Die Ermahnungen eines alten Kämpfers
Am 29. Mai 2005 erschien in der Zeitschrift des Jugendverbandes Tuoi Tre ein Artikel, der viel Aufsehen erregt hat. Sein Autor ist eine bekannte Persönlichkeit in Vietnam: Vo Van Kiet hat viele sehr hohe Posten in der Partei und Regierung innegehabt, zuletzt war er Ministerpräsident, jetzt ist er im Ruhestand. Wir dokumentieren den Artikel und versuchen am Ende eine politische Einordnung. (Red.)
Seit einigen Tagen laufen die Vorbereitungen für die Feier des 60. Jahrestags der Gründung des ersten unabhängigen Staates Vietnam.
Auf dem historischen Ba Dinh Platz versammeln sich die Menschen, und es wird ein großes Transparent aufgestellt: „Solidarität, Solidarität, große Solidarität! Erfolg, Erfolg, großer Erfolg!“
Ich habe über 60 Jahre lang bei den Kämpfen um die Unabhängigkeit sowie beim Aufbau nach dem Krieg mitgewirkt. Deswegen sind für mich diese Parolen nicht nur einfache Tafeln aus Holz, mit Papier oder Stoff bespannt. Ich empfinde Rührung bei dem Gedanken, daß es sich um Worte von Onkel Ho handelt und um moralische Grundsätze unseres Volkes. Es ist nun 60 Jahre her, daß Onkel Ho diese Worte hier, an diesem Platz ausgerufen hat. Und er trägt sie sicher immer noch in seinem Herzen, obwohl er nun im Mausoleum ruht.
Anläßlich dieses Nationalfeiertages habe ich gründlich nachgedacht und habe wieder festgestellt, wie tiefgründig und wahr dieser Gedanke ist: Die Solidarität ist ein tiefer Instinkt vieler Lebewesen. Beim Menschen, der seine Natur weiterentwickelt hat, wurde sie zu einem bewußten Grundbedürfnis. Das Bedürfnis nach Solidarität kann mehr oder weniger intensiv auftreten, je nach der zeitlichen (historischen) und räumlichen (geographischen) Situation. In der Geschichte Vietnams ebenso wie in der Geschichte anderer Völker der Welt hängt die Intensität des Bedürfnisses nach Solidarität ab von den im jeweiligen Land herrschenden Kräfteverhältnissen, vom Stand der Zivilisation und von den sozialen Umständen,.
In seiner Chronik hat Onkel Ho im Jahre 1942 geschrieben: „Die Geschichte unseres Volkes hat uns folgendes gelehrt: Unser Vaterland ist frei und unabhängig nur dann, wenn es Solidarität übt, untereinander, einer für alle und alle für einen. Wenn wir diese Solidarität verlieren, dann wird unser Land den Eindringlingen zum Opfer fallen. Deswegen müssen wir die Solidarität üben und sie immer weiter verstärken.“
Schon vorher, im Jahre 1941, hat Onkel Ho in seinem Aufruf an das Volk geschrieben: „Um die Franzosen und die Japaner aus unserem Land zu vertreiben, brauchen wir vor allem eines: umfassende Solidarität In dieser Phase hat das Interesse des Volkes an der Befreiung den höchsten Stellenwert, deswegen müssen wir uns solidarisieren. Denn die Rettung des Vaterlandes ist eine Sache, die nur gemeinsam bewältigt werden kann. Alle Vietnamesen haben die Verpflichtung, an dieser Aufgabe mitzuwirken.“
Die Augustrevolution ist das glorreiche Resultat dieses großen Gedankens. Nicht nur alle Schichten der Bevölkerung, sondern auch der Kaiser und seine Beamten der Nguyen-Dynastie haben sich der Revolution angeschlossen. Deshalb verlor die Interventionsmacht die Unterstützung der Bevölkerung, und die inländischen Feinde waren gelähmt. Alle Patrioten und diejenigen, die sich dem Dienst am Volk widmen, werden von der Revolution aufgenommen. Und sie dienten ihr und den Aufständischen bis zum Ende.
