Quagmire

Die historische Bedeutung des Vietnamkriegs aus der Perspektive des Irakkriegs

Günter Giesenfeld

Die US-geführte Besatzungsmacht im Irak gerät in immer größere Schwierigkeiten. Sie hat sich nicht nur als unfähig erwiesen, die alltäglichen Probleme der Bevölkerung zu lösen (Wasser, Elektrizität, Arbeit). Auch dem selbstgestellten Ziel, dort den Frieden zu sichern, demokratische Strukturen aufzubauen und eine Übergabe der Macht an einheimische Institutionen vorzubereiten, ist sie ferner denn je. In dieser Situation wird in der Öffentlichkeit gern der Vergleich mit Vietnam herangezogen und damit der Versuch gemacht, den Irakkrieg (und den in Afghanistan) auf diese Weise historisch einzuordnen.

Als die USA Ende 2001 den Krieg gegen Afghanistan begannen (der eigentlich einer gegen Al Qaida sein sollte), dauerte es erst einmal ziemlich lange, bis greifbare Fortschritte zu verzeichnen waren. Erst als man sich der „Nordallianz“ als Bündnispartner versichert hatte, die mit Unterstützung der US-Luftwaffe stellvertretend den Kampf gegen die Taliban führte, stellten sich erste „Erfolge“ ein. Die Bush-Administration war erleichtert, hatte es doch so ausgesehen, als daure dieser ungleiche Kampf länger, als man es der US-amerikanischen Öffentlichkeit würde zumuten können. Und so trat Verteidigungsminister Rumsfeld am 27. November 2001 voller Zuversicht und gut gelaunt vor die von ihm sonst so verachteten Pressevertreter, die, nach einer seiner berühmt gewordenen Aussagen, „über die Konzentrationsfähigkeit von Mücken“1 verfügten. Es habe so ausgesehen, erläuterte er ihnen ungewohnt geduldig, „als sei unsere Technik zu kompliziert, bis wir schließlich in der Lage waren, sie den Bedingungen auf dem Kriegsschauplatz anzupassen“. Von nun an sei es den Taliban unmöglich, „Gelände zu halten, oder sich in großer Zahl zu versammeln“ – als wäre das je die Strategie der Taliban oder gar von Al Qaida gewesen. Mit diesem Ergebnis sei die ganze Zeit zu rechnen gewesen. Und diejenigen, die geglaubt hätten, die Dinge seien anfangs nicht optimal gelaufen, hätten sich getäuscht. Rumsfeld: „Es sah so aus, als passiere gar nichts. Ja, es sah wirklich so aus, als steckten wir in einem…“ und nun machte der Verteidigungsminister eine Kunstpause, – als fordere er die Journalisten auf, alle zusammen einzustimmen – „…in einem Sumpf.“ Einige hätten leise gekichert, berichtet Woodward.2

Der Sumpf – Metapher für den Vietnamkrieg

Das Wort, das in dieser Geschichte, zu dieser Zeit sozusagen schon in der Luft lag: Sumpf, heißt auf englisch „Quagmire“, laut Lexikon „eine Art sumpfiger oder morastiger Boden, dessen Oberfläche unter den Füßen dessen, der ihn betritt, nachgibt, ein Morast“. Daneben wird das Wort auch im übertragenen Sinn benutzt als Bezeichnung für „eine Situation aus der herauszukommen sehr schwierig ist“3 und könnte in diesem Sinne mit dem deutschen Begriff „Schla­massel“ wiedergegeben werden. Seine allgemeine Bekanntheit im politischen Zusammenhang rührt daher, daß es schon während des Vietnamkriegs benutzt worden war, um die schwierige Situation zu bezeichnen, der sich die US-Truppen gegenüber der Guerillataktik der Befreiungsfront ausgesetzt sahen. Hier erhielt das Wort eine konkrete historische Bedeutung, es bezeichnete alles, was diesen Krieg als einen Sonderfall der Geschichte ausmachte: vor allem die Erkenntnis, daß eine erdrückende militärische Übermacht keine Garantie für einen Sieg sein muß, daß überhaupt der technische Fortschritt und die scheinbar unüberwindliche Überlegenheit der Waffen einem Angreifer keine absolute Macht verleihen. Abstrakt unterliegt dem Wort die Vorstellung, unausweichlich in etwas hineingezogen zu werden, mit der Perspektive der Ausweglosigkeit oder des Untergangs. Dies war für den Vietnamkrieg zutref­fend, weshalb auch mehrere Bücher über ihn den Begriff im Titel führten. Erwähnt seien nur die beiden bekanntesten: The Making of a Quagmire, von David Halberstam u. a., 1987 und Into the Quagmire, Lyndon Johnson and the Escalation of the Vietnam War, von Brian Vandermark, 1991.

