Vietnamesische Versöhnung

Eine Rezension mit Rückblicken von Wilfried Seipp

Die Überschrift dieses Artikels ist auch der Titel des im Argumentverlag erschienenen Taschenbuches, das hier besprochen werden soll. Da ich, der Rezensent, mit dem Autor befreundet bin und selbst eine Zeitlang mit ihm zusammen in Hue berufstätig war, ergänze ich die Buchbesprechung auf Anregung der Redaktion gern durch eigene Erinnerungen und Gedanken.

Prof. Dr. Erich Wulff, der Autor dieses Buches, ist allen Mitgliedern der Freundschaftsgesellschaft gut bekannt, denn er war als Vorgänger von Günter Giesenfeld viele Jahre ihr Vorsitzender. Er ist inzwischen emeritierter Universitätspsychiater, war zuletzt Lehrstuhlinhaber für Sozialpsychiatrie an der Medizinischen Hochschule Hannover – und ist einer der besten Kenner Vietnams. Er war von 1961 bis 1967 als akademischer Lehrer an der Medizinischen Fakultät der Universität Hue tätig, lernte die vietnamesische Sprache und hat sich mit zunehmendem Engagement – nach seiner Rückkehr auch in aller Öffentlichkeit – für die nationale Befreiungsbewegung eingesetzt. Beim Russell-Tribunal gegen den amerikanischen Vietnamkrieg Ende 1967 in Roskilde (Dänemark) trat er auf Einladung von Jean Paul Sartre als Zeuge auf. Der mit hohen Idealen erfüllte „Linke“ wurde als besonders aktiver Vertreter der antiimperialistischen Bewegung schnell international bekannt und machte sich auch als Marxismusforscher einen Namen.

Seine schicksalhafte Verstrickung in den Buddhistenaufstand am 8. Mai 1963 in Hue gegen das von Amerika eingesetzte und ausgehaltene Diem-Regime führte dazu, dass Wulff zu den Kräften des zentralvietnamesischen Reform-Buddhismus enge Beziehungen entwickelte. Er und der angesehene  Vorsteher der Tu-Dam-Pagode von Hue, Thich Tri Quang, wurden Freunde. Leider gelang es ihm nicht, diesen damals noch jungen, charismatischen Buddhistenführer an die Seite der Nationalen Befreiungsfront zu bringen.

Erich Wulff hat unter dem Pseudonym „Georg W. Alsheimer“ zwei wichtige Bücher geschrieben: Vietnamesische Lehrjahre (1968) und Eine Reise nach Vietnam (1979), beide erschienen im Suhrkamp-Verlag. Besonders die Lehrjahre erregten damals Aufsehen  und haben der internationalen Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg Schubkraft gegeben.

Die beiden Beziehungen, seine kompromißlose Parteinahme für die Befreiungsfront (den „Vietcong”) und seine Freundschaft mit den vietnamesischen Buddhisten, machten es geradezu selbstverständlich, daß Wulff jetzt zu einer äußerst wichtigen Veranstaltung nicht nur als Teilnehmer, sondern sogar als Festredner, nach Hanoi eingeladen wurde.

Der Vesak-Tag

Die unter der Ägide der UNO stehende Tagung (Vgl. VNK 2/2008) war für Mitte Mai 2008 angesetzt. Feierlich und weithin sichtbar sollte die Versöhnung zwischen den Institutionen des vietnamesischen Buddhismus und der seit über 30 Jahren herrschenden Einparteien-Regierung herbeigeführt werden. Die bisherige politische Gegnerschaft sollte endgültig begraben werden. Immerhin gelten 80 % der vietnamesischen Bevölkerung als Buddhisten, wenn auch nicht alle an der aktiven Religionsausübung in den Pagoden teilnehmen.

Unter Führung der national-kommunistischen Partei Ho Chi Minhs war 1954, nach der Entscheidungsschlacht von Dien Bien Phu, die fast 100-jährige Kolonialherrschaft Frankreichs abgeschüttelt worden. Mitte der 1970er Jahre gelang dann der nordvietnamesischen Armee und der Nationalen Befreiungsfront Südvietnams die Vertreibung der amerikanischen Supermacht, deren letzte „Berater“ am 1. April 1975 unter blamablen Umständen aus Saigon abziehen mußten.

Der Versöhnungskongreß war nicht ohne Grund auf den genannten Termin gelegt worden. Mitten im Mai – meist am Vollmondstag – wird alljährlich von den Buddhisten in aller Welt das Vesakfest gefeiert. Unter „Vesak“ versteht man die dreifache Geburt des Religionsstifters: Buddhas leiblichen Eintritt in das Leben, seine Erleuchtung und seinen Übergang ins Nirwana.

