Lehren aus der Krise

Müssen wir angesichts der globalen Krise
über neue Entwicklungsmodelle nachdenken?

Tran Dac Loi

Zu dieser Frage hat es in der wissenschaftlichen Diskussion viele Studien und Anregungen gegeben. Sie haben klargemacht, daß wir zunächst über die Natur und die Gründe dieser Krise reflektieren müssen.

Zunächst muß diese Krise, wie von François Houtart1 und anderen fortschrittlichen Wissenschaftlern betont wird, als eine vielfältige betrachtet werden, in der mehrere Krisen aufeinander getroffen sind. Sie ist nicht nur eine der für den Kapitalismus typischen zyklischen Krisen, sondern in ihr ereignen sich mehrere andere, zum Teil qualitativ neue Krisen, wie sie die Menschheitsgeschichte bislang nicht erlebt hat. Diese sind im einzelnen:

    -  eine ökonomisch-finanzielle Krise, die aus Überproduktion, Marktliberalisierung und einer Umwandlung der Wirtschaft in eine Finanzwirtschaft entstanden ist. Das Forcieren einer neoliberalen Politik und spezieller spekulativer finanzieller Aktivitäten sind die unmittelbaren und fundamentalen Gründe für die gegenwärtige Krise.2 Von ihrer Natur her ist diese Krise zwar eine typisch zyklische, gesetzlich geregelte und unvermeidbare Kapitalismuskrise, die jedoch unter neuen Bedingungen stattfindet und neue Elemente enthält. Zu ihnen gehört u.a. die Ausdehnung, das Übergewicht und die dominierende Macht des Finanzkapitals, die mächtigen Fortschritte von Wissenschaft und Technologie sowie der Globalisierungsprozeß. Dazu kommen neu entstehende Wirtschaftsgebiete. Alle diese neuen Elemente charakterisieren die gegenwärtige Krise ebenso wie die zu zu ihrer Überwindung ergriffenen Gegenmaßnahmen. <
    -  eine Energiekrise, die aus dem Verbrauch von fossiler Energie3 in einem Maß herrührt, daß es die regenerativen Kapazitäten der Natur übersteigt oder, mit anderen Worten, das derzeitig dominierende Wirtschaftsmodell ist eines, das vor allem durch den exzessiven Verbrauch von Energie am Leben und Wachsen gehalten wird, mit dem Ausbau der energieintensiven Industrien, der Ausweitung der Liberalisierung des Handels4 und der Bevorzugung des individuellen Verkehrs (Kraftfahrzeuge, private Flugzeuge und Schiffe etc.).
    -  eine ökologische Krise und ein Klimawandel, der von der exzessiven Ausbeutung und Nutzung natürlicher Ressourcen herrührt, was zu Umweltverschmutzung und Störungen des natürlichen Gleichgewichts führt. Die natürlichen Ressourcen sind nach und nach dezimiert worden, die Lebensumwelt wurde immer mehr verschmutzt, und neuerdings treten wieder gefährliche Epidemien auf. Das Abholzen von Wäldern, die Entwicklung von Monokulturen und der exzessive Einsatz von chemischen Substanzen in der Landwirtschaft haben ebenso dazu beigetragen, die Umwelt und die biologische Vielfalt zu zerstören. Wachsende Abgasmengen und die sinkende absorbierende Kapazität der Vegetation und der Ozeane haben zum sogenannten „Treibhaus-Effekt” geführt und zu einer globalen Erwärmung. Entsprechenden Vorausberechnungen zufolge müssen etwa 150 bis 200 Mio. Menschen bis zum Jahre 2050 umgesiedelt werden, alleine wegen des Anstiegs der Meeresspiegel.
    -  eine Ernährungskrise, die von der Spekulation herrührt (als direkte und konjunkturelle Ursache) sowie die Kapitalisierung und Kommerzialisierung der Landwirtschaft (als tief verwurzelte und strukturelle Ursache). Nach Angaben der FAO5 sind allein 2007 und 2008 150 Mio. Bauern in die Armut getrieben worden, weil durch die Spekulation die Preise, die die Produzenten auf dem Markt erzielen können, immer weiter sinken. -  und schließlich eine soziale und humanitäre Krise, die von einer bislang beispiellos ungerechten Verteilung von Ressourcen, Reichtum und Wohlstand herrührt. Nach Angeben des UNDP6 kontrollieren die reichsten 20 % der Weltbevölkerung jetzt 84 % des Reichtums und der Ressourcen der Erde, während die ärmsten 20 % nur zu 1,6 % davon etwas haben. Da die Kaufkraftverteilung sich unaufhaltsam zu Gunsten der Reichen verschiebt, beziehen sich die meisten Aktivitäten in der Produktion und bei den Dienstleistungen auf diese Minderheit. Soziale, ethnische und religiöse Widersprüche sind zur akuten Gefahr angewachsen und die kulturelle und ethische Verarmung wird immer bedrohlicher.

Im Ganzen gesehen ist dies also die Krise eines ganzen Bündels von Entwicklungsmodellen, eine Krise der gesamten gegenwärtigen Zivilisation.

Eine ganzheitliche Lösung

Zur Überwindung dieser Herausforderung sind einfache Maßnahmen zur „Rettung” der Banken und Unternehmen nicht ausreichend und in ihrer Zielrichtung eher kontraproduktiv. Dasselbe gilt für Ankurbelungsaktionen oder Deregulierungen. Nötig ist demgegenüber ein ganzheitlicher Ansatz, der eine klare Erkenntnis der Natur und der tiefen Ursachen der Krise voraussetzt und daraus und angemessene Lösungen ableitet.

Die oben aufgezählten Krisen sind miteinander verflochten, vor allem was ihre tieferen Wurzeln angeht. Die umfassendste Ursache insgesamt ist die exzessive Dominanz eines Entwicklungsmodells, das auf dem Profit beruht und nicht auf der Förderung der menschliche Entwicklung.

