Sonderfall Vietnam?

Ein Kommentar von Günter Giesenfeld

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nläßlich des 32. Jahrestages der Befreiung von Saigon am 30. April 1975 begann für die Wirtschaftsmetropole im vereinigten Vietnam eine neue Phase ihrer Geschichte, markiert durch die Umbenennung in Ho Chi Minh-Stadt. Den wirklichen Neubeginn und die wirkliche Zäsur datieren vietnamesische Historiker und Urbanisten jedoch auf 1986, das Jahr der Erneuerungspolitik. Den einschlägigen Zeitungsartikeln ist die allgemeine offizielle These zu entnehmen, daß die Stadt erst mit dieser politischen Wende ihre Chancen auf eine rasante Entwicklung wirklich wahrnehmen konnte. Daß es seither tiefgreifende Veränderungen gegeben hat, konnte regelmäßigen Besuchern nicht entgehen: Die Ufer der beiden Flüsse, die die Stadt durchqueren, waren vor und noch lange nach 1975 mit Slums bedeckt, Gegenden eines Wohnens am Rand des Existenzminimums, teilweise auf Booten, ohne Infrastruktur, in entwürdigender Enge. Sie sind inzwischen, dort jedenfalls, vollständig verschwunden. Im Gegensatz also zu Metropolen in anderen Entwicklungsländern und auch in den industrialisierten Ländern gab es hier ein Abnehmen des prekären Habitats. Wie die Räumung der Flußufer organisiert wurde, ob und wie schnell die Bewohner neue Wohnungen erhielten und wieviel Zwang dabei ausgeübt wurde, ist mir nicht bekannt. Ersichtlich aus dieser Tatsache ist jedoch, daß die vietnamesischen Großstädte in bezug auf ihre urbane Entwicklung einen Sonderfall darstellen.

In den erwähnten Artikeln sind Zahlen enthalten, die dies belegen: Bis 2007 ist die Wohnfläche der Stadt stark gestiegen, wichtiger aber ist, daß nach den vietnamesischen Statistiken heute jeder Bewohner durchschnittlich 11,6 qm Wohnfläche zur Verfügung hat gegenüber 7,4 im Jahre 1985. 85 % der Familien haben Zugang zum Trinkwassernetz. Die Stadt erlebt seit Jahren einen wirtschaftlichen Aufschwung (12 % pro Jahr), und selbst wenn man aus den Zahlen über den Zugang zum Trinkwasser schließt, daß die 15 % der Familien, die keinen solchen haben, in einer prekären Wohnsituation leben, ist dieser Prozentsatz niedrig im Vergleich zu anderen Megapolen auf der Welt.

Das hat damit zu tun, daß die Entwicklung der vietnamesischen Städte überwiegend nicht nach kapitalistischen Regeln erfolgt. Fehler, Fehlentwicklungen und mangelnde Professionalität bei der Stadtplanung (oder die Abwesenheit einer solchen) sind deshalb nicht auszuschließen. Aber es gibt in Vietnam eine städtische und kommunale Verwaltungsstruktur, die stark genug ist, Maßnahmen ohne Rücksicht auf kommerzielle oder private Interessen durchzusetzen. Der zentralisierte Machtapparat im sozialistischen System wirkt sich auch insofern aus, als Maßnahmen von größerer Dimension nicht auf kommunaler Ebene entschieden werden können. Der Staat hat stets ein Wort mitzureden und entscheidet im Zweifelsfall.

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elbstverständlich ist ein solches System anfällig für viele Arten von Fehlern und Versäumnissen, für Bürokratismus, Inkompetenz und Korruption. Und auch wirtschaftliche Interessen finden auf höchster Ebene Gehör, es sind aber dann solche des Staates, nicht unbedingt private. In der letzten Zeit gibt es aber auch regelrechte Machtauseinandersetzungen zwischen Staat/Kommunen auf der einen und Investoren/Privatkapital auf der andere Seite (vgl. etwa den Kampf um die Fernhaltung von Hochhäusern aus dem Stadtzentrum von Hanoi). Was dieses System bei aller Anfälligkeit aber nicht erlaubt, ist jene Machtlosigkeit gegenüber wirtschaftlichen und Kapitalinteressen, die Stadtregierungen in anderen Ländern an einer wirklichen Stadtplanung hindern können. Die in diesem Heft an anderer Stelle beschriebene "Arbeitsteilung" zwischen Investoren, Grundbesitzern und Finanzkapital auf der einen und an chronischem Geld- und Kompetenzmangel leidenden Kommunen auf der anderen Seite, nämlich daß erstere die Gewinne machen und Entscheidungen ausschließlich unter dem Diktat der Rentabilität für sie getroffen werden und weder das Interesse von Betroffenen noch urbanistische Gesichtspunkte dabei zum Tragen kommen, ist hier zunächst einmal vom System her ausgeschossen. .

