Vietnams Verfassungsrevision 2013

Eine Analyse

Jürgen Adam


Am 8. November 2013 unterzeichnete Staatspräsident Truong Tan Sang das Dekret über das Inkrafttreten der Verfassung von 1992 in der Überarbeitung von 2013 (Photo Nguyen Khang/VNA/CdV)

Zunächst, als Erinnerung, noch ein paar Worte zur Entstehung dieser Verfassungsänderung:

Am 28.11.2013 hat die Nationalversammlung (NV) in Hanoi eine umfassende Reform der Verfassung Vietnams beschlossen, die am 1.1.2014 in Kraft tritt. Es ist keine „neue“ Verfassung, sondern eine umfassende Überarbeitung und Erneuerung der bereits 2001 reformierten Verfassung von 1992. Dem Beschluss vom 28.11.2013 ging eine mehrjährige breit angelegte Debatte voraus. Wir haben darüber wiederholt berichtet. Am 2.1.2013 wurde ein erster Entwurf für einen geänderten Verfassungstext vorgelegt. In der Sitzungsperiode Ende Mai/Anfang Juni 2013 debattierte die NV mehrere Tage in vom Fernsehen übertragenen Sitzungen kontrovers über den Entwurf. Die öffentliche Diskussion ging weiter. Die Ergebnisse sollten in der nächsten Sitzungsperiode der NV im Oktober/November 2013 vorgelegt werden. Dies führte zu einem revidierten Entwurf vom 17.10.2013, der der NV zur abschließenden Debatte vorgelegt wurde. Dieser Entwurf ist mit geringfügigen Änderungen mit 486 Stimmen bei 2 Enthaltungen verabschiedet worden. Auch wenn es keine neue Verfassung ist: Es ist eine erheblich geänderte und renovierte Verfassung. Sie umfasst in 11 Kapiteln 120 Artikel (27 weniger als bisher), davon 12 neue. Nur 7 Artikel sind unverändert geblieben.

Vorab ist der Prozess der Verfassungsänderung spannend. Er hat sich nicht in irgendwelchen Hinterzimmern oder akademischen Gremien abgespielt, sondern in einer breiten öffentlichen Diskussion sowohl im parlamentarischen Bereich als auch unter allen interessierten Bürgern und Institutionen

Die Bevölkerung hat von der Möglichkeit, sich – auch über das Internet – zu beteiligen, eifrig Gebrauch gemacht. Bis Oktober 2013 gab es 26 Millionen Meinungsäußerungen, Vorschläge und Kommentare von Einzelpersonen, Institutionen, Verbänden, Gewerkschaften, kommunalen und regionalen Parteiorganisationen. Viele Äußerungen betrafen nicht nur den Inhalt, sondern auch die Form der Verfassungsregelungen. Die Bürger beanstandeten, die Regelungen seien kompliziert, unverständlich, zu akademisch: Auf hochdeutsch: Sie seien nicht eindeutig und für jedermann nachvollziehbar.

Im Februar 2013 legten 72 angesehene Verfassungsjuristen, darunter ein früherer Justizminister, unter Teilnahme auch der staatlichen Medien dem mit der Ausarbeitung der Verfassungsänderungen befassten Ausschuss der NV eine Petition (Petition 72) vor, mit der sie wesentlich weitergehende Verfassungsreformen verlangten als sie der Entwurf der NV vorsah. In der Sache ging es um eine grundlegende Änderung der in der Präambel der Verfassung festgelegten Ziele, um ein auf Parteienkonkurrenz aufgebautes System und die Beseitigung der führenden Rolle der KPV, um eine Stärkung der Grundrechtspositionen der Bürger und deren Durchsetzbarkeit, um echte Gewaltenteilung, eine Neuordnung des Bodenrechts. Die Petition wehrte sich gegen eine Regelung, nach der die bewaffneten Streitkräfte zur Loyalität gegenüber der KPV verpflichtet sein sollen. Schließlich wurde in der Petition eine Volksabstimmung über die Verfassungsreform und eine Verlängerung der Diskussion bis Ende 2013 verlangt. Der Petition war ein eigener Verfassungsentwurf beigefügt. Der Verfassungsausschuss lehnte die Vorschläge und die Veröffentlichung des Verfassungsentwurfs ab.