Auch die zeitliche Nähe des Geburtstags von Ho Chi Minh (19. Mai) spielte bei der Terminplanung eine Rolle. Ho Chi Minh ist übrigens der einzige Revolutionsführer der neueren Zeit, der auch etliche Jahrzehnte nach seinem Tode, nicht nur im eigenen Land, sondern in aller Welt, große Verehrung genießt. Das liegt nicht nur an seiner untadeligen, an den Regeln des Konfuzius ausgerichteten Lebensführung. Vor allem aber unterschied er sich in seinem Handeln diametral von anderen revolutionären Protagonisten des 20. Jahrhunderts, wie etwa Stalin, Mao oder Pol Pot, deren historisches Erinnerungsbild bis ans Ende der Zeiten mit abscheulichen Großverbrechen besudelt sein wird.

Die Einladung ging aus von Prof. Le Manh That, dem Präsidenten des Internationalen Organisationskomitees und Vizerektor der Buddhistischen Universität von Ho Chi Minh-Stadt. Schon bald stellte sich heraus, daß dieser Einlader mit dem damals 19-jährigen Bonzen identisch war, den Wulff am 8. Mai 1963 nach dem Massaker an demonstrierenden Buddhisten in sein Kloster begleitet hatte; schon am Tag darauf war es zu einer gemeinsamen konspirativen Aktion der beiden gekommen: Der junge Mönch brachte einen Brief Tri Quangs an einen buddhistischen Exilpolitiker, den Wulff über einen Mittelsmann ins Ausland schaffen ließ.

Beim Vesak-Tag von 2008 sollten neben buddhistischen Würdenträgern aus aller Welt auch der vietnamesische Staats-Chef und der Ministerpräsident zu Wort kommen. Für Wulff, der sein Referat in Englisch halten sollte, war eine Redezeit von 15 Minuten vorgesehen. Bei der Ausarbeitung des Textes tat er sich schwer. Einerseits wollte er die anwesenden Regierungsmitglieder nicht verletzen, andererseits hielt er es mit seinem Standpunkt der „kritischen Solidarität“ für unvereinbar, bestimmte Fehlentwicklungen der Anfangsphase (Stichwort „Boatpeople“) einfach unerwähnt zu lassen. Außerdem litt er noch an den Kränkungen, die er bei seinem offiziellen Besuch im Jahr 1979 hatte hinnehmen müssen.

Freunde und die Medizinische Fakultät in Hue hatte er seinerzeit nicht auf eigene Faust besuchen dürfen; jeder seiner Schritte wurde vielmehr vom „Genossen Verantwortlichen für ausländische Besucher“ überwacht. Dahinter steckte der damals übertriebene und paranoide Restverdacht, der ausgewiesene Kämpfer auf Seiten der Befreiungsfront sei inzwischen vielleicht doch von der CIA „umgedreht“ worden. Nach Rücksprache mit Günter Giesenfeld entschloß sich Wulff, auch dieses Mal kritische Bemerkungen in seinen Text aufzunehmen. Aber Wulffs vorbereiteter Redetext stieß bei dem Organisationskomitee auf keinerlei Schwierigkeiten; auch bei kritischen Passagen wurden keinerlei abschwächende Änderungen verlangt.

Daß in der Sozialistischen Republik Vietnam die Zensurfalle auch eisern zuschnappen konnte, hatte ich 10 Jahre  vorher (1998) bei den Feiern zum 50-jährigen Bestehen der Universität Hue am eigenen Leibe erfahren. Zu diesem Jubiläum waren auch die ausländischen Gastprofessoren eingeladen worden, die irgendwann eine akademische Lehrfunktion in der Kaiserstadt ausgeübt hatten, also auch das deutsche Ärzteteam, das in  wechselnder Zusammensetzung von 1961 – 1968 die Medizinische Fakultät aufgebaut hatte.

Das Projekt Hue

Ich selbst war 15 Monate, nämlich von September 1966 bis Ende 1967, für das klinische Ressort „Dermatologie und Venerologie“, sowie für die fachliche Betreuung des Leprosariums zuständig. In diesem Team lernte ich Erich Wulff kennen, der dort unter den deutschen Hueten längst zu den „alten Hasen“ gehörte. Der Krieg war damals in beängstigender Weise eskaliert: Die Stärke der amerikanischen Kampftruppen – offiziell immer noch „Advisers“ – hatte die Zahl 500 000 überschritten, Nordvietnam lag im Bombenhagel, und die Wälder und Dschungelgebiete des Südens wurden durch „Agent Orange“, ein dioxinhaltiges Herbizid, zerstört.