Die wichtigste und wesentliche Bewegkraft des Kapitalismus ist die Reproduktion des Kapitals zur Erreichung maximaler Profite und maximaler Akkumulation. Die gesamte Entwicklungslogik des Kapitalismus ist auf diese profitorientierte Perspektive ausgerichtet. Nach Ansicht von François Houtart sind die in der jüngeren Vergangenheit am intensivsten propagierten Hauptkriterien für Entwicklung wie Bruttosozialprodukt, Konkurrenzindex, Kosten-Nutzen-Rechnungen etc. auf den Markt ausgerichtet. Die Erfüllung dieser Kriterien wird direkt am Profit der Kapitalisten gemessen, unter Ausschaltung aller diesen nicht fördernden Aspekte wie Schäden für die Umwelt und soziale Verluste. Die riesigen Kosten, die als Folge des Klimawandels und bei der Rettung der Umwelt entstehen, die Erschließung von neuen und alternativen Energiequellen etc., wurden bislang bei der Bestimmung von Entwicklungszielen nicht berücksichtigt. Ebenfalls nicht eingerechnet wurden soziale Folgekosten wie Epidemien, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, soziale Mißstände, Migration etc. Man kann sagen, daß das hier gemeinte Entwicklungsmodell nur durch das Ziel des „wirtschaftlichen Wachstums” am unmittelbaren Gewinn für die Investoren definiert ist unter Mißachtung der sozialen Verluste und der Nebeneffekte sowohl für die gegenwärtige Gesellschaft, als auch für zukünftigen Generationen. Und man kann hinzufügen, daß der gegenwärtige Reichtum der westlichen Länder zum großen Teil auf einer Jahrhunderte lang angewendeten entsprechenden Entwicklungslogik beruht – von der Sklaverei, dem Kolonialismus, der Aneignung natürlicher Ressourcen und der Zerstörung der Umwelt in dem zuletzt dominierenden Industrialisierungsprozeß bis hin zur derzeitigen ungerechten monopolistischen7 internationalen Wirtschaftsordnung. Diese begünstigt die manipulativen Aktivitäten der transnationalen Konzerne – mit verheerenden Auswirkungen auf die Menschheit und vor allem auf die Länder der Dritten Welt.

Eine wichtiges Element der Entwicklung in den letzten Jahrhunderten ist die Förderung des wachsenden materiellen Konsums. Infolgedessen wird als die wichtigste Maßnahme zur Sicherung des Wachstums der Anreiz zur Nachfrage angesehen, der steigende Absatz von Waren zur Erhöhung des Profits. Endpreisentwicklung, Handelsspanne, Kaufkraft etc. werden zu unverzichtbaren Bedingungen für das wirtschaftliche Wachstum. Die weltweite Verbreitung einer solchen Philosophie hat zur Dominanz von Konsumdenken und zur ungehemmten Verschwendung von Naturressourcen geführt. Nach Schätzungen von Wissenschaftlern würden, um den Lebensstandard der Menschheit auf das gegenwärtige Niveau von Finnland zu heben, vier weitere Planeten von der Größe der Erde nötig sein, denn Naturressourcen wie fossile Öle, Mineralien, Holz und Wasser werden auf unserer Erde bald verbraucht sein. Dies alles setzt dem materiellen Konsum Grenze und bedeutet unwiderruflich das Ende der oben erwähnten Entwicklungsphilosophie.

Die überzogene Expansion der Marktplätze hat, zusammen mit einer unkontrollierten Kommerzialisierung, zu Störungen im natürlichen und sozialen Umfeld geführt. Um den Raum des pro­fitorientierten Handelns auszudehnen, wurden wesentliche Bedürfnisse einer menschlichen Existenz und Entwicklung wie Bildung, Gesundheitsversorgung, öffentliche Dienste und sogar unser alltäglicher Bedarf an Wasser maximal kommerzialisiert. Mit der Verwandlung aller Bedürfnisse in die Form der Nachfrage nach käuflich zu erwerbenden Waren wird die Lebensqualität zunehmend eine Frage des Einkommens, und die soziale Ungleichheit wächst. Mit dem Vorrang des Tauschwerts gegenüber dem Gebrauchswert ist jeder gezwungen, Geld zu machen, wenn er überleben will, und die Hemmschwelle zu ungesetzlichen Handlungen wie das Abholzen von Wäldern oder die Jagd auf geschützte Tiere verschwindet. Diese Politik hat große Teile der Bevölkerung, besonders Bauern und Minderheitenvölker, ihrer ökonomischen Unabhängigkeit beraubt. Sie wurden Objekte der Ausbeutung sowohl was die Kosten, als auch was die Verkaufsgewinne betrifft. Sie sind jeglichen Marktfluktuationen gegenüber wehrlos ausgesetzt. Mit der Kommerzialisierung von kulturellen und informativen Aktivitäten sind die meisten Produkte auch dieser Sektoren zu Waren geworden, die zumeist vulgäre Bedürfnisse befriedigen oder eher unterhaltenden Zwecken dienen müssen und nicht der Bildung einer menschlichen Persönlichkeit.

Liberalisierung und Deregulierung des Markts sind im Grunde politische Maßnahmen, um die Manipulation und Dominierung des Markts durch die großen Kapitalgruppen zu erleichtern und damit ihre spekulativen Operationen zur Erzielung maximalen Profits. Maßnahmen der weitgehenden Privatisierung unter dem Deckmantel der „Kosteneffektivierung” oder des „Wettbewerbs” haben nicht nur den Raum für einen gleichberechtigten Zugang zu für jedermann unentbehrlichen Diensten eingeengt, sondern auch dafür gesorgt, daß sowohl wirtschaftliches Handeln als auch alle Aspekte des sozialen Lebens nun in den Händen von Subjekten liegen, für die nur der Profit zählt. Nebenbei haben diese Maßnahmen zur Festigung eines „sozialen Konsenses” beigetragen, für den das Prinzip „Profit über alles” als eine Rechtfertigung für die wachsende Ausbeutung von Arbeitern und die Zerstörung der Umwelt gilt. Die Formel der „freien und gleichen Konkurrenz” wird verabsolutiert. Auf Subjekte angewandt, die ungleich sind in ihren Möglichkeiten, hat sie unvermeidlich zu Ungerechtigkeiten bei der Leistungsbewertung und der Verteilung geführt. Der abgehobene Handel mit Geld hat die wirtschaftlichen Beziehungen verzerrt und riesige Finanzluftblasen geschaffen, die um ein Vielfaches größer sind als die reale Wirtschaft. Einmal geplatzt, bringen sie – wie jetzt wieder zu beobachten ist – Millionen von Menschen in aller Welt um die Früchte ihrer Arbeit.

Der Prozeß der Globalisierung, der von den westlichen Ländern ausgeht und nur für sie Sinn macht, hat tiefgehende sozialen Störungen radikalisiert und ihre Dauer verlängert. Die westlichen Länder haben über den Weg der Globalisierung ihr oben beschriebenes Modell den Entwicklungsländern aufgezwungen und zwar durch direkte und indirekte Interventionen, durch internationale Finanz-, Währungs- und Handelsinstitutionen, oder durch freie Handelsvereinbarungen. Damit haben sie die Verluste der Metropolen „globalisiert” und der Wirtschaft und der sozialen Sicherheit in den Nationen der Dritten Welt schwer geschadet. Die Liberalisierung von Handel und Investment und eine ungerechte internationale Konkurrenz haben die ökonomische Autonomie der Entwicklungsländer untergraben, ihre Wirtschaften geschwächt und den „Wettlauf nach oben” angeheizt.