In ca. 28.000 Versammlungen und Seminaren ist im ganzen Land über die Verfassungsreform diskutiert worden. Der NV haben Berichte über die öffentliche Diskussion vorgelegen. Natürlich hatten die Abgeordneten in ihren Wahlkreisen und Organisationen auch eine unmittelbare Rückkopplung zu den Wählern. Die breit angelegte Diskussion führte dazu, dass die Überarbeitung der Verfassung kein Selbstläufer war. Über viele Fragen wurde heftig gestritten.

***

Ich möchte nun die wichtigsten Änderungen und Ergänzungen der Verfassungsreform vorstellen und bewerten. Ich schreibe aus der Sicht eines kritischen deutschen Verfassungsjuristen, der andererseits die Geschichte und die sozio-ökonomische Entwicklung Vietnams dabei nicht aus den Augen verliert.

Diese Revision der Verfassung von 1992 ist keine neue Verfassung, sondern der Versuch, die Verfassung an neue Entwicklungen anzupassen, bisherige Mängel und Schwächen zu beheben und klarere Strukturen zu schaffen. Der Verfassung von 1992 waren seit der Unabhängigkeitserklärung vom 2. September 1945 in den Jahren 1946, 1959 und 1980 drei Verfassungen vorausgegangen, die jeweils die politischen Verhältnisse und Strömungen ihrer Zeit widerspiegelten und den Aufbau des Sozialismus propagierten. Die Verfassung von 1992 trug der ökonomischen Öffnung in der Folge von Doi Moi teilweise Rechnung, verharrte aber bei vielen programmatischen Formulierungen auf Positionen, die den politisch-ökonomischen Realitäten schon nicht mehr entsprachen. Diese Schere hat sich inzwischen immer weiter geöffnet.

Die jetzige Neufassung hat wahrscheinlich diejenigen enttäuscht, die auf entschlossene und weitergehende Schritte in Richtung auf ein Mehrparteiensystem, mehr Pluralismus und eine Beschneidung der Stellung der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV) gehofft hatten. Damit aber hatte niemand ernsthaft rechnen können. Man muss sich also auf das konzentrieren, was die Reform tatsächlich an Verbesserungen gebracht hat und wo ihre Schwachpunkte liegen.

Eine wichtige Verbesserung ist eine klarere Gliederung und Systematisierung des Verfassungstextes. Dadurch werden aber auch die Schwachstellen leichter sichtbar.

Vieles bleibt ungeregelt

Eine der großen Schwächen liegt darin, dass etliche verfassungsrechtliche Regelungen weitgehend inhaltsleer sind. Somit bleibt dem einfachen Gesetzgeber die inhaltliche Gestaltung überlassen. Ein Beispiel ist die Einrichtung einer Art von Oberster Rechnungsbehörde (State Audit Office) in Art. 118 der Verfassung (Verf.), wo in Abs. 3 vorgesehen ist, dass die Organisation, die Aufgaben und Befugnisse dieser Behörde durch ein Gesetz geregelt werden sollen. Das Gleiche gilt für den nationalen Wahlrat (National Election Council, Art. 117 Verf.). Auch die Artikel über die Grund- und Menschenrechte enthalten z.T. Verweise auf nicht näher spezifizierte einfachgesetzliche Regelungen, durch die diese Rechte relativiert werden können.

So etwas gibt es auch im deutschen Recht, allerdings nicht im gleichen Umfang. Ein besonders krasses Beispiel ist hier das Post- und Fernmeldegeheimnis, das schon nach deutschem Recht ziemlich durchlöchert ist. Zusätzlich unternimmt die deutsche Seite (Regierung, Generalbundesanwalt und deutsche Dienste) keinerlei ernstzunehmende Anstrengungen, um die Aushöhlung dieser Grundrechte durch ausländische Stellen insbesondere aus den USA und Großbritannien zu unterbinden.

Zahlreiche Artikel der vietnamesischen Verfassung enthalten eher programmatische Erklärungen als verbindliche Regeln. Der zentrale Mangel der Verfassung besteht aber darin, dass es an ausreichenden institutionellen Regelungen der Frage fehlt, wie die Einhaltung der Verfassung durchgesetzt werden kann, insbesondere wie der Bürger die ihm von der Verfassung eingeräumten Rechte auch gegen staatliche Stellen durchsetzen kann.

