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Auch in Vietnam wachsen
die Städte immer schneller

Urbanisierung mit Verspätung

Zusammengestellt von Günter Giesenfeld

"Wenn die Hauptstadt weiterhin städtisches Territorium mit gleichbleibender Geschwindigkeit konsumiert, dann wird 2010 nichts mehr da sein", sagt Nguyen Hong Thue vom Wohnungsbauinstitut.

Diese Voraussage wurde vor dem Hintergrund getroffen, daß die Bevölkerung Vietnams bis zum Jahr 2020 auf mindestens 100 Mio. steigen wird, von denen 70 % in urbaner Umgebung wohnen werden. Von heute 3,5 Mio. qkm wird die von der Hauptstadt bedeckte Fläche bis 2010 auf 2.800 qkm wachsen, mit einer Einwohnerzahl von 5 Mio. gegenüber den gegenwärtigen 3,5 Mio. Das bedeutet für sehr viele Menschen einen abrupten Wechsel zwischen zwei Lebensweisen: einmal, in einem Haus zu wohnen Haus mit einem Garten für die Nahrungsproduktion, und zum anderen, in einem Wohnviertel leben für Menschen, die ihre berufliche Tätigkeit woanders ausüben. Denn es ist ein Kampf um Raum in der Peripherie der großen Städte, wo zumindest auf einem großer Teil des Territoriums die Menschen von der einen zur anderen Existenzform wechseln müssen, wenn sie nicht vertrieben werden. Und dies gilt nicht nur für die beiden großen Städte wie Hanoi und Ho Chi Minh-Stadt. Auch Hafen und Provinzstädte breiten sich aus, legen Industriegebiete an und bauen riesige Wohntürme für die Stadtbevölkerung. Das Problem der Umsiedlung als unausweichliche Begleiterscheinung dieses Prozesses gerät immer häufiger ins Zentrum von Planungen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.

Nach den Regierungsplänen für die Stadtentwicklung von Hanoi sollen bis 2010 110.700 ha bislang landwirtschaftlich benutzten Landes zu innerstädtischem Gebiet umgewidmet werden. Zuvor hatte es bereits bis zum Jahre 2005 eine Periode der Ausbreitung der Stadt um 103.000 ha gegeben. Alle diese eingemeindeten Flächen sind aber inzwischen "aufgebraucht" durch bestehende Projekte für neue Wohnviertel und neue Industriegebiete. Huynh Dang Hy von der städtischen Planungs und Entwicklungsbehörde meint sogar, daß, wenn das Einwohnerwachstum der Stadt weiter so anhält wie derzeit, das Dreifache dieser Fläche benötigt werde. Dies gelte mit unwesentlichen Unterschieden landesweit.

Und es werden Stimmen laut, die davor warnen, "Urbanisierung" dadurch zu betreiben, daß man nur in endloser Reihe Wohnblocks und Hochhäuser baut. "Wenn man eine Reihe von Wohnhochhäusern baut, muß man auch an die Dienstleistungen denken wie Schulen, Krankenhäuser, Märkte und Unterhaltungseinrichtungen" sagt Nguyen Truc Luyen von der Architektenvereinigung. Manche meinen auch, man solle besser ältere, architektonisch uninteressante und schlecht genutzte Stadtgebiete niederreißen und neu und attraktiver bebauen als sich noch weiter ins Umland ausdehnen.

Zwar wird, nach Berechnungen des Ministeriums für Ressourcen und Umwelt, landesweit das kultivierte Ackerbaugebiet bis 2010 auf 9,4 Mio. ha gegenüber 8,8 Mio. ha im Jahre 2000 wachsen. Trotzdem werden die pro Kopf für die Landwirtschaft zur Verfügung stehenden Felder sinken, wegen des Bevölkerungszuwachses. Zudem ist man in dieser Beziehung in Vietnam bereits an die Grenzen gestoßen: Mehr steht langfristig nicht zur Verfügung. Das für die Landwirtschaft zur Verfügung stehende Gebiet kann nicht mehr größer, sondern nur noch kleiner werden. Und die in manchen Gebieten vorgenommene Zerstückelung des Ackerlandes, um mehr Menschen damit auszustatten, führt dazu, daß sich die Landwirtschaft nicht mehr lohnt. In der Provinz Thai Binh haben Bauern darum gebeten, das ihnen zugeteilte Land weder zurückgeben zu dürfen, weil sich damit nichts mehr verdienen läßt.