Vietnam hat also die Chance, Fehler, die andernorts gemacht werden, zu vermeiden und Zwänge, die sich gegen die Interessen der Bevölkerung und ihrem Bedürfnis nach einem menschlichen Wohnen stellen und darüber hinaus solche Ideale oder Visionen von einem kosmopolitischen Ambiente der großen Stadt in der Regel nicht zum Tragen kommen lassen, schon im Ansatz zu verhindern. Nochmals: Das System ist keine Garantie gegen solche Entwicklungen (die dann nur andere Gründe haben), aber es bietet eine sehr viel größere Chance, sie zu vermeiden. Wie weit ist dies in Vietnam gelungen?

Die Diskussionen, die in der Öffentlichkeit über solche Themen geführt werden, sind, soweit sie sich in der mir zugänglichen Presse niederschlagen, nicht gut geeignet, diese Frage zu beantworten. Artikel zum Thema Stadtentwicklung sind in der Regel vor allem auf das ökonomisch Wachstum fixiert. Da gibt es anscheinend auch eine versteckte Konkurrenz zwischen den beiden Metropolen im Norden und im Süden um Exportziffern, um die Anzahl und Höhe von ausländischen Investitionen und nebenbei manchmal um die "Lebensqualität" der Stadt, aber konzentriert auf die Mittel- und Oberschicht, wenn zum Beispiel lobend erwähnt wird, die Hanoier hätten "das elegante Wohnen in der Stadt" entdeckt, oder bei Berichten über den Immobilienmarkt, bei denen steigende Grundstückspreise oder Quadratmeterpreise von Wohnungen ohne weiteres als Fortschritt gefeiert werden.

Aber es gibt auch in der vietnamesischen Presse Berichte, in denen die Schattenseite dieser fürwahr rasanten Entwicklung der Städte Vietnams thematisiert wird. Ein Hauptproblem ist in den letzten Jahrzehnten die Umsiedlung von Menschen, deren Wohnungen aus den verschiedensten Gründen abgerissen werden sollen: weil ein Industriegebiet entsteht, weil eine neue Wohnsiedlung mit Hochhäusern gebaut wird, weil alte Bausubstanz wegen Baufälligkeit oder unrentabler Nutzung von innerstädtischem Boden zerstört wird. Ein Teilproblem dabei ist die Umwidmung von vorher landwirtschaftlich genutztem Boden, wenn Industriekomplexe, neue Wohnviertel entstehen sollen. Alle Berichte hierüber versäumen nicht zu erwähnen, daß die Entschädigung der Betroffenen dabei die Regel ist, meist in Form der Zuweisung einer neuen Wohnung, die laut Gesetz "ebenso gut oder besser" sein muß als die alte. Aber wie die in diesem Heft zitierten Beispiele belegen, sind da oft Theorie und Praxis weit auseinander. Die betreffenden Gesetze bieten den Betroffenen einen weitgehenden Schutz vor Vertreibung, auch ein Mitspracherecht steht ihnen zu. Trotzdem gibt es da sehr oft Auseinandersetzungen, vor allem deshalb, weil von den Behörden gemachte Versprechungen und gesetzliche Zusagen nicht eingelöst werden und die Betroffenen dem Staat deswegen mißtrauen. Oft bedeutet eine solche unfeiwillige Umsiedelung für die Betroffenen einen radikalen Wechsel der Lebensumgebung, die Aufgabe alter nachbarschaftlicher Strukturen auch dann, wenn die neue Wohnung vielleicht besser ist. Es ist vor allem vor dem Hintergrund der traditionellen Lebensformen der Vietnamesen eine komplette Lebensumstellung für einen Bauern, wenn er plötzlich ein (Vor-) Stadtbewohner werden soll, ohne Garten und mit vielen Treppen, die er hinabsteigen muß, um ins Freie zu kommen. Westliche Beobachter, die in Vietnam leben oder häufig dort sind, sprechen sogar von harten Zwangsmaßnahmen bei der Vertreibung der Bewohner, vor allem wenn es sich um teure Prestigeobjekte handelt, bei denen überdies mächtige ausländische Investoren involviert sind, die man nicht abschrecken will (und an denen womöglich korrupte Beamte kräftig mitverdienen).

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ehr große Agglomerationen, Großstädte und Megapolen also, sind nur dann ein Zeichen von menschlich fortgeschrittener Kultur, wenn sie auch ein urbanes (städtebaulicharchitekturales) Gesicht haben. Die herausragenden (hier ist nicht die Höhe gemeint) Bauten, aber auch die Vielzahl der Wohnhäuser, die dieses Gesicht ausmachen, müssen die Besonderheit städtischen Lebens widerspiegeln. Als der Baron Georges Eugène Haussmann, unter Napoleon III. Präfekt von Paris, die gesamte Innenstadt umgestaltete und dafür Tausende von alten kleinen Wohnhäusern niederreißen ließ, um die großen Boulevards durch die Stadt zu schneiden, die sternförmig auf Prachtplätze münden und Großbauten errichtete, auf die ein ungehinderter Blick fallen sollte, wurden gewiß Tausende von Familien in die Vorstädte vertrieben, wo nichts auf ihr Kommen vorbereitet war. Aber er hat damit der Stadt ein einmaliges Gesicht gegeben, das eine ihrer Besonderheiten ausmacht, die sogenannten "Grands Boulevards". Und wir haben uns schon daran gewöhnt, daß außergewöhnliche Baudenkmäler aus alter Zeit mit vielen Opfern bezahlt werden mußten (Angkor, die Pyramiden usw.). Dies wurde in Paris in neuerer Zeit fortgesetzt, durch den Präsidenten Mitterrand, der sich mit vielen avantgardistischen Bauten ("La Défense", Bibliothèque Nationale) einige Denkmäler setzte.