Zwar ist die Einrichtung einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit wie in Deutschland kein zwingendes Erfordernis eines Verfassungsstaats. Viele Staaten kommen ohne sie aus, ohne deswegen Unrechtsstaaten zu sein. Ein Staat wie Großbritannien hat nicht einmal eine geschriebene Verfassung. Aber in Rechtsstaaten ohne Verfassungsgerichtsbarkeit prüfen andere Gerichte, zuweilen die obersten Zivil- und Strafgerichte staatliche Maßnahmen auf ihre Verfassungsmäßigkeit. Auch in Deutschland hat jedes Gericht die Verfassungsmäßigkeit von staatlichen Maßnahmen auf dem Niveau unterhalb der Ebene des förmlichen Parlamentsgesetzes zu prüfen und darüber zu entscheiden. In Vietnam ist davon nicht die Rede. Eine Verfassungsgerichtsbarkeit war nie geplant.

Aber selbst ein sogenannter Verfassungsrat ohne gerichtliche Befugnisse, der in dem Verfassungsentwurf von Januar 2013 in Art. 120 Verf. noch enthalten war, hat die abschließende Beratung des Entwurfs nicht überlebt. Nach dem Entwurf sollte der von der Nationalversammlung (NV) bestellte Verfassungsrat, dem deren Präsident und Vizepräsident und weitere Mitglieder angehören sollten, überprüfen, „ob eine Regelung oder Entscheidung, die durch das Parlament, den Staatspräsidenten, den Ständigen Ausschuss des Parlaments, die Regierung, den Premierminister, den Obersten Volksgerichtshof oder die Oberste Volksstaatsanwaltschaft erlassen wird, der Verfassung entspricht“. Der Verfassungsrat sollte nicht die Befugnis haben, Entscheidungen aufzuheben, sondern lediglich das Recht, die betroffenen Stellen aufzufordern, ihre Entscheidungen zu korrigieren. Selbst das ging der Mehrheit der Abgeordneten der NV offenbar zu weit. Lediglich die Nationalversammlung selbst darf nach Art. 70 Nr. 10 Verf. Entscheidungen anderer höherer Staatsorgane wegen Verfassungswidrigkeit „annullieren“.

Immerhin ist inhaltlich in Art. 119 Verf. klarer als bisher der rechtliche Vorrang der Verfassung geregelt. So heißt es dort in Abs. 1: „Die Verfassung ist das grundlegende und höchste Gesetz der SRV. Alle anderen gesetzlichen Regelungen müssen der Verfassung entsprechen. Alle Verletzungen der Verfassung müssen überprüft werden (shall be dealt with).“

Abs. 2 und 3 lauten: „Die Nationalversammlung und ihre Behörden (agencies), der Präsident, die Regierung, die Volksgerichte, die Volksstaatsanwaltschaften, andere staatliche Behörden und das ganze Volk sollen die Verfassung verteidigen.

Der Mechanismus zur Verteidigung der Verfassung soll durch ein Gesetz geregelt werden.“ Man darf gespannt sein, was in dem betreffenden Gesetz stehen wird.

In den Vorschriften über die Gerichte steht zwar unter den Aufgaben der Gerichte in Art. 102 Abs. 3 auch die Gewährleistung der Menschenrechte und Bürgerrechte (neben allerlei anderen Schutzgütern wie dem „sozialistischen Regime“ und den „Interessen des Staates“). Ein durchsetzbarer und effektiver Grundrechtsschutz ist das aber nicht.

(Es folgt die Behandlung einzelner Abschnitte der Verfassung entsprechend der jeweiligen Systematik. Diese geben wir hier nur auszugsweise wieder. Vollständiger Text in der Druckausgabe des Viet Nam Kurier. Red.)