Die Wurzeln der Krise

Kurz zusammengefaßt können als tiefere Ursachen der gegenwärtigen Krise benannt werden:

    -  ein Entwicklungsmodell, das sich ausschließlich am wirtschaftlichen Wachstum orientiert und vom Profitstreben geprägt ist und damit Umwelt- und soziale Kosten vernachlässigt. Es beruht auf der Förderung grenzenlosen Konsumwachstums und ignoriert die Grenzen der natürlichen Ressourcen.
    -  ein soziales Modell des Zusammenlebens, das das Geldmachen in den Vordergrund stellt, anstatt einen allgemeinen materiellen Wohlstand anzustreben und für Dienste zu sorgen, die den menschlichen Bedürfnissen adäquat sind. Ein vulgärer Pragmatismus, individuelle Interessen und die verabsolutierte Rolle des Geldes im sozialen Wertesystem haben die ethischen und humanitären Werte verdrängt.
    -  ein operationelles Modell, in dem die freie Konkurrenz als die einzige, natürliche und normale Mensch-zu-Mensch-Beziehung gilt, wodurch eine Einteilung in Gewinner (gewöhnlich die Minorität von Reichen und Einflußreichen) und Verlierer (gewöhnlich die Armen und die arbeitende Bevölkerung) erfolgte.
    -  die Konzentration auf das private Eigentum über die Produktionsmittel und damit auch der natürlichen und intellektuellen Ressourcen in der Hand einer Minderheit als Instrumente der Ausbeutung der Mehrheit.

Ist der Kapitalismus am Ende?

Die natürliche Folge eines solchen Entwicklungsmodells ist ein am Geld orientiertes Modell sozialen Lebens, das vor allem den Interessen der Bourgeoisie und der Reichen dient.8 Diese aktuelle Ausprägung des kapitalistischen Systems ist, wie Samir Amin9 richtig festgestellt hat, soeben in eine Krise geraten, die nicht von Klassenkämpfen herrührt, sondern von einer lang andauernden Anhäufung von Widersprüchen, die dem System inhärent sind, aber noch nie so geballt und dramatisch in ihrem Zusammenwirken aufgetreten sind.

Die Frage, die sich dabei stellt, ist, ob der Kapitalismus zu einem Ende seiner historischen Mission gelangt ist oder nicht. Nach Ansicht der meisten fortschrittlichen Wissenschaftler ist die gegenwärtige Krise nicht geeignet, das kapitalistische System zu zerstören, denn es verfügt immer noch über enorme finanzielle Potentiale und über Erfahrungen aus früheren Krisen. Es profitiert von seiner Rolle als Informationsträger, kann sich auf eine vorherrschend finanzwirtschaftliche Ordnung verlassen, und es kann mit den die Widersprüche verdeckenden Leistungen von neu entstehenden Ökonomien rechnen. Übrigens hat Lenin dazu gesagt: „Der Kapitalismus wird erst zusammenbrechen, wenn eine soziale Kraft ihn dazu bringt”. Eine solche soziale Kraft ist derzeit nicht auszumachen, weder in den kapitalistischen Metropolen noch in der Peripherie. Indessen zeigen die gegenwärtigen Krisen durch ihre besondere Natur Symptome einer Krebserkrankung mit Metastasen, die nicht mit Beruhigungsmitteln zu heilen ist, sondern nur mit einer einschneidenden Operation. Das derzeit existierende kapitalistische System könnte die aktuellen ökonomisch-finanziellen Probleme im Prinzip vorübergehend lösen, aber eine Rückkehr der Krise über kurz oder lang nicht verhindern. Noch weniger ist es dazu in der Lage, die Energie- und Umweltkrise zu überwinden, denn wirklich effektive Maßnahmen müßten gegen die Profitgier als Entwicklungslogik des Kapitals gerichtet sein. Deshalb werden, auch wenn sie einige Modifikationen erfahren sollten, die erwähnten fundamentalen Widersprüche weiter bestehen und die Menschheit in weitere Katastrophen führen. Die Suche nach angemessenen Lösungen als Alternativen zum bestehenden instabilen und inhumanen Entwicklungsmodell bleibt also ein dringendes und gleichzeitig langfristiges Unterfangen.

Ein alternatives Entwicklungsmodell

Auf der Suche nach einem alternativen Entwicklungsmodell müßte die Menschheit für die folgenden Widersprüche Lösungen finden:

    -  für den Widerspruch zwischen den beständig wachsenden Bedürfnissen der Menschheit nach materiellem Konsum auf der einen und den endgültigen Grenzen der zunehmend erschöpften Naturressourcen auf der anderen Seite, also zwischen dem menschlichen Bedürfnis nach Überleben und kontinuierlicher Entwicklung auf der einen und dem Schwinden und der Zerstörung der Lebensumwelt auf der anderen Seite. Dieses Problem betrifft das Verhältnis zwischen Mensch und Natur.
    -  für den Widerspruch zwischen der Anwendung der Marktwirtschaft zur Befreiung und Entwicklung der Produktivkräfte und der Regelung des Systems von Angebot und Nachfrage auf der einen und den Erfordernissen einer nachhaltigen Entwicklung und eines sozialen Fortschritts und der sozialen Gerechtigkeit auf der anderen Seite. Das ist eine Frage der Produktionsorganisation.
    -  für den Widerspruch zwischen der wachsenden Kapazität der Produktion von materiellem Reichtum auf der einen und der immer größer werdenden Konzentration von Reichtum und Ressourcen in den Händen Weniger, also einem sich vertiefenden Graben zwischen Arm und Reich und einer wachsenden sozialen Ungerechtigkeit auf der anderen Seite. Dies ist eine Frage des Eigentums und damit der Verteilungspolitik in einer Gesellschaft.
    -  für den Widerspruch zwischen den Bedürfnissen nach menschlicher Emanzipation und Demokratisierung auf der einen und die Konzentration von Macht in den Händen und im Interesse einer Minderheit auf der anderen Seite. Geld beeinflußt das politische Leben, und die Ausübung der Menschenrechte hängt weitgehend von den ungleichen ökonomischen und damit allgemeinen Lebensbedingungen der Individuen ab. Das ist ein politisches Problem.
    -  für den Widerspruch zwischen materiellen, pragmatischen Wertvorstellungen auf der einen und ethischen, geistigen und humanistischen Werten auf der anderen Seite; zwischen egoistischen, individualistischen und Partikularinteressen auf der einen und den gemeinsamen Interessen auf der anderen Seite. Das sind kulturelle, ethische und geistige Fragen.