Unter diesen Umständen kam im Herbst 1967 aus dem Bonner Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit die Weisung, daß das Entwicklungsprojekt „Aufbau einer medizinischen Fakultät in Hue“ abgebrochen werden müsse. Wir selbst kämpften für den Fortbestand des äußerst erfolgreichen Projekts, erreichten aber nur, daß eine Restgruppe, nämlich Prof. Krainick, Dr. Discher, Dr. Alteköster und Frau Krainick, bis Juni 1968 verbleiben sollte, um eine geordnete Übergabe der Aufgaben in vietnamesische Hände zu gewährleisten. Wir anderen fünf Teammitglieder – Dr. Wulff und ich als Dozenten, Hannelore Discher, Inge Barmeyer und Ilona Wunsch als Medizinisch-technische Assistentinnen – mußten bis zum Jahresende nach Deutschland zurückkehren.

Und dann kam das genannte deutsche Restteam im Februar 1968 in den chaotischen Wirren der Tet-Offensive ums Leben. Die schöne Stadt am Parfümfluß wurde Schlachtfeld und fiel für mehrere Wochen sogar in die Hand der Befreiungsfront. Bei der Wiedereroberung kam es infolge des Einsatzes schwerer amerikanischer Schiffsgeschütze zu umfangreichen und bedauerlichen Zerstörungen, von denen auch kulturell wertvolle Bauten (Kaiserpalast) betroffen waren. Was die Todesumstände unserer deutschen Freunde anbelangt, so hat sich nach Jahrzehnte langem Rätselraten nunmehr die folgende Lesart etabliert: Sie sind wahrscheinlich am Ende der Kämpfe um Hue auf Befehl eines nachgeordneten Kaders der Befreiungsfront durch Genickschuß liquidiert worden. Es hat sich nach allem, was man in Erfahrung bringen konnte, um eine jener Pannen gehandelt, wie sie in jedem Krieg tausendfach vorkommen. Das ergab sich auch aus den Berichten anderer Ausländer, die in Hue ebenfalls in Vietcong-Gefangenschaft gerieten. Sie waren korrekt behandelt und schnell wieder frei gelassen worden. Zu ihnen gehörte auch der deutsche Musikprofessor Söllner. Besonders lobend über ihre Erfahrungen als VC-Gefangene äußerte sich die farbige amerikanische Studentin Sandra Johnson.

Zurück zum Universitätsjubiläum 1998. Ich war der einzige Ausländer, der die weite Reise zu den Feierlichkeiten in Hue auf sich genommen hatte; begleitet wurde ich von meiner damals 17-jährigen Tochter Viktoria. Man bat mich, beim Festakt, der auch vom Fernsehen übertragen wurde, im Namen der ehemaligen ausländischen Lehrkräfte in Englisch ein Grußwort vorzutragen. In den Text, den ich dem Organisationskomitee einreichte, baute ich ein paar Worte des Gedenkens an die deutschen Ärzte ein, die beim beruflichen Einsatz für Vietnam ihr Leben verloren hatten. Über den damals amtierenden vietnamesischen Dermatologieprofessor, der 1967 noch mein Student war, ließ man mich wissen, daß das Jubiläum ein Freudenfest sei. Die Erwähnung des schrecklichen Unglücks würde allen Teilnehmern die Stimmung verderben. Kurz, ohne jeden Protest beugte ich mich der Zensur und löschte die beanstandete Textstelle wieder aus. Unter der Fahne des neuen Vietnam und neben einer Büste von Ho Chi Minh sprach ich am nächsten Vormittag mein Grußwort zur Zufriedenheit der Veranstalter.

Eine neue Reise nach Vietnam

Wulff benutzte seine Reise zum Vesak-Tag auch dazu, um endlich ein Versprechen einzulösen, das er seiner Frau Edith schon in den 1970er Jahren gegeben hatte: ihr nämlich seine geliebte Wahlheimat und alle seine dortigen Wirkungsstätten zu zeigen. Edith ist eine sephardische Jüdin, deren Vorfahren Ende des 15. Jahrhunderts aus Spanien vertrieben wurden und in Algerien gelandet waren. Die beiden haben inzwischen drei erwachsene Kinder: Jonathan, Manuel und als jüngsten Sproß die 1981 geborene Tochter Noemi. Die Mutter und die beiden Buben hatten bis dato Vietnam noch nie betreten; nur Noemi war schon im Land gewesen – sie hatte 2006 ein dreimonatiges Praktikum bei der Vertretung der Europäischen Kommission in Hanoi absolviert. Die Familie profitierte jetzt von ihren frischen Alltagserfahrungen im Umgang mit Behörden, Taxifahrern, in Trinkgeldfragen etc. Sie kannte auch versteckte Lokale, wo es besonders leckere Spezialitäten zu essen gab, zum Beispiel Pho, eine nach Koriander duftende Reisnudelsuppe mit Rind- oder Hühnerfleisch, die keineswegs überall mit gleich gutem Geschmack angeboten wird.