Diejenigen, die den Ausdruck jetzt wieder im Zusammenhang mit dem Irakkrieg benutzen, spielen damit also bewußt auf Vietnam an und damit auf die erschreckende Erkenntnis, daß auch ein gewonnener Krieg wie der in Afghanistan im Sumpf der Ausweglosigkeit enden kann. Deshalb reagiert die Bush-Admini­stration heute, wenn vom Irak die Rede ist, weniger humorvoll und souverän auf die Verwendung der „Q-Worts“ als der amerikanische Verteidigungsminister in dem erwähnten Beispiel. Im Gegenteil, wenn man die internen Diskussionen innerhalb des Machtzentrums, im Weißen Haus und im Pentagon verfolgt, wird schnell deutlich, daß mit den direkten Schwierigkeiten, die nun, nach dem „Sieg“, auftreten, auch ein Vermittlungsproblem auftaucht: Es muß um jeden Preis der Eindruck vermieden werden, man sei in einem neuen Sumpf geraten. So wurde das Wort für die einen zum Angstbegriff, für kritische Beobachter aber ist es längst das Reizwort, mit dem man den Finger auf die Wunde der Irakpolitik legen kann. Und so taucht das Wort immer häufiger in Artikeln und Aufsätzen zum Irakkrieg auf: Welcome to the quagmire, von Juan Cole; Quagmire? What quagmire? und Descending into the quagmire von Daniel Smith; Say it: This Is a Quagmire, von Tom Hayden, um nur einige zu nennen.4

Quagmire bedeutet in diesen Texten weniger die Beschreibung einer aktuellen Situation, sondern eher eine Warnung, so etwas wie eine Zukunfts-Horrorvision: Bald würden die USA in eine Situation kommen wie am Ende des Vietnamkrieges, in der sie sich Gedanken machen müssen, wie sie aus diesem Abenteuer und aus diesem Land wieder einigermaßen heil („ehrenhaft“) herauskommen können. Wenn man allerdings bedenkt, daß schon der Angriff auf Afghanistan so etwas wie ein ‚Vorläufer-Morast’ war und sich vielleicht bald auch zu einem ausgewachsenen Quagmire zuspitzen könnte, und daß Bush die Diskussion um diesen Fall durch den Angriff auf den Irak wenigstens zeitweise zum Schweigen bringen konnte, wird einem Angst und Bange, wenn man sich fragt, welches weitere Land nun wohl zum Ziel des nächsten Ablenkungsmanövers werden könnte.

Die Diskussion, die in kritischen Kreisen der USA jetzt über den Irakkrieg geführt wird und auf diese Weise dabei den Vietnamkrieg thematisiert, führt zwangsläufig auch dazu, daß dieser und mit ihm moderne Kriege überhaupt eine neue historische Einschätzung erfahren.

„Das Wort ‚quagmire’ ist wahrscheinlich erfunden worden, um einen Krieg zu beschreiben, in dem jeder ‚Sieg’ eine schmerzliche Niederlage ist“5. Robert Hardaway bezieht sich bei dieser Feststellung nicht auf den Irakkrieg, sondern auf verschiedene innenpolitische „Feldzüge“ zur Bekämpfung von Drogen (Alkohol in der Prohibitionszeit 1919-1933 und Drogen in der Gegenwart). Aber sein Statement ist verallgemeinerbar: Es enthält die erschreckende Erkenntnis, daß moderne Kriege nicht mehr unbedingt mit einem Sieg oder einer Niederlage enden müssen, und daß die Art von Kriegen, welche die USA seit Vietnam führen, prinzipiell nicht zu gewinnen sind, auch wenn sie mit einem militärischen Sieg enden.