Idealistische Vorstellungen

Ein sehr idealistischer, ohne Rücksicht auf Durchführbarkeit und theoretisch formulierter allgemeiner Lösungsvorschlag müßte folgende Elemente berücksichtigen:

    -  Wirtschaft: Die Einführung eines nachhaltigen, menschlich orientierten Entwicklungsmodells an Stelle eines Modells, das ausschließlich dem ökonomischen Wachstum unterworfen ist; die Einführung einer Produktion und von Dienstleistungen, die sich nach den vernünftigen Bedürfnissen des Volkes richten an Stelle von profitorientierter Produktion und Dienstleistungen; ein Wertesystem, das sich an sozialen Forderungen orientiert an Stelle eines Tauschwertsystems, das kommerziellen Zwecken dient; die Propagierung des Respekts vor und der Harmonie mit der Natur an Stelle der Auffassung der Natur als Objekt grenzenloser Ausbeutung.
    -  Produktion: Die Entwicklung fortgeschrittener Produktionskräfte vor allem auf der Grundlage von Wissenschaft, Technologie und menschlicher Ressourcen, zusammen mit einer rationalen Nutzung der Naturressourcen.
    -  Produktionsverhältnisse: Die Absicherung von öffentlichem und gemeinschaftlichem Eigentum an den natürlichen Ressourcen, die Entwicklung öffentlichen Eigentums an Schlüsselsektoren der Wirtschaft, die Entwicklung einer kooperativen, solidarischen Wirtschaft auf der Ebene der Kommunen. Wissen gehört der Allgemeinheit und muß für gemeinsame Interessen genutzt werden.
    -  Distribution: Die Abschaffung der Ausbeutung, der Aufbau einer Ordnung nach der Maxime: „Von jedem verlangen was er zu geben vermag, jedem geben, was seiner Arbeit entspricht.” Allgemeiner Zugang und allgemeine Garantie für jeden auf Überleben und Entwicklung; Hilfe der Gesellschaft in Schwierigkeiten.
    -  Kultur und Soziales: Auf dem kulturellen und sozialen Gebiet gleiches Recht für alle, unabhängig von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, Religion, kultureller Herkunft, ökonomischem Status etc. Gleiche Bedingungen zur Realisierung dieser Rechte; Solidarität, gegenseitige Hilfe, Kooperation und win-win-Beziehungen an Stelle von Wettbewerb und win-lose-Beziehungen; die Vorherrschaft progressiver und humanistischer Ideale und geistiger Werte im sozialen Leben und in den menschlichen Beziehungen.
    -  Politik: Die Entwicklung eines demokratischen politischen Systems frei vom Einfluß durch Macht und Geld, in dem die Volksmacht wirklich die Macht des Volkes ist und ausgeübt wird durch einen Mechanismus des sozialen Konsenses, der auf gemeinsamen Werten und Interessen beruht, mit einem Kern adäquater Qualifikation und geprägt von absoluter Loyalität zu diesen gemeinsamen Werten und Interessen. So kann die partizipatorische Demokratie am besten bei den verschiedenen Schichten der Bevölkerung gefördert werden und eine Einwirkung von außen durch Geldmacht verhindert werden; die Entwicklung individueller Freiheit muß in Einklang mit den Interessen der Gesellschaft und der Menschheit erfolgen. Die Massenmedien müssen dem gemeinsamen Interesse der Gesellschaft dienen und dürfen nicht kommerzialisiert oder privatisiert werden.

Diese Aussagen könnten einige Ziele benennen für eine neue Gesellschaft – eine sozialistische – um die wir uns gemeinsam bemühen.

Ideal und Wirklichkeit

Indessen verlangen solche idealistischen Ziele materielle soziale und politische Voraussetzungen, die erst einmal geschaffen werden müssen in einer ersten, kontinuierlichen und langen Phase des entschlossenen Kampfes. Während ein gemeinsames Einverständnis bei den Zielen erreichbar zu sein scheint, so hängt der Weg, der zu solchen Zielen führt, von bestimmten Bedingungen jedes einzelnen Landes ab, sowohl intern als auch in der Gemeinschaft mit anderen Ländern. Es kann dafür keine allgemein gültige Formel geben und keine universelle Roadmap. Aber gerade diese Unsicherheit liefert für alle Menschen, die sich an der Suche nach Alternativen zu den gegenwärtigen, sich in einer Krise befindenden Modellen beteiligen wollen, Raum für Kreativität.

Die sozio-ökonomischen Modelle des realen Sozialismus in der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern können uns dabei Erfahrungen vermitteln. Sie konnten einige Leistungen vorweisen und einige Erfolge bei der Sicherung der sozialen Verhältnisse, des sozialen Ausgleichs und gewisse soziale Fortschritte erzielen. Sie haben aber ihre Ziele in der Gesamtschau verfehlt, ihre Entwicklung kam zum Stillstand, sie gerieten in eine Krise und kollabierten schließlich. Vor diesem Hintergrund hat der Kapitalismus verständlicherweise eine weltweite aggressive Expansion unternommen, und der klarste Ausdruck dieser Expansion ist die neoliberale Globalisierung, die geraden Wegs in die gegenwärtige Krise geführt hat.

