Deutsch-vietnamesische Bildungsforschung

Bilanz und Perspektiven

Andreas Helmke und Vo Thi Anh Tuyet

Hanoi schlägt München! – die Schlagzeile bezog sich nicht auf ein Fußballspiel, sondern auf die Tatsache, daß bei einer international vergleichenden Studie über die Leistungen von Grundschülern Vietnam besser abschnitt als unser Schulsystem. Das Forscherteam an der Universität Koblenz-Landau, das durch seine Studien zu solchen Ergebnissen gekommen war, erläutert hier genauer sein Vorgehen. (Red.)

Eklatante Leistungsüberlegenheit der Asiaten! Schülerinnen und Schüler aus Korea, Japan, Hong Kong – eine andere Liga! So und ähnlich lauteten die Schlagzeilen der großen internationalen Vergleichsstudien, deren bekannteste (TIMSS-Schock für Deutschland) die „Third International Mathematics and Science Study“ (kurz: TIMSS) war, wo Deutschland bekanntlich wider alle Erwartung gerade mal knapp durchschnittlich abschnitt.

Dann kam die „PISA-Katastrophe“. Darüber, was Deutschland anbelangt, muß hier nicht mehr gesprochen werden. Aber über Asien? Hierzulande kaum zur Kenntnis genommen angesichts der deutschen PISA-Katastrophe, war eines der international sensationellen Ergebnisse, daß die asiatischen Länder nicht nur in Mathematik (dies hatte man erwartet), sondern auch beim Leseverständnis hervorragend abschnitten. Dies war definitiv nicht erwartet worden, ging es doch beim PISA-Leseverständnis um Kompetenzen, die sich gerade nicht durch „drill and practice“ pauken lassen – im Gegenteil. Und genau dieses Stereotyp hält sich, nicht nur in Deutschland, hartnäckig.

Aber was ist eigentlich mit Vietnam? Anders als Taiwan, Korea, Japan, Hong Kong und neuerdings sogar China (Nachzügler bei PISA) hat sich Vietnam bisher an keiner einzigen der großen internationalen Vergleichsstudien beteiligt. Und nach Einschätzung der Verfasser dieses Artikels sieht es auch nicht so aus, als ob sich dies in nächster Zukunft grundlegend ändern würde. Weitgehend unbemerkt, abseits der aufgeregten Debatten über Leistungsunterschiede und ihre möglichen Bedingungen, und jenseits vom „mainstream“ der internationalen Bildungsforschung gibt es jedoch seit ca. 8 Jahren ein kleines, aber wohl fundiertes Programm der kulturvergleichenden deutsch-vietnamesischen Bildungsforschung, für das wir verantwortlich zeichnen und das im Folgenden ausschnittsweise skizziert werden soll.

Der Grundstein für das spätere Bildungsforschungsprogramm wurde 1995 durch einen Gastaufenthalt des vietnamesischen Professors Le Duc Phuc am Max-Planck-Institut für psychologische Forschung in München gelegt, an dem der Erstautor 12 Jahre als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter gearbeitet hatte, und zu dem noch immer enge Beziehungen bestehen. Den zweiten Grundstein bildet ein Netzwerk, das im Kontext der Betreuung verschiedener Dissertationen vietnamesischer DoktorandInnen im Bereich der psychologischen Bildungsforschung entstand. Drittens führte die Zusammenarbeit zwischen München (Max-Planck-Institut) und Hanoi (National Institute for Educational Sciences, NIES) zur Herausgabe eines Readers in vietnamesischer Sprache, der einige Schlüsselartikel für die Ausbildung von Lehrkräften und Psychologen umfaßt und in Vietnam inzwischen zu den verbreitetsten Werken zählt.

Nur am Rande soll vermerkt werden, daß die Intensivierung der deutsch-vietnamesischen Zusammenarbeit in der Lehrerausbildung durch die Übersetzung eines weiteren Werkes des Erstautors zum Thema „Unterrichtsqualität“

Die so gestifteten persönlichen und fachlichen Beziehungen waren die Grundlage für den Aufbau einer engen deutsch-vietnamesischen Zusammenarbeit.

Ausgewählte Ergebnisse

Es liegt auf der Hand, dass wir in diesem kurzen Artikel nicht Anlage, Ergebnisse und Konsequenzen unserer Untersuchungen entfalten können. Deshalb hier nur einige ausgewählte Ergebnisse der Vergleichsstudie deutscher und vietnamesischer Grundschüler in der 4. Jahrgangsstufe, in Verbindung mit entsprechenden Abbildungen. Zugrunde liegt dieser Untersuchung auf deutscher Seite die Grundschulstudie SCHOLASTIK, und auf vietnamesischer Seite – um wenige Jahre zeitverzögert – Erhebungen mit den identischen (zuvor ins Vietnamesische übersetzten und zur Kontrolle rückübersetzten) Test- und Fragebogeninstrumenten.