Experten sprechen davon, daß das urbane Wachstum in Vietnam schneller sei als in jedem anderen Land der Welt. Das mag man angesichts von Zahlen aus Afrika oder Südamerika bezweifeln, aber die Lage stellt sich in Vietnam anders. Hier ist angesichts der dichten Besiedelung die Schwierigkeit, Raum für die Ausbreitung der Städte zu finden ein in jeder Hinsicht wachsendes Problem.

Ein Plan für Ho-Chi-Minh-Stadt

Im letzten Jahr wurde vom Bauministerium ein Entwicklungsplan für Ho Chi Minh-Stadt erarbeitet und der Regierung vorgelegt. Er sieht die Vergrößerung des eigentlichen Zentrums der Stadt von 2 auf 5 Arrondissements (Viertel) vor. In allen vier Himmelsrichtungen sollen geplant Vorstädte entstehen, die verschiedenen schwerpunktmäßigen Funktionen dienen sollen: Industrie, Wohnen, Freizeit etc. Auch der jetzt schon inmitten des Stadtgebiets liegende Flughafen Tan Son Nhut soll durch einen neuen internationalen Airport in der Provinz Dong Nai, 40 km vom Zentrum entfernt, ersetzt werden.

Es handelt sich um einen Plan für eine multipolare Stadt, deren Grundriß sich an Verkehrsachsen orientiert, die gleichzeitig die Tore in Richtung der Hauptverbindungswege sind: Nord-Süd der wichtigste, West zum Meer, Ost nach Kambodscha.

Saigon hat in seiner Geschichte eine Entwicklung durchgemacht, die mit den großen Megapolen der Welt vergleichbar ist. Vor 1975 konzentrierten sich die ökonomischen, finanziellen, kommerziellen, kulturellen oder Erziehungsaktivitäten in jeweils bestimmten Stadtteilen. Schon damals, mehr aber noch nach 1975, gab es eine starke Vermehrung der Einwohnerzahl, und bis 1985 erfolgte diese Ausdehnung ziemlich unkontrolliert.

Seit 1986, der Einführung der doi moi Politik, hat sich das geändert. Zunächst löste die Öffnung nach außen vor allem einen ökonomischen Boom aus, der eine starke Landflucht in die Stadt zur Folge hatte. Seit 1990 hat in 10 Jahren die Einwohnerzahl um 25 % zugenommen, stieg von 4,4 Mio. 1990 auf 5,5 Mio. im Jahre 2002. Man rechnet damit, daß die Stadt im Jahre 2020 10 Mio. Einwohner hat.

Vor dem Hintergrund dieser Aussichten haben sich alle früheren Planungen als unangemessen herausgestellt. Seit 1985 arbeitet man nun am dem erwähnten multipolaren Modell. Die ersten Maßnahmen, die unter diesem Gesichtspunkt in Gang gesetzt wurden, waren jedoch noch von Unfähigkeit beim Management und in der Planung geprägt, was dazu geführt hat, daß nun dabei gemachte Fehler wieder gutgemacht werden müssen.

Eines der großen Probleme ist die dichte Besiedelung großer Teile des Stadtgebiets mit kleinen oder Einfamilienhäusern (fast 80 % des Zentrums). Das hat Engpässe hervorgerufen bei der Planung von städtischer Infrastruktur und bei Bau von öffentlichen Anlagen und Gebäuden. Es gab einfach keinen Platz mehr im Zentrum. Vor allem die Planung des öffentlichen städtischen Personenverkehrs (Busse, evtl. eine UBahn) und die Bereitstellung von Parkmöglichkeiten in der Innenstadt ist dadurch fast unmöglich geworden.

"Jetzt ist die Zeit gekommen, in der wir die Baudichte verringern müssen, vor allem bei den kleinen Wohnhäusern, um Platz für große öffentliche Gebäude und Grünflächen zu schaffen", erklärt der Direktor des nationalen Forschungsinstituts für Architektur, Nguyen Dinh Toan.