Die Präambel – und ein Blick zurück

In der Präambel, dem ersten Abschnitt einer Verfassung finden sich grundsätzliche Ausführungen zum Selbstverständnis des jeweiligen Staates. Es ist im Falle Vietnams – wie auch bei vielen anderen Staaten – schwer einzuschätzen, wie weit Teile dieser Texte unter Kategorien wie Nostalgie, Politlyrik, politische Bekenntnisse, Realitätsbeschreibung oder wie auch immer einzusortieren sind. Zum Verständnis muss man die Texte aller vier vietnamesischen Verfassungen heranziehen, also ein wenig Verfassungsgeschichte betreiben. Erst wenn man sieht, was sukzessive weggelassen oder hinzugefügt wurde, erschließt sich dem Außenstehenden die Möglichkeit des Verständnisses für die Änderungen.

Die Präambel der „Urverfassung“ von 1946 war erfüllt vom Geist der Unabhängigkeit und nationalen Befreiung, der Text z.T. inspiriert von Formulierungen der Unabhängigkeitserklärung der USA und von Prinzipien bürgerlicher Demokratie. Von Sozialismus war nicht die Rede. Dieser frühe Staat hieß demgemäß auch „Demokratische Republik Vietnam“. Die 2. Verfassung von 1959 folgte dem Sieg über das koloniale Frankreich, den unerfüllten Vereinbarungen von Genf, der Entwicklung des Marionettenstaates in Südvietnam, den Anfängen des „amerikanischen Krieges“ und der Festigung der den Sozialismus ansteuernden Demokratischen Republik Vietnam (DRV) im Norden, die sich in der Präambel selbst als „Volksdemokratie“ bezeichnete. Dort hieß es: „Unter der hellsichtigen Führung der kommunistischen Partei Vietnams, der Regierung der DRV und des Präsidenten Ho Chi Minh wird unser ganzes Volk, vereinigt in der Vaterländischen Front mit Gewissheit einen glorreichen Erfolg beim Aufbau des Sozialismus in Nordvietnam und beim Kampf um die nationale Wiedervereinigung erringen.“ In der Wirtschaft sollte der staatliche Sektor den Vorrang haben. Den Bauern wurde im Rahmen der Gesetze der Schutz des Eigentums an ihrem Land und an ihren Produktionsmitteln gewährleistet. Eigentumsschutz genossen auch private (Wohn-)Häuser.

Außer in der Präambel kam die Kommunistische Partei Vietnams (KPV) in der Verfassung nicht vor.

Die 3. Verfassung von 1980 folgte auf den Sieg im „amerikanischen Krieg“ und die nationale Wiedervereinigung. Hinzu kamen die militärische Zerschlagung des Pol Pot-Regimes in Kambodscha mit seinem Steinzeitkommunismus und die erfolgreiche Abwehr des chinesischen militärischen Angriffs im Norden 1978/79. Aus der Demokratischen war bereits 1976 durch Beschluss der NV die Sozialistische Republik geworden.

Die Präambel der 3. Verfassung besteht im Wesentlichen aus einer fast 6 Druckseiten langen programmatischen Geschichtserzählung – auf Neudeutsch sagt man Narrativ – beginnend vor 4000 Jahren über die Parteigründung 1930 im Gefolge der Oktoberrevolution, den langjährigen Kampf um nationale Befreiung und Vereinigung, die Siege über Japan, Frankreich und die USA, die demokratische und dann die sozialistische Revolution unter Führung der KPV, die Diktatur des Proletariats.

Der unaufhaltsame Marsch in die sozialistische Zukunft, der schon weit vorangekommen sei, erfordere als Leitfaden eine neue Verfassung. „Die Sozialistische Republik Vietnam benötigt eine Verfassung, die die gegenwärtige Linie der KPV in dem neuen Stadium institutionalisiert, nämlich eine Verfassung für die Periode des Übergangs zum Sozialismus im nationalen Maßstab“. In Art. 2 der Verfassung heißt es lakonisch: „Die SRV ist ein Staat der proletarischen Diktatur.“ Zu den Zielen und Methoden heißt es dort weiter: „…alle Akte von Opposition von konterrevolutionären Elementen im Land und alle Akte von Aggression und Sabotage von äußeren Feinden zerschlagen; den Sozialismus erfolgreich aufbauen und zum Kommunismus voranschreiten; beitragen zur Sicherung des Friedens und die revolutionäre Sache der Völker der Welt voranbringen.“ Art. 4 Abs. 1 lautet: „Die KPV, die Vorhut und der Generalstab der vietnamesischen Arbeiterklasse, bewaffnet mit dem Marxismus-Leninismus, ist die einzige Kraft, die den Staat und die Gesellschaft führt, und der Hauptfaktor, der alle Erfolge der vietnamesischen Revolution bestimmt.“ Die Regelungen für das Wirtschaftssystem (Art. 15 ff.) sahen einen verstärkten Vorrang für den staatlichen Sektor vor, mit einem Schwerpunkt beim Aufbau einer sozialistischen Industrie (vor allem Schwerindustrie), einer kollektivierten Landwirtschaft, eines staatlichen Bankensystems und eines Außenhandelsmonopols, die entschädigungslose Enteignung von Großgrundbesitz und die Überführung des gesamten Bodeneigentums in Staatshand. Private Handwerker, Kleinbauern und Händler ohne Fremdpersonal durften bestehen bleiben, sollten aber zu genossenschaftlichen Zusammenschlüssen auf freiwilliger Basis angehalten werden. Für nicht näher bestimmte öffentliche Zwecke waren auch entschädigungslose Enteignungen zulässig.