Angesichts solcher logischer Einsichten, die auftauchen, sobald man wirklich nachzudenken bereit ist, beginnt in den USA eine Debatte darüber, wie diese neue Art von Krieg zu beschreiben wäre. „Jedesmal, wenn die Medien die Erklärungen des Präsidenten auf ihren elektronischen oder Zeitungs-Frontseiten ausgebreitet haben, nähern sie sich vorsichtig der drängenden Frage, was für eine ‚Art’ von Krieg die amerikanischen und englischen Truppen im Irak führen. Auch ‚Counter­insurgency’6, ein Modewort aus den 1960er Jahren, ist schon in einigen Berichten wieder aufgetaucht. Und der angstbesetzte ‚Quagmire’. Das Pentagon dementiert, daß ‚body counts’ gemacht würden – und trotzdem registrieren die Medien die Anzahl toter Guerillakämpfer sehr genau. Können da die ‚free fire zones’, die ‚Fünf Uhr-Farcen’ (wie die täglichen offiziellen militärischen Briefings in Saigon genannt wurden), kann da das berühmte ‚Licht am Ende des Tunnels’ noch weit sein?7 Damals hatte der prominente Journalist Bernard Fall zum Thema „Counterinsurgency“ einige Thesen formuliert, die im Kontext des Irakkrieges aktuell erscheinen. Für ihn war das eigentliche Kriegsziel einer Guerilla „die Verbreitung einer Ideologie oder eines politischen Systems“8, während die US-Regierung einer militärischen Herausforderung in offener Schlacht begegnen wollte. Damit „unterschätzte sie die Tiefe und das Ausmaß der politischen Aktionen“ der Nordvietnamesen und der Befreiungsfront. „Und noch mehr: Dadurch, daß sie es versäumten, die politischen und ideologischen (nationalistischen) Kräfte, die in Vietnam freigesetzt wurden, richtig einzuschätzen, neigten die Administrationen unter Nixon und Johnson dazu, die vielfältigen ökonomischen und sozialen Gegenströmungen mißzuverstehen (oder zu ignorieren), die von denjenigen repräsentiert wurden, die eine Einigung Vietnams unter vietnamesischer Führung wollten.“

Das Resultat war der Quagmire: ständige schrittweise Vermehrung der US-Truppen, Eskalation der militärischen Komponente unter vollkommener Vernachlässigung jeglicher Erkenntnisse über die Situation, die Traditionen des Landes und die Meinung seiner Bevölkerung. Aber die Eskalation brachte nicht „das Ende des Tunnels“, im Gegenteil, sie vergrößerte in kaum noch zu kontrollierender Weise die Entfremdung der Zivilbevölkerung auch im Süden, in dem die USA absolut herrschten. Fall: „Man kann fast alles mit brutaler Gewalt durchsetzen, außer eine unpopuläre Regierung“.

Lange Zeit war es gängige Sprachregelung in den USA, Vietnam sei ein „Einzelfall“ gewesen, der sich nie wiederholen dürfe, und mit diesem Argument meinte man, dem „Vietnam-Trauma“ entgegentreten zu können. Wenn man Falls Überlegungen weiterdenkt, wird dieser „Einzelfall“ tendenziell zum Präzedenzfall, und dies um so mehr, je häufiger die Vergleiche zu Afghanistan und zum Irak gezogen werden.9

„Vietnam“ und „Irak“

Einige sich sofort anbietende Ähnlichkeiten zwischen Vietnam und Irak (die beiden Ländernamen seien hier verkürzend als Chiffren für die dort lokalisierten Kriege benutzt) möchte ich kurz zusammenfassend beschreiben: Die erste, daß beide mit einer folgenreichen Lüge begannen, ist auch deutschen Journalisten schon früh aufgefallen. Sowohl der „Tonking“-Zwischenfall10, als auch die angebliche Bedrohung durch „Massenvernichtungswaffen“ Saddam Husseins11 und dessen Komplizenschaft mit Al Qaida waren bewußte Falschmeldungen, um einen Grund zum Losschlagen zu konstruieren.