vnaSolidarität und Toleranz gehören zusammen. Damals hatte die Regierung Ho Chi Minh den Plan, alle Vorurteile und alles Mißtrauen gegenüber dem alten Regime zu beseitigen. Ohne Rücksicht auf ihre Vergangenheit wurden die Leute des alten Regimes willkommen geheißen, wenn sie Fähigkeiten besaßen und einen festen Willen hatten. Onkel Ho sagte: „Die Regierung hat nicht die Absicht, aufgrund alter Straftaten neue Anklagen zu erheben.“
Onkel Ho schränkte den Gedanken der Solidarität nicht auf die Nation ein, sondern wendete sie auch international an. Schon vor der Revolution bemühte er sich um gute Beziehungen mit allen Ländern der Welt, die vielleicht den Befreiungskampf Vietnams unterstützen könnten. Wegen der damaligen internationalen Lage brachte diese Politik nicht immer das gewünschte Ergebnis. Aber die ehrliche Offenheit, allen Ländern ohne Vorurteile zu begegnen, hat mindestens die Stärke des Feindes beeinträchtigt, seine Kräfte geschwächt, Konflikte besänftigt und der Revolution die ersten Früchte beschert.
Seitdem ich Aufgaben in der Verwaltung auf kommunaler wie auch auf nationaler Ebene übernommen habe, hatte ich Gelegenheit, viele Politiker zu treffen und mit ihnen Gespräche zu führen, auch habe ich viele Reisen ins Ausland unternommen. Die dabei gemachten Erfahrungen haben mich zum Nachdenken gebracht. Das Ergebnis dieser Überlegungen ist: Sowohl in Kriegs- als auch in Friedenszeiten gilt, daß ein Land, das seine inneren Konflikte lösen kann, ein größeres Selbstbewußtsein entwickelt und einen Sinn für seine Rolle in der Welt. Dadurch entsteht Kraft und ein Potential, das diesem Land Achtung und Vertrauenswürdigkeit verleiht in internationalen Angelegenheiten. Dies ist auch bei kleineren Ländern möglich, wenn es denn diese Konflikte im Innern zu überwinden weiß. Wenn dies nicht gelingt, kann das Land auch keine Kraft nach außen entwickeln. Und seine internationale Position wird darunter leiden, auch wenn es ein großes Land ist mit einer zahlreichen Bevölkerung und vielen natürlichen Ressourcen.
Auf dem zweiten Parteitag im Februar 1951 wurde abermals über das Thema Solidarität diskutiert, es wurde als nach wie vor aktuell befunden. Es gab mehrere Meinungen darüber, Onkel Ho faßte sie so zusammen: „Gerade weil unsere Partei die Partei der Arbeiterklasse und des arbeitenden Volkes ist, ist sie selbstverständlich auch die Partei des ganzen Volkes“. Diese Aussage hat großes Aufsehen auf dem Parteitag erregt.
Sie hat auch mich dazu ermuntert, von Anfang an über viele Jahre hinweg und bis heute auf der Seite der Revolution zu stehen. Das Volk hat mich oft beschützt und mir in kritischen Situationen, wo es um Leben und Tod ging, geholfen. Ich habe viel Opfermut erlebt, und zwar bei Leuten verschiedenster Gesellschaftsschichten. Ich habe die Lehren Onkel Hos bestätigt gefunden.
Leider wurde in den folgenden Jahren dem Gedanken der großen Solidarität nicht mehr so viel Beachtung zuteil. Man hat eher den Gesichtspunkt der Klassenzugehörigkeit mechanisch und einseitig in den Vordergrund gerückt.
In den Kampagnen der Landreform und der Umgestaltung von Handel und Industrie wurden viele patriotische Persönlichkeiten, Kaufleute und Unternehmer, die sich um die Revolution verdient gemacht hatten, nicht als Freunde betrachtet. Das hat in Politik und Wirtschaft großen Schaden angerichtet.
Der Gedanke der Klassenzugehörigkeit hat zwei Konsequenzen: Die erste ist der Verlust von menschlichen Ressourcen (Fachleuten). Außerdem wurden überall Kriterien angewendet, die theoretisch richtig und politisch zweifellos sehr elementar sind, aber unsrem Management und dem Aufbau geschadet haben.
