der Tatsache, dass Vietnam einen wichtigen Platz einnimmt in den internationalen Beziehungen und dass eine wachsende Anzahl von Italienern das Land als Touristen besucht. Es ist unserer Freundschaftsgesellschaft auch nicht gelungen, unter den jungen Wissenschaftlern, die über das Thema arbeiten, neue Mitglieder zu gewinnen. Zudem setzen sich immer weniger Studierende in wissenschaftlichen Arbeiten mit Vietnam auseinander. Und diese konzentrieren sich dabei auf wirtschaftliche Themen in der Hoffnung, so leichter eine Stelle in internationalen Unternehmen zu finden.

Und die Zukunft?

Für die Vereinigung Italien-Vietnam ist jetzt, glaube ich, die Zeit einer Erneuerung, eines italienischen doi moi gekommen. Aber innerhalb unserer Organisation sind die Meinungen darüber geteilt und diejenigen, die die Erneuerung wollen, wissen nicht, wie man dabei vorgehen soll. Es gibt sogar Mitglieder, die der Meinung sind, es „habe keinen Zweck mehr, die Solidarität weiterzuführen“. Wenn es, wie kürzlich geschehen, ausgerechnet Vietnam ist, das Solidarität übt und die Bevölkerung der Emilia Romana mit Geldspenden unterstützt, die Opfer eines großen Erdbebens geworden waren, so verwirrt das viele. Nur die Solidarität mit den Opfern von Agent Orange ist eine unbestritten positive Aktion, an der sich alle örtlichen Aktivisten beteiligt haben und beteiligen.

Was die offiziellen italienisch-vietnamesischen Beziehungen angeht, so ist Vietnam beliebt als privilegierter Partner unserer Unternehmen; Aber unsere Unternehmen tun nichts darüber hinaus, sie sind nur an Geschäften interessiert. Eine Zusammenarbeit findet so gut wie nicht statt. In diesem Zusammenhang erleben wir einen Boom neuer Organisationen, die sich auf Vietnam beziehen, Vietnamhäuser und Wirtschaftsorganisationen entstehen. Und sie nehmen unsere Existenz nicht zur Kenntnis, auch nicht, dass wir für sie von Nutzen sein könnten. Das ist typisch italienisch: Dem großen Trend folgen, aber jeder für sich. Wir haben kein Talent zur Systematik.

Eine „glorreiche“ Vergangenheit lebt immer noch weiter im Gedächtnis der älteren Mitglieder, ihr Stolz auf die Aktivitäten, die sie in der Vergangenheit entfaltet haben ist groß. Sie sind aber gleichzeitig verunsichert, was die Gegenwart betrifft. Es gibt also eine gewisse Spaltung, die von dem vagen Gefühl begleitet ist, aus der Mode gekommen zu sein, und einer ebenso vagen Ahnung, dass sich etwas ändern muss. Aber es geht nicht ums reine Überleben. Nach meiner Meinung wäre es besser, unter diese lange Geschichte einen Schlussstrich zu ziehen, von diesem Anachronismus Abschied zu nehmen.

Aber es ist schwer, Vorschläge zu machen. Man kann allenfalls einige Hypothesen formulieren. Wir müssen unsere Gesellschaft – die offen, volksnah und unabhängig bleiben muss – weiter öffnen, in Form der Eröffnung von Begegnungsangeboten vor Ortund sie attraktiv gestalten (Musik?, Theaterdarbietungen?, Ausstellungen? Kunsthandwerk?). Das Internet... es bietet neue Möglochkeiten, über die nachgedacht werden sollte. Unsere Zeitschriften, unsere Flugblätter sind interessant, aber wir können sie aus Geldmangel nicht genügend weit verbreiten. Eine Verbreitung über das Internet dagegen erreicht viele Menschen.

Zum Abschluss nehme ich Zuflucht zu einem Zitat von Nguyen Khac Vien:

„Weder die Entwicklung des Handels noch die Entwicklung des Tourismus reichen aus, um eine neue Ära eines neuen Verständnisses zwischen den Völkern und zwischen den Nationen herbeizuführen. Die ökonomischen Beziehungen können dazu Voraussetzungen, aber nur eine kulturelle gegenseitige Durchdringung kann dauerhafte Grundlagen schaffen. Denn nur die kulturellen Produkte tragen das Erkennungszeichen der nationalen Besonderheit.“

Danke euch allen..

Sandra Scagliotti ist Vorsitzende der Freundschaftsgesellschaft Italien/Vietnam,
Leiterin des Centre d'études vietnamiennes
und Konsulin der SR Vietnam in Turin.
Sie konnte leider nicht zum Workshop kommen.
Sie hat uns ihren obigen Beitrag schriftlich zukommen lassen.
Übersetzung Günter Giesenfeld

veröffentlicht im Vietnam Kurier 2/2013

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