Direkt damit zusammen hängt der völkerrechtliche Aspekt. Im Falle Iraks haben die USA den UNO-Sicherheitsrat übergangen, und zwar demonstrativ. Weniger bekannt ist, daß diese Mißachtung der Weltorganisation und ihrer Charta auch schon anläßlich Vietnams erfolgte. Gemäß der UNO-Charta darf Gewalt zwischen Staaten nur ausgeübt werden, wenn der Sicherheitsrat eine Bedrohung des Friedens konstatiert, außerdem bleibt es selbst dann diesem vorbehalten, entsprechende Empfehlungen zu geben oder über Maßnahmen zu entscheiden, die in der jeweiligen Situation adäquat sind. Artikel 51 nennt die einzige Ausnahme von dieser Regel: Das „Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff“ kann von dem angegriffenen Staat aber nur solange in Anspruch genommen werden, „bis der Sicherheitsrat die nötigen Maßnahmen getroffen hat, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit zu bewahren“. Zwei Argumente gegen diese Regelungen waren von Washington schon seit den 1950er Jahren artikuliert worden: Einmal dürfe man nicht „das Kräfteverhältnis ignorieren“ bei der Diskussion über „utopische, legalistische Mittel wie Vermittlung von außen, durch die UNO oder den internationalen Gerichtshof“12 – ein Argument für das Recht des Stärkeren. Schon nach der Genfer Konferenz über Indochina im Jahre 1954 hatte die US-Delegation nur Verachtung übrig für die dort erreichte Friedensregelung: Sie wurde in Washington als „Desaster“ bezeichnet. Der nationale US-Sicherheitsrat stellte schon damals ausdrücklich fest, daß die USA sich im Falle „lokaler kommunistischer Subversion, auch wenn sie keinen bewaffneten Angriff (im Sinne von Art. 51, gg) darstelle, das Recht auf den Einsatz militärischer Mittel vorbehalten würden, einschließlich eines bewaffneten Angriffs auf China.“13 In diesem Dokument von 1954 wird offen die Absicht bekundet, „in ganz Indochina verdeckte und offene Aktionen von großem Ausmaß zu unternehmen und alles zu tun, um das (Genfer, gg) Abkommen und die UNO-Charta zu unterminieren“. Anläßlich der Bombardierung Libyens im Jahre 1986 taucht dann erstmals der zynische Begriff „Selbstverteidigung ge­gen einen zukünftigen Angriff“ auf. Ging es zunächst noch um den Kampf gegen den „Kommunismus“, so wurde dieses Feindbild bald durch das der „Schurkenstaaten“ und des „internationalen Terrorismus“ ersetzt. Die Parallelen zwischen Vietnam und Irak auf dieser Ebene stellen sich eher als ein konti­nuierlicher Prozeß dar, als eine zunächst verbale und dann durch entsprechende Maßnahmen bestätigte Eskalation der Mißachtung internationaler Regelungen der Koexistenz, die durch auch von den USA ratifizierte Verträge geschaffen worden waren. Deren offener Bruch war das aus heutiger Zeit wichtigste Element der US-Außenpolitik, die nach dem zweiten Weltkrieg durch die Gründung der UNO vollzogene Neuordnung des Zusammenlebens der Nationalstaaten in Frage zu stellen. Dies geschah zugunsten eines Status der USA als „einzige Weltmacht“, die das eben angebrochene „amerikanische Jahrhundert“ prägen soll.14 Zu konstatieren ist, daß die USA seit dem zweiten Weltkrieg alle Prinzipien der Außenpolitik, die sie damals mit geprägt haben, aufgegeben haben zugunsten eines neuen, mono­zentristischen Imperialismus.15

Was die Ungleichheiten bzw. Unterschiede zwischen Vietnam und Irak angeht, so gibt es auch hier solche, die sofort evident sind. Als wesentlichste werden genannt die Unterstützung, die die DRV und die Befreiungsfront in Vietnam durch die sozialistischen „Bruderstaaten“ erhielt sowie eine einheitliche Organisation des Widerstandes mit einem konkreten populären Programm. Und: Auch wenn Saddam Hussein auf die Unterstützung gewisser Sektoren der irakischen Bevölkerung zählen konnte, so ist sein Sturz durch die alliierten Truppen doch insgesamt als Befreiung von einer Diktatur zu bewerten, auch wenn sich viele Iraker jetzt fragen, was denn nun besser geworden sei. Dieses „Befreiungsmoment“ hat in Vietnam keinerlei Rolle gespielt, befreit worden ist das vietnamesische Volk nur im Süden von einer verhaßten Diktatur, die die USA eingeführt und als Träger des „schmutzigen Kriegs“ benutzt hatten.