Im Kampf gegen die US-Aggression ist der Gedanke an die große Solidarität vom Onkel Ho erneut ein wichtiger Faktor des Erfolges gewesen. Viele Bevölkerungsschichten in Südvietnam, sowie wichtige Persönlichkeiten, Angehörige der oberen reichen Schichten, ja sogar viele hohe Offiziere in der Saigoner Armee haben sich zusammengetan und protestiert gegen die Regimes der Diktatoren unter dem Einfluß der USA (Ngo Dinh Diem, Nguyen van Thieu). Einige von ihnen wurden sogar Mitglieder der Befreiungsfront Südvietnams und der Widerstandsbewegung von Saigon-Gia Dinh. Auch durch ihr Wirken wurde die von den USA unterstützte Regierung immer weiter isoliert und immer schwächer. Und die Revolution erstarkte immer mehr.
In dieser Zeit lebte ich glücklicherweise mitten unter den einfachen
Leuten Saigon-Gia Dinh, danach über 15 Jahre lang im Südwesten des Landes.
Saigon ist eine Großstadt mit sehr verschiedenen Bevölkerungsschichten. Und im Südwesten
habe ich im Kampf gegen die Franzosen und mehrere Jahre lang gegen die USA viele
Grundbesitzer mit großem Vermögen kennengelernt, Intellektuelle, die in Frankreich
ausgebildet waren, hohe Beamte der damaligen Regierung, Mönche, Gläubige verschiedener
Religionen sowie Angehörige anderer Völker wie Khmer, Cham, Hoa,... Wir lebten zusammen,
arbeiteten zusammen und führten gemeinsam unsere Aktionen durch. Diese Erfahrung
ist für mich bis heute grundlegend.
In der ganzen Welt hatte die Solidarität wichtige Wirkungen. Die Antikriegskampagne in den USA, in Frankreich, und die Kampagne gegen den Aggressionskrieg der USA in vielen anderen Ländern der Welt haben den Feind immer mehr isoliert. In den sozialistischen Ländern haben die Gedanken von Onkel Ho sogar dazu beigetragen, daß die beiden großen Verbündeten immer noch gemeinsam unseren Kampf unterstützten.
Nach der Befreiung Südvietnams hatten wir viele Chancen:
- Es herrschte Frieden im ganzen Land, und es
wurde wieder vereinigt. Die Vietnamesen waren wieder ein Volk.
- Das Volk hoffte, nun in Ruhe leben, das Land
wiederaufbauen zu können, und jeder wollte zum Wiederaufbau und zur Entwicklung
beitragen.
- Die Geschäftsleute in Industrie und Wirtschaft
und die Intellektuellen in Südvietnam haben viele Fähigkeiten und Erfahrungen
in verschiedenen Bereichen, sie sind ein wertvolles Kapital, das zum Wiederaufbau
beitragen kann.
- Die südvietnamesischen Armeeangehörigen, die Offiziere,
die Beamten der ehemaligen Regierung wünschen sich ebenfalls ein Leben in
Frieden, Versöhnung, sie alle wollen gute Voraussetzungen dafür schaffen, daß
jeder ein normales Leben führen kann.
- Im internationalen
Rahmen wollen auch die Nationen, die am Krieg gegen Vietnam beteilig waren, das
vergangene Trauma vergessen und mit guten Absichten auf das Land zugehen. Selbst
die US-Regierung hat die Normalisierung der Beziehung signalisiert und sieht
darin auch ein Mittel, die Kriegsverletzungen zu lindern.
Leider ist heute das Bewußtsein der Solidarität oft verlorengegangen, und dies ist auf subjektive Gefühle zurückzuführen. Man ist nicht nur stolz auf den Sieg, sondern auch überheblich und man hat eine unausgewogene Sicht auf seine historische Bedeutung, wenn man zu strikt zwischen Siegern und Verlierern unterscheidet, durch Klassifizierung nach dem Muster: Wir sind die Sieger und alle anderen die Verlierer.