Die Tagung fand im neuen Kongreßzentrum am Stadtrand von Hanoi statt. Zum Tagungsgelände hatte nur Zugang, wer einen offiziellen Teilnehmerausweis um den Hals hängen hatte. Die Kontrollen waren aus Sicherheitsgründen scharf. Kim Lan, eine sonst in München lebende alte Freundin von Wulff, hatte über ihre Beziehungen auch für die Kinder solche Ausweise beschafft, da diese natürlich auf keinen Fall den Auftritt ihres Vaters bei diesem bedeutsamen Ereignis verpassen wollten.

Erich Wulff gehört zu den Menschen – er gibt das in seinen Schriften selbst zu –, die von ihrem Naturell her manchmal mehr Gefahren um sich herum wittern als wirklich vorhanden sind. Da die Erinnerung an seinen letzten Besuch 1979 noch lebendig war, fürchtete er auch jetzt, daß man ihm seine offene Kritik von damals jetzt durch mangelnde Beachtung heimzahlen könnte. Die Befürchtung erwies sich als gegenstandslos. Er wurde mit besonders großem Respekt behandelt und allen wichtigen Honoratioren vorgestellt. Sein VIP-Status wurde während des gesamten Aufenthaltes, besonders auch in Hue, aufrecht erhalten. Man trug ihm seine offenen Worte von 1979 auch deshalb nicht mehr nach, weil die verantwortlichen Führungskräfte in der Regierung und in der Partei die Anfangsfehler selbst eingesehen hatten. Mitte der 80er Jahre wurde mit Verkündung des neuen „Doi-Moi“-Programms das Ruder herum gerissen und ein unerwartet glanzvoller Aufstieg auf wirtschaftlichem Gebiet eingeleitet.

Wie sehr sich Wulff im Vorfeld der jetzigen Vietnamreise trotzdem mit der Furcht vor Desillusionierung und anderen Skrupeln gequält hatte, geht aus seinen Tagebucheintragungen hervor. Dort ist unter dem Datum vom 28. März 2008 zu lesen:

Versuche ich das Unmögliche? Den Kampf der vietnamesischen Kommunisten für Unabhängigkeit, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit und Selbstbestimmung, ebenso wie ihren Sieg weiter zu bejahen, ihn, obwohl in den Jahren danach so viel schiefgegangen ist, nicht nachträglich in Frage zu stellen? Und das, ohne die systematischen Unzulänglichkeiten zu leugnen, die zu absurden Lösungsversuchen der gewaltigen Probleme Anlaß gegeben haben, und dazu noch zu einer Flut desaströser Reglementierungen, zu unnötigen Härten und Unterdrückungen? So gehe ich doch auch mit der Oktoberrevolution um. Aber das in Bezug auf Vietnam zu tun, ist für mich schwierig. Nicht nur, wenn ich bedenke, was sie meinem brüderlichen Freund Huan angetan haben, Lagerhaft und danach bis zu seinem Tod 1988 Ausreiseverbot zu seiner Frau. Sondern auch, wenn ich lese, was mit anderen mir nicht so nahe stehenden Freunden wie Nguyen Ngoc Lan geschehen ist. Dieser stand als Buddhist über Jahre für Frieden und Bündnis mit den Kommunisten ein, war an der Kampagne gegen die Haftbedingungen der 200 000 politischen Häftlinge des Thieu-Regimes beteiligt und wollte nach dem Sieg der Befreiungsfront mit dieser zusammenarbeiten. Das wurde ihm versagt, und auf mehrere Verhaftungen folgten Hausarrest und schließlich ein Überfall auf offener Straße, bei dem er schwere Verletzungen davontrug. Ob ich meine positive Haltung trotzdem durchhalten kann, wird davon abhängen, wie es mit dem Land weitergeht.

Über seinen gelungenen Auftritt beim Versöhnungskongreß schreibt er unter dem 15. Mai 2008:

Ich habe wie immer Lampenfieber. Jetzt bin ich dran. Ich berichte eingangs über den Vesaktag 1963 in Hue, wie ich mehr oder weniger zufällig Zeuge des Massakers geworden bin, wie ich mich in der Folge für die Buddhisten – und gegen Diem und seine Unterdrückungspolitik – engagierte, wie ich mich, als die Buddhisten und meine liberalen vietnamesischen Freunde nicht konsequent genug gegen den amerikanischen Krieg und einen sofortigen Verhandlungsfrieden eintraten, dem Vietcong zuwandte und ihm half, wo ich konnte. Ich erwähne aber auch die katastrophale linksradikale Verstaatlichungspolitik nach dem Sieg Ende der 70er Jahre, die erstickenden Freiheitsbeschränkungen jener Zeit, die ich bei meinem Besuch 1979 zur Kenntnis nehmen mußte, und erinnere auch an die Buddhistenprozesse. Am Ende meines Vortrags gebe ich aus ehrlichem Herzen meiner Freude Ausdruck, die ich jetzt über den zunehmenden Wohlstand des Landes und über die Versöhnung der buddhistischen Gemeinschaft mit der staatlichen Macht empfinde.
Kim Lans Befürchtung, ich würde mit solch einem Beitrag Missfallen erregen, bewahrheitete sich nicht. Edith und die Kinder behaupten sogar, mein Vortag hätte den stärksten Beifall von allen erhalten.

Wieder in Hue

Der Erlebnishöhepunkt dieser Reise stand der Familie Wulff aber noch bevor: Es waren die anschließenden Tage in Hue. Hier wurde des Buddhistenaufstands vom Mai 1963 drei Tage lang in mehreren Festakten, aber auch in Form von Umzügen und Massenkundgebungen gedacht. Im Gegensatz zum Kongreß in Hanoi waren die Buddhisten jetzt quasi unter sich. Die „Vietnam Buddhist Sangha“, der inzwischen dominierende Flügel des politischen Buddhismus, hatte Zehntausende aus Hue und der weiteren Umgebung auf die Beine gebracht, um dem diesjährigen Vesakfest eine weithin sichtbare Bedeutung zu verleihen. Dieser Flügel war es auch, der die Versöhnung und Kooperation mit den Regierenden organisiert hatte. Als in der Menge, auch durch die TV-Reportagen, bekannt wurde, daß zwei noch lebende Zeugen des Massakers vom damaligen Vesaktag leibhaftig anwesend waren, kam es zu Szenen der spontanen Heldenverehrung, was nach Erichs Ansicht etwas übertrieben wurde. Bei den beiden „Helden” handelte es sich um den Buddhistenführer und damaligen Klosterschüler Le Manh That und um das seinerzeitige Mitglied des deutschen Ärzteteams Dr. Erich Wulff.

Was war unter der „Heldentat“, für die Wulff 45 Jahre später gefeiert wurde, zu verstehen? Er hatte am Abend des 8. Mai 63 nach dem Tumult und der Schießerei zusammen mit zwei anderen Dozenten des deutschen Ärzteteams im Hospital gefragt, ob sie sich bei der Versorgung von Verletzten nützlich machen könnten. Ein Pfleger, der Wulff kannte, gab den Hinweise: „Gehen Sie ins Totenhaus !“ Dort fanden sie 7 verstümmelte Kinderleichen, 5 davon ohne Kopf. Einer der beiden Dozenten holte sofort seine Foto-Ausrüstung aus der nahe gelegenen Wohnung und machte serienweise Aufnahmen von dem schrecklichen Fund. Wulff, der ohnehin mit Krainick zusammen am nächsten Tag einen dienstlichen Termin in Saigon wahrzunehmen hatte, ließ dort die Filme entwickeln und besorgte dann die sichere Verbringung des sensationellen Materials ins Ausland. Während des Flugs, besonders beim Aus- und Einchecken, hatte er sicherheitshalber Krainick die Filme in dessen Hosentasche transportieren lassen. Wenige Tage später erschienen die grässlichen Fotos in der internationalen Presse. Die weltweite Empörung markierte den Anfang vom Ende des Diem-Regimes. Bereits einen Monat später fuhr ein Abt der Linh Mu-Pagode in einem klapperigen Auto, das heute noch dort als Ausstellungsstück zu sehen ist, von Hue nach Saigon. An der verkehrsreichsten Kreuzung nahm er den Lotussitz ein, übergoß sich mit Benzin und zündete sich an. So kam es vor den Kameras vieler Auslandsreporter zur ersten spektakulären Selbstverbrennung.

Die Empörung gegen Diem nahm nicht nur in der Welt, sondern auch im eigenen Land, ein Ausmaß an, das auch den Amerikanern zeigte, daß ihr Protegé nicht mehr zu halten war. Als sich im Herbst der Putsch anbahnte, unternahmen der Botschafter Cabot Lodge und die CIA-Leute nichts mehr zu seiner Rettung. In den ersten Novembertagen 1963 wurden Ngo Dinh Diem, der südvietnamesische Präsident, und sein Bruder Ngo Dinh Nhu, der Polizeiminister und Ehemann der damals berühmten Madame Nhu, in den Wirren des Aufstandes in einem LKW ermordet. Die Ereignisse in Hue am Vesaktag 1963 und ihre weltweite Verbreitung hatten diese historische Wende herbeigeführt.