1) Bei vergleichbarem Intelligenzniveau sind die vietnamesischen Grundschüler den deutschen (Münchner) Schülern beim mathematischen Verständnis etwas, beim Test der Konzentrationsfähigkeit deutlich, und bei der Rechenfertigkeit und –ge­schwindigkeit eklatant überlegen.

Leistungsprofil deutscher und vietnamesischer Grundschüler
Selbsteinschätzung der eigenen mathematischen Kompetenzen bei
deutschen und vietnamesischen Grundschülern

2) Entgegen einem verbreiteten Stereotyp („asiatische Bescheidenheit“...) schätzen die vietnamesischen Grundschüler sich selbst und ihre schulischen Fähigkeiten nicht anders als die deutschen Schüler ein, nämlich durchaus optimistisch: über 60% finden sich überdurchschnittlich, knapp 5% unterdurchschnittlich.

3) Die hierzulande bekannte und oft kritisierte Notenverteilung innerhalb von Schulklassen in Form einer angenäherten Glockenkurve, der eine klasseninterne, soziale Bezugsnorm zugrunde liegt, hat bei der Leistungsbeurteilung in Vietnam kein Pendant. Hier findet man ein vollkommen anderes Bild: Der Großteil der Schüler erreicht nach Einschätzungen der Lehrkräfte gute bis sehr gute Leistungen, hat also das Lernziel erreicht.

Notenverteilung Mathematik in der Grundschule: Deutschland
(10 = beste Note, 0 = schlechteste Note)
Notenverteilung Mathematik in der Grundschule: Vietnam

4) Entgegen einem ebenfalls verbreiteten Stereotyp der „Einheitlichkeit“ oder gar „Vereinheitlichung“ des Leistungsniveaus von Schulklassen zeigen sich in den vietnamesischen Grundschulklassen nicht etwa geringere, sondern sogar größere Unterschiede zwischen Schulklassen als in Deutschland! Ein Ergebnis, das zum Nachdenken über die Gründe anregt.

Schulklassenunterschiede im Leistungsniveau
in Deutschland und Vietnam

5) Dagegen sind die Muster der Zusammenhänge zwischen Intelligenz, Motivation, Mathematiknote und verschiedenen Typen von Mathematikleistungen in beiden Ländern sehr ähnlich: ein Hinweis auf kulturübergreifende, vermutlich universelle Prinzipien des Lernens und seiner Bedingungen.

Weitere Publikationen:
Für lehrende und andere interessierte Leserinnen und Leser folgen einige Titel, die direkt oder mittelbar mit dem deutsch-vietnamesischen Forschungsprogramm zusammenhängen. Die Autoren sind bei Interesse gerne zum Versand von Sonderdrucken bereit:
- Helmke, A., Schrader, F.-W., Vo, T., Le, P. & Tran, T. (2003). Selbstkonzept und schulische Leistungen im Kulturvergleich: Ergebnisse der Grundschulstudie SCHOLASTIK in München und Hanoi. In W. Schneider & M. Knopf (Hrsg.), Entwicklung, Lehren und Lernen: Zum Ge­denken an Franz E. Weinert. (S. 187-206). Göttingen: Hogrefe.
- Helmke, A. & Schrader, F.-W. (1999). Lernt man in Asien anders? Empirische Untersuchun­gen zum studentischen Lernverhalten in Deutschland und Vietnam. Zeitschrift für Pädagogik, 45, 81-102.
- Helmke, A. & Hesse, H. G. (2002). Kindheit und Jugend in Asien. In H.-H. Krüger & C. Gru­nert (Hrsg.). Handbuch der Kindheits- und Jugendforschung (S. 439-471). Opladen: Leske + Budrich.
- Helmke, A. & Vo, T. (1999). Do Asian and Western students learn in a different way? An em­pirical study on motivation, study time, and learning strategies of German and Vietnamese university students. Asia Pacific Journal of Education, 19 (2), 30-44.

Kontakt: Prof. Dr. Andreas Helmke, Universität Koblenz-Landau, Campus Landau, Fortstrasse 7, 76829 Landau.

veröffentlicht im Vietnam Kurier 3/2003

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