Die Wirtschaftsreformen im Süden und die aus ihnen resultierenden unangemessenen Strukturen der Zusammenarbeit in der Landwirtschaft wurden auf dem 4. Parteitag als Mißerfolge eingeschätzt. Dadurch sind einerseits Leute, die viel für die Revolution geleistet haben, diskriminiert und andererseits große wirtschaftliche Ressourcen vernichtet worden.
Durch die schwierige Wirtschaftslage, die für viele ein Leben ohne Zukunft bedeutete, und zusätzlich durch die strikten sozialen Regelungen entstand eine Spaltung der Gesellschaft, durch die viele Patrioten, die sich beim Wiederaufbau engagiert hatten, zur Flucht ins Ausland gezwungen wurden.
Für solche Fehlentwicklungen war ich zum Teil selbst mit verantwortlich, als ich in meiner früheren Position im Namen Onkel Hos zu handeln glaubte. Ich habe es selbst erlebt, wie Intellektuelle und Geschäftsleute sich den Kopf zerbrachen, ob sie gehen oder bleiben sollten und dann schließlich das Risiko der Flucht eingingen. Obwohl das Stadtkomitee alles versuchte, Hilfe angeboten und Gespräche geführt hat, fühlen wir immer noch die Verantwortung für das Scheitern dieser Bemühungen.
Auch auf der internationalen Ebene produziert eine überhebliche Haltung den anderen Nationen gegenüber mehr Feinde als Freunde, und auch hier war dies in der Tat nicht immer unvermeidbar.
So haben wir, im Rückblick betrachtet, viele gute Möglichkeiten für den Wiederaufbau nicht genutzt. Die Folge waren die schweren Jahre einer langwierigen Inflation. Wir müssen aus solchen Erfahrungen Lehren ziehen.
Seitdem die Partei die Erneuerungspolitik (doi moi) eingeführt hat, lebte
der Versöhnungsgedanke wieder auf und Erfolge sind sichtbar. Das Prinzip einer
Koexistenz verschiedener Wirtschaftsformen, einer nach außen offenen Wirtschaft,
und die Idee von den freundschaftlichen Beziehungen zu allen Ländern, all dies
hat dazu geführt, daß wir mit den Fehlern der Vergangenheit Schluß gemacht
haben und in die Zukunft blicken. Wir haben das Land nach innen und nach Außen
gestärkt, die Inflation überwunden und Erfolge in allen Bereichen erzielt.
Wir haben heute keine Feinde mehr, die uns von außen angreifen. Aber andere Feinde sind noch da, im Innern unseres Landes selbst. Einer davon ist die Armut, ein anderer die Rückständigkeit. Durch sie bleiben wir zurück, und wenn wir zurückbleiben, dann ist auch unsere Unabhängigkeit in Gefahr. Alle sollen und können am Kampf gegen diese Feinde teilnehmen und sich unserer Bewegung anschließen.
Heute haben wir die Unabhängigkeit und die Einheit, und wir sind auf dem Weg zum Wohlstand und bauen eine starke Nation auf, in der Gleichberechtigung, Demokratie, Zivilisation herrschen. Wir haben nach und nach die Achtung anderer Ländern gewonnen. Die Erfahrungen der Geschichte haben gezeigt, daß durch gegenseitige Vorwürfe und Gewalt der Haß nicht verschwindet, sondern nur neuer Haß erzeugt wird. Nur wenn er durch gegenseitiges Verstehen abgebaut wird, kann er beseitigt werden.
Haß auf die Verlierer und leerer Siegerstolz nützt weder uns und der Nation noch dem Ruf Vietnams in der Welt.
Wenn wir die Welt betrachten, dann wird uns bald deutlich, daß die größte Ressource einer Nation die Menschen sind. Wenn wir die Kraft der Menschen einigen und mobilisieren können, dann erschließen sich uns auch die anderen Kräfte. Wenn wir das nicht tun, verlieren wir auch diese.