Aber nicht nur die Baudichte aus alten Zeiten ist das Problem. Wohnblocks, die vor 1975 gebaut worden sind, müßten derzeit entweder grunderneuert oder abgerissen werden. Das Bauamt von Ho Chi Minh-Stadt teilte im Mai mit, daß fast 140 Wohnblocks aus dieser Zeit so baufällig sind, daß sie in absehbarer Zeit abgerissen werden müssen. Darin leben aber immer noch 14.570 Familien. Im 5. Arrondissement sind derzeit 1.085 Familien in 15 Häusern akut gefährdet. Dort sind schon Mauern zusammengebrochen, ganze Zimmer abgesackt und die elektrischen Anlagen sind entweder lebensgefährlich oder außer Funktion. Man hilft sich mit langen Leitungen aus der Nachbarschaft, mit abstützenden Gerüsten oder repariert in Eigenarbeit die schlimmsten Schäden. Heftige Regenfälle oder ein Erdbeben könnten verheerende Folgen haben. Seit zehn Jahren werden den Bewohnern Wohnungen in Neubaugebieten versprochen. Man nannte ihnen sogar schon die Straßen und Hausnummern der neuen Wohnungen, aber nichts ist seitdem passiert. An den angegebenen Adressen haben die Bauarbeiten noch nicht einmal begonnen.

Kommunale Verantwortliche sagen, an den Versäumnissen seien eine komplizierte und chaotische Bauplanung und Probleme der Finanzierung seitens der Stadt schuld, aber auch die Vorschrift, daß alle Bewohner gefragt und einverstanden sein müssen. Viele Bewohner ziehen die alten verfallenden Häuser vor, anstatt eine neue Wohnung in einem unattraktiven Umfeld vor der Stadt zu beziehen.

Solche Vorkommnisse sind nur ein kleiner Teil des gesamten Problemfeldes. Gleichzeitig mit der wachsenden Urbanisierung wächst der Bedarf an Wohnraum insgesamt. Vor etwa 40 Jahren hätten viele Städte in Frankreich dasselbe Problem gehabt, bemerkt Pierre Huyard, Leiter einer privaten Initiative französischer Architekten in Ho Chi Minh-Stadt. "Wir haben dann Agglomerationen am Rande der Städte gebaut. Natürlich mußte das einhergehen mit der Entwicklung eines modernen Personentransportsystems wie Metro oder Bus. Nur dann sind die Leute bereit, in der Banlieue zu wohnen." Ungeachtet schlechter Erfahrungen in Frankreich favorisiert Pierre Huyard eine Diversifizierung zwischen Zentrum (sozioökonomische Aktivitäten, Arbeiten, Freizeit) und Vorstädten (Wohnen). In Vietnam ist man bemüht, die HochhausWohnviertel in Ho Chi Minh-Stadt und Hanoi durch eigene öffentliche Einrichtungen aufzuwerten. Auch die Erschließung durch Busse oder Bahnen ist noch weit entfernt. Auch deshalb stoßen solche neuen Viertel, wie man sieht, auf Mißtrauen bei einem Teil der Bevölkerung.

Urbanisierung in Vietnam: spät und langsam

Die Urbanisierung in Vietnam ist im Vergleich zu anderen Ländern der Region charakterisiert durch einen verspäteten Start und einen langsameren Rhythmus. Das Wachstum betrug nur 19 % im Jahre 1999 und ist auf 25 % gestiegen bis 2004. Erst in diesem Jahr hat es die Werte der anderen Entwicklungsländer erreicht (Europa und USA 71 %). Außerdem gibt es starke regionale Unterschiede. Auch die geographische und numerische Verteilung von Städten im gesamten Gebiet ist nicht optimal. Es fehlen kleine und mittlere Städte, vor allem in Mittelvietnam. Deswegen müssen die beiden großen Städte die Hauptlast des demographischen Drucks tragen. Wenn sie sich zu schnell vergrößern, behindern sie durch ihre Größe und ihr wirtschaftliches Übergewicht den sozioökonomischen Aufschwung des Landes, tragen zusätzlich zur sozialen Kluft bei.

Quelle: vietnamesische Presse passim.

veröffentlicht im Vietnam Kurier 2/2007

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