Die teilweise rabiat und wenig planvoll durchgeführte Umgestaltung, Verstaatlichung und Kollektivierung führte zu großen Schwierigkeiten: Arbeitslosigkeit, Zusammenbruch der Agrarmärkte, mangelhafte Versorgung vor allem mit Nahrungsmitteln, Rückgang der Produktion und eine massenhafte Abwanderung von Menschen, insbesondere im Süden (boat people) und bei der chinesischstämmigen Bevölkerung. Der Versuch einer zwangsweisen Schnell-Einführung einer in Nordvietnam erfundenen Spielart des Sozialismus scheiterte dramatisch, ebenso wie eine in den 1950er Jahren im Norden in Anlehnung an den „großen Sprung nach vorn“ in der VR China unter großen Opfern durchgeführte Umgestaltung der Agrarwirtschaft.

Mitte der 1980er Jahre kam das große Umdenken (Doi Moi), das seinen Höhepunkt in den Beschlüssen des 6. Parteitages der KPV 1986 fand. Wieder wurde eine neue Verfassung erforderlich, die schließlich 1992 fertig wurde. Deren Präambel ist gegenüber den 6 Seiten von 1980 auf 2 Seiten geschrumpft und von allerlei programmatischem Kitsch bereinigt.

Am Ende heißt es: „Im Lichte des Marxismus-Leninismus und des Denkens von Ho Chi Minh, in Umsetzung des Programms des nationalen Aufbaus in der Periode des Übergangs zum Sozialismus gelobt das vietnamesische Volk, Millionen zu einer Einheit zusammenzuschließen, den Geist der Selbstverantwortung beim Aufbau des Landes hochzuhalten, eine Außenpolitik der Unabhängigkeit, der Souveränität, des Friedens, der Freundschaft und der Zusammenarbeit mit allen Nationen zu betreiben, sich strikt an die Verfassung zu halten und immer größere Erfolge bei den Anstrengungen zu erzielen, sein Vaterland zu erneuern, aufzubauen und zu verteidigen“. In der Verfassung ist von Diktatur des Proletariats nicht mehr die Rede. In Art. 2 heißt es u.a. in Satz 2: „Alle Staatsgewalt gehört dem Volk und basiert auf einer Allianz zwischen der Arbeiterklasse, der Landbevölkerung und der Intelligenz.“ Zur Wirtschaftsform bestimmten Art. 15 und 16, dass ein System aus verschiedenen Komponenten gefördert werden solle, das unter dem Management des Staates funktionieren, mit den Gesetzen des Marktes übereinstimmen und einer sozialistischen Orientierung folgen solle. Neben Unternehmen in Staatshand und in Kollektiveigentum sollten auch Privatunternehmen in Individualeigentum oder Kapitaleigentum stehen. Wie das im Einzelnen funktionieren sollte blieb offen. „ Ziel der Wirtschaftspolitik des Staates ist, die Leute reich und das Land stark zu machen.“ (Art. 16 Satz 1). Das Eigentum an Grund und Boden blieb dem Staat vorbehalten. Der Staat kann Land an Einzelpersonen oder Organisationen zur – auch langfristigen – Nutzung übertragen.