In der gegenwärtigen Welt spielen die Intellektuellen eine sehr wichtige Rolle. Ich will damit die Intellektuellen nicht überbewerten, aber sie sind die unverzichtbare Voraussetzung für die Entwicklung. Beim Wettbewerb in der Entwicklung spielen nicht nur Engagement und ein fester und Willen eine Rolle, sondern auch Know-how, Ausbildung und die Kenntnis der natürlichen und sozialen Lebensregeln. Die Erfahrung in unserem Land und in der Welt lehrt: Ob sich die Intellektuellen engagieren oder nicht, hängt von dem Vertrauen ab, das wir ihnen entgegenbringen und von der Bereitstellung entsprechender Positionen. Wir können die Verantwortung nicht einseitig den Intellektuellen zuschreiben. Sie liegt vielmehr bei der Staatsführung, diese muß die fähigen Leuten ansprechen und ihr Herz überzeugen. Gute Leute anzuziehen ist eine wichtige Fähigkeit einer Regierung.
Heute, 60 Jahre nach der August-Revolution, erinnern wir uns an die Stimmung
in jenen Tagen und Monaten. Die Flamme, die diese Bewegung erwärmte, war die
Heimatliebe, die große Völkersolidarität, und sie ist von Onkel Ho entzündet worden.
Damals waren alle Vietnamesen einig in der Überzeugung, daß die Nation zu lieben
die beste Weise sei, sich selbst zu lieben.
- Die vietnamesische Nation mit all ihren kulturellen
Traditionen gehört nicht einem Menschen, einer Klasse oder einer Partei, sondern
allen Vietnamesen, dem vietnamesischen Volk.
>- Daher hat jeder Vietnamese die Pflicht und das
Recht, für dieses Land zu arbeiten, das Land reich und schön zu machen.
- Und daher muß es allen Vietnamesen ermöglicht werden, in diesem schönen und reichen Land menschenwürdig
zu leben, die materiellen und ideellen Werte seiner Kultur zu genießen.
Erst wenn diese Gedanken Wirklichkeit sind, ist für mich bei der Feier des 60. Jahrestags der Ausspruch „Solidarität, Solidarität, große Solidarität, Erfolg, Erfolg, großer Erfolg“ auf dem Ba Dinh-Platz nicht nur eine Propagandaparole aus Metall, Holz und farbigem Stoff, sondern das Schlüsselwort für die Kraft, mit der wir alle Schwierigkeiten, die noch vor uns liegen, überwinden können. Der Geist von Ba Dinh wird weiterleben, er ist unsere Lebenskraft, unsere Fröhlichkeit, unsere Freundschaft, das Glück für Millionen Vietnamesen.
Übersetzung aus dem Vietnamesischen Hoang-Duc
Die rot hervorgehobenen Passagen halten wir für besonders wichtig (Red.)
Das zweite Charakteristikum des Textes entspricht allgemeinen Verhaltensweisen, die in Vietnam sogar bei Gesprächen eingehalten werden: Kritik muß immer in Lob eingepackt werden. So kommen die wichtigsten Aussagen immer dann, wenn ein Absatz durch das Wort „leider“ eingeleitet wird.
Die Kritik selbst erscheint einem deutschen Leser zunächst als nicht sehr scharf, sie betont zunächst den Begriff „Solidarität“, um dann zu beklagen, daß er seinen ursprünglichen Sinn verloren habe. Man habe die Solidarität in der Zeit nach dem Krieg (sprich: bis heute) vernachlässigt. Dahinter versteckt sich eine Kritik an früheren Auffassungen von führenden Parteifunktionären, daß der Sieg hauptsächlich von der Partei organisiert und nur von den Soldaten der Befreiungsfront und des Nordens, also im weitesten Sinn: von den Genossen erkämpft worden sei. Vo Van Kiet wendet sich dagegen, daß die nichtkommunistischen Beiträge zum Sieg dabei immer unerwähnt bleiben oder nicht anerkannt werden.