Im Rückblick auf den Wettbewerb zwischen den beiden ökonomischen Systemen des 20. Jahrhunderts gibt es verschiedene Theorien. Die eine sagt: ‚Der Kapitalismus ist eine Gesellschaft ohne jedes Ideal, aber mit einem funktionierenden Mechanismus, während der Sozialismus eine Gesellschaft mit einem Ideal, aber ohne funktionierenden Mechanismus ist’. Eine andere hat formuliert: ‚Die Entwicklung des Kapitalismus ist ein natürlicher Prozeß. Kapitalismus wird aus sich selbst heraus zur Transformation fähig sein, zur Anpassung und einer Entwicklung hin zu mehr Fortschritt, mehr Humanität. Deshalb ist es unnötig, nach einem anderen Modell zu suchen’. Von dieser Seite wird das Konzept eines „Kapitalismus mit Gewissen” propagiert als eine systemimmanente Alternative zum gegenwärtigen inhumanen und gegen die Natur gerichteten Kapitalismus. Vielleicht wäre eine solche Vorstellung in Zeiten der Sklaverei, des Feudalismus oder Kolonialismus in gewisser Weise sinnvoll gewesen. Aber es bleibt die unwiderlegbare Tatsache, daß die profitorientierte Produktion durch die Ausbeutung der Arbeit ein Teil der Natur des Kapitalismus ist. Selbst wenn dieser zur Selbstkorrektur fähig wäre, um seine Existenz mit einem „humaneren” Gesicht zu retten, so könnte er die Widersprüche, die sein Verhältnis zur Natur und zur Gesellschaft prägen, doch niemals ablegen. Wie Karl Marx einst feststellte, hat der Kapitalismus nach und nach die Grundlagen für seinen eigenen Reichtum zerstört, als da sind Natur und Arbeit. Deswegen ist die Suche nach Alternativen, die die offensichtlichen Widersprüche überwinden können, im gemeinsamen Interesse der Menschheit. Dabei muß die Fortsetzung des Prozesses der Emanzipation und die Vervollkommnung der menschlichen Gesellschaft auch das übergeordnete Gesetz der menschlichen Entwicklungsgeschichte sein. Es ist immer ein Streben der Menschheit gewesen, eine bessere Gesellschaft aufzubauen, die auf einem Ideal beruht, das progressive und humane Werte repräsentiert. So sind die do definierten Ziele und Ideale einer sozialistischen Gesellschaft auch heute noch unerreicht und bleiben ein zentrales Motiv unserer Bestrebungen. Darüber hinaus wird die sozialistische Option unter den gegenwärtigen Umständen immer bedeutender angesichts der Krisen und der Sackgasse, in der das kapitalistische Entwicklungsmodell sich befindet. Es geht darum, effektive und durchführbare Mechanismen zu finden für den Aufbau einer realen sozialistischen Gesellschaft, die imstande ist, die positiven Erfahrungen des Kapitalismus zu nutzen und seine Irrwege zu vermeiden.

Eine sozialistisch orientierte Marktwirtschaft

Bis heute hat die Menschheit kein effektiveres Instrument für wirtschaftliches Handeln gefunden als den Marktmechanismus. Die Marktwirtschaft begünstigt die Befreiung der Produktivkräfte, ermutigt Investitionen in Produktion und Handel, reguliert das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage etc., und spielt insofern eine wichtige Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung. Wenn indessen der Hauptantrieb des Markthandelns der Profit ist, wenn die überwiegenden Beziehungen auf dem Markt die von Kaufen und Verkaufen und von Wettbewerb sind und die dominante Kraft das Geld ist, dann ist das Markthandeln in vieler Hinsicht unvereinbar mit den gemeinsamen Interessen der Gesellschaft, vor allem wenn es um soziale Gleichheit geht und ein umweltfreundliches Entwicklungsmodell. Deswegen muß der Markt auf eine Weise organisiert, geführt und verwaltet werden, die seine positiven Wirkkräfte unterstützt und das begrenzt, was an ihm negativ ist im Hinblick auf die Förderung einer gerechten und nachhaltigen Entwicklung.

Eine sozialistisch orientierte Marktwirtschaft müßte die folgenden Hauptmerkmale aufweisen:

Der Markt muß eine vernünftige räumliche Ausdehnung haben und es muß Harmonie herrschen zwischen dem Markt-Platz und dem öffentlichen (nicht marktbezogenen) Raum.

Der Markt muß sich in einer angemessenen Position und einer vernünftigen Dimension entfalten können, er muß die Arbeitsproduktivität und -effizienz erhöhen, materiellen Wohlstand produzieren und Dienste anbieten, die den Entwicklungsbedürfnissen der Gesellschaft entsprechen. Da das Marktprinzip negative Aspekte aufweist, sollte der öffentliche (nicht marktbezogene) Bereich kontinuierlich ausgeweitet werden, damit allen Bürgern der Zugang, die Inanspruchnahme und der Erwerb der zur Befriedigung der Grundbedürfnisse benötigten Dinge ermöglicht wird, und zwar in unterschiedlichen Formen des Eigentums und mit freien öffentlichen Diensten. Der Raum für den Markt und der öffentliche Raum könnten in einer verzweigten Koexistenz auf verschiedenen Feldern wirken, in einem Verhältnis, das vom Entwicklungsstand der jeweiligen Gesellschaft abhängt.

Ein Beispiel dafür sind Probleme, die mit der Arbeit zusammenhängen. Im traditionellen Modell der Marktwirtschaft müssen wir die Existenz eines Arbeitsmarktes akzeptieren, wo die Arbeit zu einer Ware wird, die zum Profitmachen genutzt werden kann. Aber Arbeit hat nicht nur einen Warenwert. Den Arbeitslosen mangelt es weder an Arbeitsfähigkeit noch an den Voraussetzungen, arbeiten zu können; Die Existenz einer großen Zahl von Arbeitslosen stellt eine riesige soziale Verschwendung dar und schließt einen Teil der Bevölkerung aus dem Entwicklungsprozeß aus. Außerdem braucht die Gesellschaft nicht nur produktionsorientierte Industriearbeit, sondern auch viele andere Arten von Arbeit, die zwar keinen Profit bringen können, aber trotzdem der Gesellschaft nützen, so etwa der Umweltschutz, sanitäre Einrichtungen, die Aufrechterhaltung von öffentlicher Ordnung und Sicherheit, der Kampf gegen Epidemien und Naturkatastrophen, der Aufbau und die Leitung von öffentlichen Einrichtungen wie Altenpflege und Behindertenbetreuung, etc. Deswegen dürfen wir uns nicht allein auf den Arbeitsmarkt verlassen, sondern sollten aktiv Arbeit organisieren, die im öffentlichen Interesse liegt, und damit das Bedürfnis nach Arbeitsplätzen bedienen und die Verschwendung von Arbeitskraft vermeiden. Damit reagieren wir auch auf diejenigen legitimen Bedürfnisse von Gemeinschaft und Gesellschaft, die außerhalb der Reichweite des Marktes liegen. Politisch bedingte Arbeitsleistungen können auch auf dem Arbeitsmarkt vermittelt werden, wenn dort eine Nachfrage besteht. So bedienen wir nicht nur angemessen die Bedürfnisse der Bürger nach Beschäftigung und Lohn, sondern bieten ihnen auch einen positiven Platz im Entwicklungsprozeß und vermeiden negative Machenschaften und soziale Mißstände. Liegt hier, in der Behandlung der Arbeit in der Übergangsperiode, nicht bereits ein fundamentaler Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus?