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n Vietnam ist, selbst in bescheidenerem Rahmen, von diesem Aspekt der Urbanisierung fast nichts zu spüren. Die vielen neuen WohnHochhäuser sind so, wie sie sein müssen, wenn sie möglichst viele Menschen beherbergen sollen. Und elegantere Stadtwohnhäuser sind, ebenso wie die traditionelle Neuauflage des klassischen Wohn- und Geschäftshauses, die nur einen Raum breit sind und sich tief nach hinten ausdehnen, von großer Eintönigkeit geprägt, trotz der unterschiedlichen Stuckapplikationen aus vorgefertigten Plastikelementen. Hinter einer protzigen Fassade, verstecken sich schmale übereinandergestapelte Etagen mit Balkons, die griechisch-römisch angehauchte Säulengeländer haben. Fast alle repräsentativen öffentlichen Bauten, die den Charme und die Besonderheit der Stadt ausmachen, sind französischen Ursprungs. Neubauten im sozialistisch-revolutionären Stil (wie etwa das Ho Chi Minh Museum) können ihnen in bezug auf Ästhetik nicht das Wasser reichen. Und aus neuerer Zeit ist mir auch kein repräsentatives Großprojekt bekannt, das einen eigenen neuen vietnamesischen Baustil erkennen läßt (das vor zwei Jahren eröffnete Kongreßzentrum am Stadtrand von Hanoi ist für meinen Geschmack sogar ausgesprochen häßlich). Auch die großen Hotel-Neubauten internationaler Ketten sind so schön und so häßlich wie anderswo auch. Vielleicht setzt sich hier unbewußt eine Tradition fort, die in der Geschichte Vietnams ihr Wurzeln hat. Historische Bauten, alte Pagoden etwa, sind klein und unscheinbar, dafür aber haben sie vollendete Proportionen und sind überaus reich geschmückt. Aber die vietnamesische Kultur war nie eine urbane (im Gegensatz zum Khmer-Reich von Angkor), und nicht umsonst wird von begeisterten Liebhabern Hanoi als "eine große Kleinstadt" beschrieben, und Saigon/Ho Chi Minh-Stadt war eine französische Kolonialmetropole und später ein amerikanisches Vergnügungsviertel.

Alle neuen prominenten Bauten, die nach 1975 etwa in Hanoi errichtet worden sind, haben kein im eigentlichen Sinn "vietnamesisches" Gepräge. Die Luxushotels, die von internationalen Ketten gebaut wurden, sind Hochhäuser, wie man sie in jeder Stadt auf der ganzen Welt finden kann. Sie sind teilweise beeindruckend, vor allem durch ihre Hochmächtigkeit inmitten der alten Stadtstrukturen, aber nicht "vietnamesisch". Was gibt es sonst? Das Ho Chi Minh-Mausoleum ist eine Kopie ähnlicher Bauten in den damaligen sozialistischen Ländern, das Ho Chi Minh-Museum wurde von der Sowjetunion gestiftet und ist architektonisch von Stilrichtungen dieses Landes bestimmt. Beim Neubau des großen Einkaufszentrums, direkt am Hoan Kiem-See gelegen, hat man sich glücklicherweise an der Architektur und den Dimensionen des alten Kaufhauses orientiert, das zunächst durch einen Hotelbau eines ausländischen Investors ersetzt werden sollte. Da die Stadt dessen Wünsche nach einem Hochhaus nicht erfüllen wollte, lag das Filet-Grundstück jahrelang brach, bis die Stadt es zurückkaufte. Ebenfalls am Hoan Kiem-See liegt das sogenannte "Haifischmaulhaus", ein Geschäftshaus in einem japanisch-amerikanisch-europäischen Stil der 1960er Jahre. Aber nicht ihretwegen ist Hanoi eine der schönsten Städte, die ich kenne. Sein Charme liegt in der Mischung aus einem alten Zentrum mit dörflichem Gepräge und einer französischen Provinzstadt mit exotischem Flair. Die Straßen der Altstadt sind nach den heute noch dort ansässigen Handwerksgilden benannt, also Orte städtischen wirtschaftlichen Austauschs, aber die Häuser sind klein und die Gassen eng, ein übersichtliches Habitat mit starker sozialer Prägnanz. Die französischen Viertel sind großzügig angelegt, aber aus den kleinstädtischen Häuserzeilen quillt vietnamesisches Leben auf die breiten Trottoirs.

veröffentlicht im Vietnam Kurier 2/2007

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