Am letzten Abend von Wulffs Besuch hatte Kim Lan in ihrem Privathaus in Hue eine Party mit Überraschungsgä­sten veranstaltet. Das unerwartete Wiedersehen mit vietnamesischen Weggefährten aus den 60er Jahren war für Erich Wulff bewegend; es flossen mehrmals Tränen.

Zum Abschluß der Reise verbrachte die Familie Wulff noch mehrere Tage in Ho Chi Minh Stadt. Hier stand das Treffen mit Phan, Tuong und Nghi im Mittelpunkt. Bei diesen drei inzwischen alt gewordenen Freunden handelt es sich um besonders wichtige Menschen in Erich Wulffs politischem Leben. Sie waren in den 1960er Jahren seine engsten Vertrauten im Kampf für die vietnamesische Befreiungsbewegung. Bei den jetzigen Gesprächen ging es um die Vergangenheit und die Zukunft des Landes. Erfreulich seien der Erfolg von „Doi Moi“, das Wachstum von Wohlstand und Meinungsfreiheit, sowie vor allem die Tatsache, daß die Vietnamesen nunmehr ihr Schicksal alleine bestimmen könnten. Auch die Reprivatisierung des Kleinhandels und des Handwerks sei nach der rigorosen Verstaatlichung der Anfangsjahre zu begrüßen. Zu bedauern sei die in Spitzenämtern eingerissene Korruption und, daß hohe Ideale des Sozialismus, wie kostenfreies Gesundheits- und Bildungsangebot, nicht realisiert werden konnten. Vietnam sei, was die Zukunft anbelangt – übrigens genau wie China –  zum Schauplatz eines spannenden, an ein Laborexperiment erinnernden Großversuchs geworden, bei dem es um die Frage gehe, wie sich die Alleinherrschaft einer kommunistischen Partei mit einer liberal konzipierten Wirtschaftentwicklung vertrage.

Gemeinsame Lehrjahre

Ich möchte der Buchrezension noch ein paar persönliche Gedanken anfügen. Was eigene Erfahrungen angeht, kann ich mich natürlich niemals mit Erich Wulff vergleichen. Trotzdem waren die 15 Monate Vietnam plus einige Zusatzbesuche für meine Weltsicht von größter Bedeutung. In meinen Memoiren habe ich mit Überzeugung geschrieben: „Ohne Vietnam wäre ich nur eine halbe Portion.“  Daß ich zu dieser Erkenntnis gekommen bin, verdanke ich dem Vertrauen, das mir Wulff 1967 in Hue geschenkt hat. Ich erinnere an folgende Begebenheiten:

Fast alle Deutschen, die Mitte der 1960er Jahre in Südvietnam beruflich tätig waren, sei es als Botschaftsangehörige, als Angestellte des Goethe-Instituts, als Geschäftsleute, als Helfer des Malteser-Hilfsdienstes oder als Ärzteteam, waren irgendwie eingebunden in das damals in der Bundesrepublik herrschende politische Bezugssystem. Und dieses war geprägt von den bundesdeutschen Bündnisverpflichtungen gegenüber den USA. Der hier weit verbreitete Pro-Amerikanismus war verständlich, er ergab sich aus der Nachkriegszeit: Care-Pakete, Luftbrücke, Marshallplan, durch Mauerbau angefachter Antikommunismus und als Ergebnis: klare Position der BRD für den Westen im Kalten Krieg. Als wenn dies selbstverständlich wäre, ließen wir weißen Europäer uns damals in Südvietnam von Transportmitteln der amerikanischen Streitkräfte kostenlos mitnehmen. Ich selbst erinnere mich an abenteuerliche Flüge im Kampfhubschrauber oder in Transportflugzeugen nach Pleiku, Kontum, Keshan, Danang und Qui Nhon. Selbst meine Schwester und meine damalige Frau haben derartige Eskapaden, mit einem amerikanischen Stahlhelm auf dem Kopf, mitmachen dürfen. Daß die US-Dienststellen, wenn es sich irgendwie einrichten ließ, unseren Wünschen gern entgegen kamen, hatte System: man wollte die Weißen in Südvietnam als Verbündete eingemeinden. Wenn unser Botschafter Dr. Koch zu einem Truppenbesuch eingeladen war, steckte man ihn in eine amerikanische Kampfuniform mit Namensaufdruck. Keiner von uns hat 1967 einen Gedanken an die Möglichkeit verschwendet, daß uns der „Vietcong“ auch einmal als Verbündete seiner Feinde behandeln könnte. Nur Dr. Wulff lehnte das beschriebene Verhalten ab: er benutzte grundsätzlich die Zivilmaschinen der „Air Vietnam“.