Denn die Entwicklung und dauerhafte Expansion des nicht marktgebundenen gesellschaftlichen Raums und die Verbesserung der im öffentlichen Interesse liegenden Dienste in den nichtökonomischen Bereichen des sozialen Lebens sind bereits ein Kriterium und ein Maßstab für sozialen Fortschritt.

Der Markt, der vom sozialistischen Staat im gemeinsamen Interesse geleitet wird, muß eine Perspektive zur Verwirklichung von Zielen einer gerechten und nachhaltigen Entwicklung und einer stufenweisen Entwicklung zum Sozialismus aufweisen.

Der Markt ist kein neutrales Instrument. Der Begriff eines „perfekten” oder „modernen” Markts betrifft nur seine „technische Qualität”, während die Orientierung auf seine Funktionen von der Frage abhängt, wer die Macht ausübt und zu welchem Zweck. Der sozialistische Staat hat die Aufgabe, ein legales Regelsystem zu entwickeln, eine Politik zu betreiben und seine administrativen und regulativen Funktionen so auszuüben, daß die Operationen des Markts auf die Erreichung der gesellschaftlichen Ziele ausgerichtet sind. Der Markt hat zwar seine eigenen Regeln, die beachtet werden müssen, aber der „Respekt vor den Marktgesetzen” sollte nicht über den Interessen der Gesellschaft stehen. Auch die vielen ständigen Interventionen ins Marktgeschehen von Regierungen selbst in entwickelten kapitalistischen Ländern bestätigen dieses Prinzip. Ein sozialistisch orientierter Markt sollte sich von einem kapitalistischen Markt unterscheiden, und zwar durch die Aufrechterhaltung eines klaren, freien Verhältnisses von Angebot und Nachfrage sowie die Verhinderung von spekulativen Aktivitäten. Er garantiert einen fairen Wettbewerb, der hauptsächlich auf Produktivität und Qualität beruht, und vermeidet damit die Praxis, daß „die großen Fische die kleinen auffressen”.

Aufgaben eines sozialistischen Staates

Der sozialistische Staat muß eine Harmonisierung von wirtschaftlichem Wachstum und Entwicklung auf der einen und dem Umweltschutz und der vernünftigen Nutzung der natürlichen Ressourcen auf der anderen Seite anstreben und damit eine nachhaltige Entwicklung sichern. Umwelt- und soziale Kosten müssen angemessen bei allen Investitionen und Entwicklungsprogrammen und -projekten berücksichtigt werden. Boden, Wasserquellen und andere natürliche Ressourcen sind Rohstoffe und Produktionsmittel, die aus der Natur stammen, sie können nicht beliebig vermehrt werden. Es muß also Maßnahmen geben, die den verschwenderischen Gebrauch von natürlichen Ressourcen eindämmen und tatkräftig alle Aktionen unterbinden, die zur Zerstörung der Umwelt und der Artenvielfalt führen.

Der sozialistische Staat sollte die Lebensqualität als ein wichtiges Wachstumskriterium bestimmen. Wenn ein gewisser angemessener Lebensstandard erreicht worden ist, muß schrittweise von der „Regelung der Nachfrage” zur „Stimulierung der Nachfrage” und der Verbesserung des Lebensstandards übergegangen werden. In der Produktion, im Handel und in den Dienstleistungen müssen dann die Ziele modifiziert werden. Der Gebrauchswert soll dann immer wichtiger werden als der Tauschwert.

Der sozialistische Staat sollte die Beziehung zwischen Industrialisierung und Urbanisierung auf der einen und der landwirtschaftlichen und ländlichen Entwicklung auf der anderen Seite harmonisieren. Die Landwirtschaft dient nicht nur der Produktion von Waren, sondern muß auch den Lebensunterhalt der Bauern sowie deren Kultur und Umwelt sichern. Industrialisierung und Urbanisierung sollten in Einklang gebracht werden mit der vorrangigen Entwicklung einer Infrastruktur und der Verbesserung des Lebensstandards und der Bildungsmöglichkeiten der Menschen, die auf dem Lande leben, um die Entwicklungsdifferenz zwischen urbanen und ländlichen Gebieten auf ein Minimum zu reduzieren.

Der sozialistsiche Staat sollte die internationale Wirtschaftszusammenarbeit im Sinne der Maximierung interner Synergieeffekte und in Beachtung der nationalen ökonomischen Souveränität ausbauen. Dabei muß ein Hauptaugenmerk auf dem gegenseitigen Nutzen und darauf gelegt werden, daß die Interessen einander ergänzen und auch gegenseitige Hilfe beinhalten.

Staatsbetriebe

Der staatliche Wirtschaftssektor, einschließlich der Staatsbetriebe, bildet das ökonomische Instrument, mit dem der Staat direkt an den Marktaktivitäten teilnimmt mit dem Ziel, staatliche Aufgaben im Interesse der gesamten Gesellschaft zu übernehmen. Der Staat mag ein Monopol haben in Bereichen der Sicherheit und er mag eine beherrschende Rolle spielen in wesentlichen makro-ökonomischen Bereichen wie Naturressourcen, Energie, Finanzen, Information, öffentliche Kommunikation etc. und er mag aktiv teilhaben (auch ohne eine dominante Rolle zu spielen) in Bereichen, in denen eine großer Teil der Bevölkerung direkt betroffen ist wie die Produktion und Versorgung mit Düngemitteln, landwirtschaftlichem Material und Baustoffen, oder auch der Handel mit Lebensmitteln etc. Dasselbe gilt für die Infrastruktur und solche Industriezweigen, die wesentlich für die wirtschaftliche Entwicklung sind, deren Aktivitäten aber vom privaten Sektor nicht übernommen werden können. Er investiert in die Entwicklung der Produktion und des Handels in ländlichen und Berggegenden und abgelegenen Gebieten, er wird auch aktiv in Bereichen, die unverzichtbar sind für die sozialen Bedürfnisse, aber vom privaten Sektor wegen zu niedriger Gewinne vernachlässigt werden. Er investiert in Forschungen zur Förderung der Produktivkräfte