Die Verfassung von 1992 war bereits 2001 geändert und ergänzt worden. Im VNK 3/4 2013 habe ich dargestellt, aus welchen Gründen schließlich nunmehr eine grundlegende Überarbeitung der Verfassung für erforderlich gehalten wurde.

Politisches System

Die neue Präambel ist nur noch eine halbe Seite lang, von fast allem programmatischen Ballast befreit. Immerhin bleibt als Ziel, das Land zu erneuern und aufzubauen in Richtung Sozialismus. Der Schlussabsatz lautet: „In Umsetzung der Plattform für den nationalen Aufbau in der Periode des Übergangs zum Sozialismus und in Fortschreibung der Verfassungen von 1946, 1959, 1980 und 1992 schafft das vietnamesische Volk diese Verfassung, setzt sie um und verteidigt sie mit dem Ziel eines prosperierenden Volkes und eines starken, demokratischen, gerechten und zivilisierten Landes.“

Nach Art. 2 Abs. 1 in der neuen Fassung ist der Staat der SRV ein sozialistischer Staat, der vom Recht und vom Volk, durch das Volk und für das Volk regiert wird. Was hier „sozialistisch“ bedeutet, wird nicht definiert. Art. 2 Abs. 2 ist identisch mit dem oben zitierten Art. 2 Satz 2 der Fassung von 1992. Art. 2 Abs. 3 der Neufassung lautet: „Die Staatsgewalt ist einheitlich und liegt bei staatlichen Stellen (Agencies), die zusammenarbeiten und sich gegenseitig kontrollieren bei der Ausübung der Gesetzgebung, der Regierung und der Rechtsprechung.“ Diese Formulierung stellt einen Kompromiss dar zwischen der in den bisherigen Verfassungen enthaltenen umfassenden Absage an eine Gewaltenteilung und dem in Art. 8 Abs. 1 festgeschriebenen „demokratischen Zentralismus“ einerseits und Ansätzen zu einem System von „Checks and Balances“2 im Sinne eines verfassungsrechtlichen Gleichgewichts der verschiedenen Staatsgewalten andererseits. Wie das im Einzelnen funktionieren soll, bleibt ungeregelt.

Art. 3 lautet jetzt: „Der Staat soll das Recht des Volkes zur Herrschaft garantieren und voranbringen, Menschen- und Bürgerrechte anerkennen, schützen und garantieren und das Ziel eines prosperierenden Volkes und eines starken, demokratischen, gerechten und zivilisierten Landes verfolgen, in dem alle Menschen sich eines reichen, freien und glückliche Lebens erfreuen und in dem ihnen Bedingungen für eine umfassende Entwicklung geboten werden.“ Dieses Programm entspricht ungefähr dem, was im US-amerikanischen Verfassungsdenken unter „pursuit of happiness“ verstanden wird. Eine durchsetzbare verfassungsrechtliche Regelung ist es aber nicht.

Art. 4 Abs. 1 lautet jetzt: „Die Kommunistische Partei Vietnams – die Vorhut der Arbeiterklasse, zugleich die Vorhut der arbeitenden Menschen und der vietnamesischen Nation, die getreu die Interessen der Arbeiterklasse, der arbeitenden Menschen und der ganzen Nation vertritt und auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Lehre und des Denkens von Ho Chi Minh handelt – ist die Kraft, die Staat und Gesellschaft führt.“

Abs. 2: „Die Kommunistische Partei Vietnams ist eng verbunden mit dem Volk, soll dem Volk dienen, soll der Aufsicht durch das Volk unterliegen und ist dem Volk für ihre Entscheidungen verantwortlich.“

Abs. 3: „Organisationen und Mitglieder der Kommunistischen Partei sollen im Rahmen der Verfassung und der Gesetze operieren.“