In unseren Köpfen spielte auch die „Domino-Theorie“ eine Rolle, die in der Präsidentschaft Eisenhowers vom damaligen Außenminister John Foster Dulles mit Blick auf Ostasien erfunden worden war. Wenn ein einziges Land dem Kommunismus zum Opfer fiele, würden die andern Staaten serienweise nachfolgen. Er erinnerte an das Bild von einer Reihe auf die Schmalseite gestellter Dominosteine: – Wenn der erste kippt, fallen auch alle anderen um. Als mir, dem Neuling, zum ersten Mal an den amerikanischen Kriegsmethoden Zweifel kamen, wurde ich von Prof. Krainick und von Dr. Discher emphatisch belehrt: „Die Welt wird es den Amerikanern noch in Jahrhunderten danken, daß sie jetzt Vietnam vor dem Mao-Kommunismus bewahren“. Auch ein anderes politisches Theorem wurde gelegentlich ins Spiel gebracht: die sogenannte „Truman-Doktrin“, die am Anfang des Kalten Kriegs entstand und Amerika dazu verpflichtete, sofort militärisch einzugreifen, wenn sich irgendwo auf dem Erdball der Weltkommunismus geografisch auszudehnen  versucht.

Als ich die Bühne von Hue betrat, fürchtete Wulff, der gern überall Gefahren witterte, daß ich vom „Amt Gehlen“ speziell auf ihn angesetzt sei. Er war nämlich nach seinen gegen das Diem-Regime gerichteten politischen Aktivitäten in Bonn gründlich in Ungnade gefallen und bei einem Besuch im Auswärtigen Amt von einem Ministerialrat in rüder Form gemaßregelt worden. Erich  fühlte mir mit allen denkbaren Tricks, die ich selbst weder bemerkte noch durchschaute, auf den Zahn; er erkannte aber sehr bald, daß ich mit dem Geheimdienst nichts zu tun hatte. In dieser Phase, über die wir uns später amüsierten, faszinierte ihn mein politisches Interesse an den wirklichen Vorgängen in Vietnam. Immer mehr zog er mich ins Vertrauen; ab Mitte 1967 war ich der einzige Kollege im Ärzteteam, der in bestimmte Aktivitäten Wulffs zugunsten der Befreiungsfront eingeweiht war. Er machte mich sogar mit dem Studenten Tiet bekannt, dessen VC-Zugehörigkeit in der Thieu-Zeit aufflog; er mußte dafür mehrere Jahre in einem „Tigerkäfig“ auf der Gefangeneninsel Con Son büßen.

Durch Wulffs Verbindungen zum „Maquis“ (Untergrund) erfuhr ich damals schon viel über amerikanische Sünden, die in der westlichen Öffentlichkeit erst viel später, vor allem durch die „Pentagon Papers“, bekannt wurden: die Behandlung der Bevölkerung in den free strike zones, das brutale Vorgehen bei den search and destroy-Aktionen und die Einrichtung von mit Stacheldraht umzäunten Wehrdörfern (strategic hamlets). Durch letztere Maßnahme wurde der Haß gegen die Amerikaner auch bei Dorfbewohnern, die nicht mit dem „Vietcong“ sympathisierten, geschürt.

In den Städten, auch in und bei Hue, füllten sich die Flüchtlingslager in auffälliger Weise immer mehr. Auch hier kannte Wulff durch seine Beziehungen zu Freunden in Saigon die Gründe: Ein persönlicher Beauftragter des Präsidenten Johnson, Robert Komer, war in Vietnam eingetroffen. Von der US-Botschaft aus leitete er ein von ihm erdachtes „Pazifizierungsprogramm“. Grundgedanke war, in den ländlichen Gebieten möglichst viele Flüchtlinge zu produzieren („to generate refugees“), damit diese nicht mehr vom Vietcong für die Befreiungsfront rekrutiert werden könnten. Offiziell sprach man von „rapider Urbanisierung“, mit der man die rückständigen Bauern aus grauer Vorzeit in  moderne Verhältnisse „katapultieren“ wolle. Erzielt wurden die Flüchtlingsströme durch Bombardements der US-Luftwaffe auf vietnamesische Dörfer.