Staatliche Unternehmen sind Mehrzweck-Einheiten, die auch für den Profit arbeiten, diesen aber nicht über alles stellen. In der Regel werden sie wirtschaftlich als weniger effizient eingeschätzt als private Unternehmen. Aber auch in dieser Hinsicht sind nicht alle Staatsbetriebe unproduktiv. Das ist in der Praxis in vielen Ländern bewiesen worden, darunter auch bei uns. Ineffizienz, negative Praktiken und Korruption in den Staatsbetrieben wurden in den meisten Fällen durch unwissenschaftliche und intransparente Management-Mechanismen verursacht, durch unqualifiziertes Personal und eine schlechte Vertriebspolitik. Diese Dinge sind auch heute noch ein Problem, weil wir unsere Aufmerksamkeit zu lange ausschließlich auf die Eigentumsfrage konzentriert haben und dabei die Verbesserung der Management-Mechanismen ebenso vernachlässigt haben wie die Maßnahmen im Personalbereich und beim Absatz. Die Verspätung, mit der solche Probleme angegangen wurden, hat bei den Staatsbetrieben auch begünstigt, daß in diese vielen Fällen zu Geldbeschaffungsinstrumenten für eine Handvoll Individuen wurden, zum Nachteil der Interessen der Gesellschaft. Das hat dem Ruf der Staatsbetriebe geschadet und sogar zu Forderungen nach ihrer Abschaffung geführt. Das wäre falsch, stattdessen müssen wir sie durch Reformen zur Wiedererlangung ihrer Produktivität bei der Erfüllung ihrer aktiven Rolle unterstützen.

Der Staat als ein Kapitalist im öffentlichen Interesse kann aktiv in nichtstaatliche Betriebe investieren, um auch da die Produktivität zu steigern, die Dienstleistungen zu verbessern und die Rolle des Staates zu stärken in wichtigen ökonomischen Sektoren.

Periode des Übergangs

In der Periode des Übergangs, in der wir uns derzeit noch befinden, können sozialer Fortschritt und Gleichheit noch nicht ganz erreicht werden, und ein Graben zwischen Reich und Arm besteht weiterhin. Der Prozeß des Übergangs zum Sozialismus besteht auch darin, die Gesellschaft stufenweise gleicher und gerechter zu machen, bis schließlich die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abgeschafft ist. Auch eine kapitalistische Gesellschaft kann Annäherungen an den sozialen Fortschritt aufweisen, aber eher passiv und zur Abwehr von Druck, der von sozialen Auseinandersetzungen ausgeht. Infolgedessen sind solche Fortschritte langsam, diskontinuierlich und nicht nachhaltig. Da das kapitalistische System darauf ausgerichtet ist, in erster Linie den Interessen der Bourgeoisie zu dienen, wird der Graben zwischen Arm und Reich immer tiefer.

Demgegenüber betrachtet die sozialistische Gesellschaft die menschlichen Wesen als zentrale kreative Gestalter und als Nutznießer des Entwicklungsprozesses. Aktiv fördert sie das gesellschaftliche Wohlergehen als den wichtigsten Teil der ökonomischen Entwicklung. Obwohl wir das legitime Streben nach Reichtum durch die Bürger anerkennen und ermutigen, müssen wir in Bezug auf die gesamte Gesellschaft Anstrengungen machen, den Hunger zu beseitigen, die Armut zu bekämpfen, den Unterprivilegierten zu helfen und dafür zu sorgen, daß der Mindestlebensstandard der gesamten Bevölkerung steigt.

***

In der Übergangsperiode haben wir noch keinen ausgewachsenen Sozialismus; kapitalistische und sozialistische Elemente existieren miteinander verflochten und gleichzeitig. Sie ergänzen einander und stehen zugleich im Wettbewerb miteinander, und zwar nicht nur in allen Bereichen des sozialen Lebens, sondern auch in den Gedanken und in der Wahrnehmung der Menschen. Der Aufbau des Sozialismus ist eine ständiger Entwicklungsprozeß, bei dem die sozialistischen Elemente expandieren und sich konsolidieren und damit eine zunehmend dominierende Rolle im sozialen Leben spielen. Dies ist ein Kampf, der hundert Jahre lang dauern kann. Er setzt Kontinuität und Konsequenz der politischen Maßnahmen voraus. Und er ist ein gewaltiges Unternehmen, das die Unterstützung und aktive Teilnahme breiter Schichten der Bevölkerung erfordert, unter der kreativen Leitung einer politischen Kraft, die ausreichende Kapazitäten, Weisheit, Willenskraft und absolute Loyalität zu den sozialistischen Idealen aufweist. Dieser Weg ist mit Schwierigkeiten und Herausforderungen verbunden, vor allem in Zeiten, in denen der Kapitalismus die wichtigsten Ressourcen monopolisiert und die Verhältnisse in der ganzen Welt geprägt hat. Aber nur der Sozialismus kann der Menschheit eine bessere Zukunft bringen. Eine Gesellschaft mit Idealen ist nötig und erreichbar, und sie ist mit Sicherheit besser als eine ohne Ideale, die nur auf der Gier beruht. Wie Rosa Luxemburg einst sagte, haben wir nur die Wahl „zwischen Sozialismus und Barbarei”.

Anmerkungen:
1 François Houtart ist ein katholischer Priester und Soziologe, der an der Katholischen Universität von Louvain-la-Neuve (UCL) in Belgien lehrte und dort das Centre tricontinental leitet. Er hat mehrere Bücher und viele Aufsätze u.a. über Vietnam veröffentlicht. Sein Institut gibt eine Buchreihe alternatives sud heraus. Vgl. VNK 2/2000
2 Die derzeitigen Transaktionen von weltweit täglich über 2.000 Mrd. US-$ gehen nur zu 5 % in Investitionen und Handel, d.h. Produktion und Konsum. Der Rest ist Finanzspekulation.
3 Untersuchungen haben ergeben, daß die Weltreserven den Bedarf an Erdöl noch etwa 40 Jahre lang befriedigen können, beim Gas 60 Jahre, bei der Kohle 200 Jahre und beim Uran 1,2 Jahre – wenn die ganze Welt auf die Kernenergie als Alternative umsteigen würde.
4 62 % des Warenaustauschs geschehen derzeit über sehr weite Entfernungen und grenzüberschreitend, was zu einem enormen Energieverbrauch beim Transport führt.
5 Food and Agriculture Organization der UNO, gegründet 1945, Sitz in Rom.
6 United Nations Development Programme, 1965 gegründet, Sitz in New York.
7 Monopol heutzutage heißt: Kontrolle des Zugangs zu Ressourcen, Kontrolle und Manipulation der finanziellen Ressourcen, Kontrolle über die Wissensressourcen, Kontrolle über die globalen Massenmedien, Beherrschung der internationalen Handelsordnung.
8 Sogar in der gegenwärtigen Krise brachten mit Steuergeldern finanzierte „Rettungsmaßnahmen” der Regierungen vor allem den Banken und Finanzgesellschaften beträchtliche Profite ein.
9 Samir Amin ist ein ägyptischer Wirtschaftswissenschaftler, der vor allem Bücher zum Thema Neokolonialismus geschrieben hat. Einige davon sind auf Deutsch erschienen, so z.B. Für ein nicht-amerikanisches 21. Jahrhundert, 2003

Leicht gekürzte Übersetzung aus dem englischen Originalmanuskript: Günter Giesenfeld.
Zwischenüberschriften von der Red.