Wer die Geschichte Vietnam dieser Zeit kennt, dem fallen gleich zwei Begriffe ein, die der Text zwar vermeidet, aber inhaltlich mehr als deutlich benennt: der eine ist der Begriff der Marionette, mit dem in dieser Zeit das Regime und die Truppen des Südens gekennzeichnet worden sind: „Marionettenregime“, „Marionettentruppen“. Der Begriff ist inzwischen aus dem offiziellen Sprachgebrauch schon seit längerem verschwunden, er soll sogar offiziell verpönt sein. Durch zwei Details macht Vo Van Kiet deutlich, warum dieser Begriff zwar vielleicht damals verständlich – angesichts etwa der Operation „Phönix“, bei der durch die Thieu-Truppen die Befreiungsfront ausgerottet werden sollte –, aber schon immer falsch und ungenau war: einmal deswegen, weil diese Armee zuletzt ihren Anführern die Gefolgschaft verweigerte, die Soldaten überliefen und die Deserteure oder diejenigen, die schlicht und einfach nach Haus abhauten, damit auch viele Menschenleben retteten. Zum anderen am Beispiel des Generals Minh („Big Minh“), der für ein paar Tage Regierungschef im Süden wurde, aber nur zu dem Zweck, die Kapitulation zu vollziehen. Auch er hat damit viel zur Vermeidung weiterer Opfer bei den Soldaten und in der Bevölkerung beigetragen. Vo Van Kiet fordert ein, daß diese Menschen nicht mehr vom Verdienst um den Sieg ausgeschlossen sein dürfen.
Der zweite Begriff ist die „dritte Kraft“. Damit ist die nichtkommunistische Opposition gegen Thieu in Südvietnam gemeint, die sich vor allem aus Buddhisten, Intellektuellen und bürgerlichen Kreisen zusammensetzte, aber nie zu einer Einigung mit einem gemeinsamen Programm kam, nicht zuletzt wegen Differenzen über die Frage, wie weit die Zusammenarbeit mit der Befreiungsfront gehen sollte. Trotzdem spielte die dritte Kraft eine gewisse Rolle bei den Verhandlungen in Paris, bei denen es eine lange Zeit darum ging, nach einem Waffenstillstand eine Übergangsregierung zu bilden. Die DRV und die PRR (vgl. die historische Darstellung in diesem Heft) hatten die Teilnahme der dritten Kraft an einer solchen Übergangsregierung stets akzeptiert, aber es kam nicht dazu wegen des Widerstandes der USA und Thieus.
Die dritte Kraft hatte allerdings auch in der Solidaritätsbewegung eine gewisse Rolle gespielt, weil sie einen Bezugspunkt bot für solche engagierte Kriegsgegner, die Schwierigkeiten hatten, sich auf der Seite der „Kommunisten“ zu sehen. Deswegen wurde ihr oft in Europa viel mehr Einfluß zugeschrieben, als sie tatsächlich hatte. Und in Vietnam hat sie nach dem Sieg 1975 keine Rolle mehr gespielt, im Gegenteil, einige ihrer Mitglieder wanderten für Jahre in Umerziehungslager. Sie wurden von gewissen Kreisen in der Partei als suspekt und unzuverlässig eingeschätzt, weshalb die „dritte Kraft“ auch in vielen nach 1975 geschriebenen historischen Darstellungen aus Vietnam kaum auftaucht.
Der Text ist also eine Aufforderung zu einer Umorientierung in bezug auf die Vergangenheit, aber nicht nur. Er will auch für die gegenwärtige Situation ein Umdenken provozieren. Der Gedanke der Solidarität wird ja nicht nur von engstirnigen Parteifunktionären in Frage gestellt (was vor allem in der Zeit der Ausrichtung der Partei auf den Maoismus in den 1560er und 1960er Jahren verheerende politische Folgen hatte), sondern auch von den Folgen der „Öffnungspolitik“ seit 1986 (doi moi) und der damit einhergehenden kulturellen Einflüsse aus dem Westen. Konkurrenzdenken, Egoismus und eine neoliberalistische Denkweise sind auch in Vietnam für viele ein Problem, und so erweist sich der Artikel auch als ein Beitrag zu einer aktuellen Diskussion im Gewande einer historischen „Berichtigung“. Vo Van Kiet symbolisiert dies durch eine rhetorische Rahmenfigur: Er beginnt seinen Text mit der Erwähnung der Parolen auf den Transparenten, von denen er meint, sie seien vielleicht nicht mehr als mit Papier oder Stoff bespannte Holztafeln. Am Ende steht die Forderung, die Worte Ho Chi Minhs ernst zu nehmen, damit sie nicht zu Propagandaparolen verkommen.
Günter Giesenfeld
veröffentlicht im Vietnam Kurier 2/2005
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