Dieser Verfassungsartikel ist ein höchst merkwürdiges Gebilde. Lediglich Abs. 3 hat einen fassbaren Regelungsgehalt: Die KPV ist rechtlich eingehegt, sie steht nicht über oder neben der Verfassung. Bei den Absätzen 1 und 2 bleibt dunkel, ob es sich um eine Zustandsbeschreibung oder einen Appell handelt oder einfach um eine Art von Anknüpfung an eine historische Tradition, die ihren Inhalt eingebüßt hat. Die marxistisch-leninistische Lehre kommt jedenfalls in den nachfolgenden Abschnitten der Verfassung nicht mehr vor. Wie gleichzeitig die Partei die Interessen der Arbeiterklasse und die der gesamten – übrigen –Nation unter einen Hut bringen kann, wäre schon erläuterungsbedürftig. Wie die Beaufsichtigung der Partei durch das Volk vor sich gehen soll, wüsste man auch gern. Das größte verfassungsrechtliche Rätsel ist aber, nach welchen Regeln und in welchem Verfahren die Partei den Staat und die Gesellschaft führt, wo sozusagen die Schnittstelle zwischen Staat und Partei liegt. Es bleiben also große weiße Flecken auf der verfassungsrechtlichen Landkarte. Sie werden auch weder im Grundrechtsteil noch in den staatsorganisationsrechtlichen Abschnitten der Verfassung ausgemalt. Man könnte auch sagen: Ein großes Tabu wird weder enthüllt noch in Frage gestellt.

(...)

Eine abschließende Bewertung
des Ergebnisses der Verfassungsreform ist nicht leicht und verbietet sich vielleicht. Man darf die unterschiedlichen Traditionen nicht unberücksichtigt lassen. In einigen Teilen der erneuerten Verfassung ist das Bedürfnis stark spürbar, möglichst viel vom „Altbestand“ festzuhalten. Manche eher vagen und undeutlichen Texte in der Verfassung oder offene Vorschriften mit Verweis auf Gesetze dürften auf ungelösten Konflikten und Kompromissen beruhen. Man wollte wahrscheinlich nichts in die Verfassung schreiben, wofür es nur knappe Mehrheiten gegeben hätte und was man dann nicht so leicht hätte ändern können. Für mich, der kein vietnamesisch kann, gab es leider keine lesbaren Berichte über die Inhalte der außerordentlich umfangreichen Stimmen aus der Volksbeteiligung an der Verfassungsreform. Ich weiß daher nicht, welche Forderungen von Gewicht unter den Tisch gefallen sind und wie damit umgegangen worden ist. Was mit Sicherheit dokumentiert ist, weil sie in Grundzügen auch englischsprachig verfügbar ist, ist die Petition 72 von namhaften Verfassungsrechtlern einschließlich hochrangiger Mitglieder der KPV, die eine wesentlich weitgehendere Verfassungsreform vorgeschlagen und dazu auch einen eigenen Entwurf vorgelegt hatten.

Mit Sicherheit ein Fortschritt ist die wesentlich klarere Regelung der staatsorganisatorischen Verhältnisse, unabhängig davon, was man von ihrem Inhalt hält. Auch die Regelung der Grundrechtsfragen ist, wenn man von der Frage der Durchsetzbarkeit absieht, substantiell wesentlich verbessert. Das Problem der zahlreichen eher proklamativen politischen Forderungskataloge ohne durchsetzbare verfassungsrechtliche Festlegungen bleibt ungelöst. Das ist aber nicht nur ein vietnamesisches Problem. Auch z.B. in Deutschland wird über Forderungen diskutiert, zu verschiedenen Problemkreisen verfassungsrechtliche Absicherungen zu schaffen, z. B. im Tierschutzrecht.

In der erneuerten vietnamesischen Verfassung überwiegt das Problem der unzureichenden Sicherung von Konfliktlösungen. Im deutschen Verfassungsrecht gibt es ein umgekehrtes Problem: Z.B. bei dem sogenannten Asylkompromiss in Deutschland, der auf eine weitgehende Abschaffung oder Eingrenzung des Asylrechts hinauslief, sind Regelungen in das Grundgesetz geraten, die eigentlich nach ihrem Rang in Gesetze über Einzelregelungen des Asylrechts oder des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens gehört hätten. Der einzige Grund für die Aufnahme in die Verfassung lag darin, dass für den Fall künftig geänderter Mehrheitsverhältnisse eine Veränderung unterhalb der Zweidrittelmehrheit im Bundestag ausgeschlossen werden sollte.

Ich halte die erneuerte Verfassung für einen nicht unerheblichen, aber auch nicht ausreichenden Fortschritt in Richtung auf internationalen Standards entsprechende Regelungen.

veröffentlicht im Vietnam Kurier 1/2014

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