Kommentar:

Tran Dac Loi ist vielen unserer Mitglieder kein Unbekannter. Im Jahre 2006 hat er uns besucht und an der Mitgliederversammlung teilgenommen. In ihrem zeitlichen Umkreis hatten wir auch eine kleine Rundreise mit ihm organisiert; Auf Veranstaltungen in mehreren Städten, die nicht wie sonst aus einem langen Referat und einer kurzen Diskussion bestanden, sondern aus Diskussionen mit eingestreuten Kurzreferaten, hatte er auf viele politische Fragen auch in Bezug auf die Politik der vietnamesischen Regierung, Rede und Antwort gestanden. Ein Extrakt aus seinen Aussagen wurde im VNK 3-4/2006 veröffentlicht.

Die Redaktion hat lange gezögert, den obigen (bislang unveröffentlichten) Text von ihm zu bringen. Einwände betrafen vor allem die Länge, das sehr abgehobene theoretische Niveau und ein anscheinend mangelnder Bezug zu Vietnam selbst. Das letztere läßt sich leicht widerlegen: Natürlich spricht Loi, wenn er von aktuellen Entwicklungen und Aufgaben spricht, in erster Linie von seinem Land, auch wenn dies nicht ausdrücklich vermerkt wird.

Die anderen Einwände können eigentlich nur unsere Leser beurteilen, und das spricht dafür, ihnen den Text zugänglich zu machen. Deshalb erwarten und erbitten wir in diesem Fall besonders Reaktionen aus dem Kreis der Leser/Mitglieder.

Wir möchten aber wenigstens andeuten, was unserer Meinung nach inhaltlich für den Text spricht:

    -  Natürlich kann man Erkenntnisse über die gegenwärtige Krise auch aus Veröffentlichungen in unserem Land beziehen – vielleicht allenfalls nicht in dieser Konkretheit und Prägnanz. Vor allem wird die Krise hier aber aus einem Blickwinkel von Betroffenen der besonderen Art dargestellt, und nicht aus der Sicht der entwickelten Länder und als Äußerung der Ängste ihrer Bewohner. Dies macht Aspekte der Krise sichtbar, die hierzulande weniger diskutiert werden.
    -  Das Wichtigste aber an dem Text ist, daß er ausführlich, konkret und differenziert darlegt, was man in Vietnam unter „Sozialismus” versteht. Das einmal authentisch erklärt zu bekommen, ist ein oft gehörtes Verlangen auch unter Freunden, z.B. bei Diskussionen unserer Reisegruppen in Vietnam. Uns hat sich dabei die Einsicht ergeben, daß man mit dem Wort, dem hierzulande viel Mißtrauen entgegengebracht wird, in Vietnam eigentlich ganz einfache, und überraschend unideologische Dinge verbindet wie Dienst am Volk und seinem Wohlergehen, Beseitigung von Ungerechtigkeiten, eine sozial wie ökologisch nachhaltige Entwicklung – alles Dinge also, die in der aufgeklärten Diskussion hierzulande als unbestrittene Ziele vernünftiger Politik gelten.
    -  Es wird unmißverständlich klargemacht, daß ein solches Ziel den Grundgesetzen des Kapitalismus zuwider läuft. Dem alternativem Entwicklungsmodell fehlt jedoch vieles von dem, was sonst für uns „Sozialismus” ausmacht: etwa der Klassenkampf oder auch Vorstellungen von der Rolle der Partei oder einer neuen Demokratie.
    -  Der Verfasser formuliert Vorstellungen, die er zurecht „idealistisch” – in einem durchaus klassischen Sinn – nennt. Er hat damit das Privileg, sie nicht der Bewährung in der praktischen Politik und ihren Zwängen aussetzen zu müssen. Insofern könnte man sie „weltfremd” nennen, obwohl im letzten Teil ja durchaus ein Maßnahmenkatalog für die praktische Verwirklichung ausgearbeitet wird.

Die eigentliche Schwachstelle des Textes liegt nach meiner Meinung in seiner Darstellung von politischen Entscheidungsprozessen im „sozialistischen Staat”, die man erschließen muß, weil sie nur in Andeutungen vorkommen. So heißt es am Ende in einer Schlüsselpassage, der Kampf um den Sozialismus, also um eine Idealform der Gesellschaft, die viel mehr humanitäre als marxistische Elemente enthält, müsse geführt werden „unter der kreativen Leitung einer politischen Kraft, die ausreichende Kapazitäten, Weisheit, Willenskraft und absolute Loyalität zu den sozialistischen Idealen aufweist”. Wir hierzulande, die wir lange genug mit Politikern gelebt haben, die Ideale formulieren oder besser menschliche Verhaltensweisen propagieren und ihre Einhaltung von den Bürgern einfordern, ohne ihnen selbst zu folgen, werden mißtrauisch angesichts eines solchen Vertrauens in die staatsführende Elite. Und wir haben dabei aber auch die gegenwärtige Lage in Vietnam vor Augen, die immer noch von Korruption geprägt ist bis in die oberen Etagen von Regierung und Partei, in denen aber auch den hehren Idealen widersprechendes Verhalten durch wirtschaftliche Not gefördert wird, und in denen allzu oft die Forderung nach der „absoluten Loyalität zu den sozialistischen Idealen” zum Vorwand für Einschüchterung und Unterdrückung wird.

So erscheint das Zukunftsmodell allzu sehr geprägt von einem – durchaus idealistischen – Vertrauen in die Integrität der Führung, ohne daß deutlich wird, wie diese erreicht und kontrolliert werden soll. Der sehr instruktiven und scharfsinnigen Analyse der Gegenwart entspricht nicht eine ebenso kritische Untersuchung, ob man wirklich in diesem „Sozialistischen Staat” ohne die Erfahrungen und Errungenschaften der „bürgerlichen” Demokratie auskommen kann. Den überlegenen Erkenntnissen über die grundlegende Funktion des Marktes, entsprechen m.E. in Bezug auf die Demokratie keine ähnlich gründlichen Erwägungen.

Günter Giesenfeld

veröffentlicht im Vietnam Kurier 1/2010

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