Im Jahr 1967 erlebte unser Team auch das Auftauchen von Spezialisten einer amerikanischen Denkfabrik, in diesem Fall von der Rand-Corporation. Die Besucher wollten von uns allen Ernstes darüber beraten werden, wie man die „Herzen und Hirne“ der Vietnamesen gewinnen könne. („How can we win the hearts and minds of the vietnamese people ?“)

Im letzten Quartal unseres Vietnam-Einsatzes nahm mich Wulff mit zu seinem Abschiedsbesuch bei Thich Tri Quang. Ich rechne ihm diesen Freundschaftsdienst hoch an, denn für mich war das Zusammentreffen mit dieser interessanten Figur der Zeitgeschichte ein besonderes Erlebnis. Die Begegnung fand auf dem Dachgarten der An Quang-Pagode in Saigon statt. Ich selbst bekam nichts mit von dem politischen Gespräch, da es auf Vietnamesisch geführt wurde. Ich fragte Erich anschließend nach den Ansichten des Mönchs; die Antwort ist mir noch heute in wörtlicher Erinnerung: „Seine Vorstellungen sind, ehrlich gesagt, ziemlich naiv. Er träumt von einem dritten Weg. Die Amerikaner sollten noch etwa zwei Jahre im Land bleiben; bis dahin würden die Buddhisten politisch so stark sein, daß sie allein mit den Kommunisten fertig werden könnten“. Das Foto auf dem Dach der Pagode hat Wulff mit meiner Contax-Kamera gemacht; es zeigt den Rezensenten mit Tri Quang.

Als ich mit meiner Frau Veronika 1989 Vietnam besuchte, fragte ich telefonisch in der Pagode an, ob wir Tri Quang besuchen dürften. Der Bescheid lautete, wir könnten ihn einen Augenblick sehen, aber nicht sprechen. Als wir beide in der Pagode zur verabredeten Zeit an der uns bezeichneten Stelle Aufstellung genommen hatten, öffnete sich in etwa 4 m Entfernung eine fenstergroße Luke. Der Blickkontakt mit dem berühmten Buddhistenführer dauerte eine halbe Minute; seine Augen hatten auch im Arrest nichts von ihrer Strahlkraft verloren.

Wulffs Wohnung wurde in den letzten Wochen seines sechsjährigen Hue-Einsatzes vom vietnamesischen Geheimdienst rund um die Uhr bewacht. Ungeniert wollte man kontrollieren, wer dort aus- und einging. Wenn man ihn auch sonst in Ruhe ließ, hatte er doch Grund zur Sorge: Falls die CIA-Leute Wind von seinem unmittelbar bevorstehenden Auftritt beim Russell-Tribunal bekommen würden, mußte er um sein Leben fürchten. Er bat mich um einen letzten Komplizendienst: ich solle das für Roskilde vorbereitete Material außer Landes bringen. So kam es, daß ich ihn bei seiner Ausreise bis Phnom Penh begleitete. Beim Einchecken in Than Son Nhut (Flughafen von Saigon) in Richtung Kambodscha reihten wir uns weit von einander entfernt in die Abfertigungsschlange ein und mieden so jedes Anzeichen einer Bekanntschaft. Gott sei dank blieben wir aber von einer Gepäckdurchsuchung verschont. Ich kehrte von dort noch einmal nach Hue zurück, da mein eigener Heimflug erst ein paar Wochen später anstand. Als ich dann zu Hause eintraf, hatte ich dank Erich Wulff Einblicke und Erkenntnisse mitgebracht, die meilenweit von den Vorstellungen abwichen, die sich bei deutschen Normalbürgern aufgrund der Nachrichtensendungen gebildet hatten. Die Meldungen waren nämlich samt und sonders durch das Filter des amerikanischen Pressezentrums in Saigon gegangen, welches tagtäglich um 17 Uhr Ortszeit die „Lage“ – natürlich durch die US-Brille – bekannt gab.

Übrigens: Bei der Ausreise aus Saigon mit dem gefährlichen Schmuggelgut waren Erich und ich in unserer persönlichen Beziehung noch „per Sie“. Obwohl auch ohne meine „Beihilfe“ alles gut gegangen wäre, hat das gemeinsam getragene Risiko zu einer lebenslangen Verbundenheit geführt, die auch dann besteht, wenn wir uns einmal jahrelang nicht begegnen. Mir bedeutet die Freundschaft mit Erich Wulff sehr viel; ich möchte sie in meinem Curriculum nicht missen.

Aus den Fehlern der amerikanischen Vietnampolitik könnte viel gelernt werden. Paradebeispiel: Die „Dominotheorie“ hat jahrelang und weltweit das Urteilsvermögen von Millionen normal intelligenter Menschen vernebelt. Vom Gang der Geschichte wurde sie inzwischen als absurde Irrlehre entlarvt.

Erich Wulffs neues Buch ist sowohl ein sehr persönlicher Reisebericht, es gehört darüber hinaus – wie seine Vorgänger – aber auch zu denjenigen Zeugnissen, die es ihren Lesern erlauben, ihren Blick auf die Geschichte zu schärfen und ihr Urteil über geschichtliche Ereignisse zu überprüfen und zu festigen.

veröffentlicht im Vietnam Kurier 3-4/2009

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