Im Falle Iraks ist es sehr viel schwieriger, den jetzt immer stärker aufflammenden Widerstand gegen die zu Besatzern gewordenen Befreier politisch und ideologisch zu beschreiben oder gar mit Vietnam zu vergleichen. Religiöse oder ethnische Kategorien (Araber gegen den Westen, Muslime gegen Christen oder Schiiten gegen Sunniten und Kurden) führen da nur ein Stück weit.16 Wenn sie überhaupt als Erklärungsmodell taugen, dann nur als ein weiteres Beispiel für die Ignoranz der Politikmacher in Washington, für die fremde Kulturen immer ein Gegenstand des Unverständnisses und der Verachtung gewesen sind. Dies hatte im Vietnamkrieg eine nur geringe Rolle gespielt, scheint aber, trotz gegenteiliger Behauptungen, für den Irakkrieg ein ausschlaggebendes unterschwelliges Motiv zu sein.

Unverständnis und Ignoranz haben das Bild Arabiens in den Augen der US-Administrationen von jeher geprägt: „Allein die Idee eines arabischen Volkes mit Traditionen, Kulturen und eigenen Identitäten ist in den USA schlicht unvorstellbar.17 "Nur als willfährige Führer, Geschäftsleute und Militärs, die Waffen kaufen, können Araber zu Partnern der USA werden."18

Teilweise ist diese Haltung auch eine Folge der Parteinahme für Israel im Nahost-Konflikt. Dazu kommt jetzt, daß der neue weltweite Terror von den westlichen Medien, vor allem aber von den Politikern konsequent mit dem Bild des Arabers und Muslims amalgamiert worden ist – trotz gelegentlicher gegenteiliger Behauptungen. Wenn es also jetzt im Irak zu einer immer größere Teile der Bevölkerung umfassenden arabischen, scheinbar geeinten Widerstandsbewegung kommt, so ist dies nicht nur ein Ausbruch nationalistischer oder religiöser Gefühle oder eines nicht näher charakterisierbaren „Extremismus“, sondern zugleich eine Folge der ignoranten, imperialen und tendenziell rassistischen Verhaltensweisen sowohl der Strategen in Washington (und London) als auch der Soldaten vor Ort.19 Und sobald sich eine solche zunächst spontane Revolte organisiert und wesentliche Teile der Bevölkerung aktivieren kann, wird sie genauso gefährlich, wie die Befreiungsbewegungen in den klassischen antikolonialen Kriegen es waren.

Und das Öl?

Die USA würden den Krieg im Irak nur führen, um die Kontrolle über die dort lagernden Bodenschätze zu übernehmen, ist ein häufig gehörtes Argument, das ummittelbar einzuleuchten scheint. Schließlich liegt dieses Land im Zentrum eines der größten Erdölvorkommen der Welt. So ist dieser Krieg als „Kampf um Öl“ ins Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit eingegangen. Die Sicherung allein des Ölministeriums direkt nach der Eroberung Bagdads, die persönliche Verfilzung der gegenwärtigen Administration mit der US-amerikanischen Ölindustrie bestätigen diese Sicht. Aber sie scheint mir zu einfach zu sein.

Auffällig ist im Falle Irak, daß solche Interessen auch in den internen Diskussionen kaum vorkommen. Sollten sie also wirklich eine gewisse Rolle gespielt haben oder spielen, so doch offensichtlich nicht als deklarierter Haupt-Kriegs­grund. Selbstverständlich geht es bei dem Versuch der Neuordnung der politischen Kräfteverhältnisse im Nahen Osten um wirtschaftliche Interessen, und der Gedanke, daß die USA angesichts der Konflikte mit Saudi-Arabien nach einem neuen, zuverlässigeren Partner in der Region suchen, ist ebenso einsichtig wie die Tatsache, daß die gesamte Weltmacht-Politik nach der militärischen und politischen auch die absolute wirtschaftliche Dominanz der USA sichern soll. Es wäre nur zu fragen, ob dies im Zeitalter der Globalisierung und angesichts der bestehenden, bereits von den USA beherrschten internationalen Organisationen nicht auch ohne Kriege durchsetzbar wäre (und zu einem großen Teil bereits durchgesetzt ist).

Im Vietnamkrieg haben wirtschaftliche Ziele (Eroberung von Land und Ausbeutung fremder Bodenschätze) keine Rolle gespielt, obwohl das Land über off-shore-Ölvorkommen verfügt. Im Irak (und schon gar in Afghanistan) stellen sie ein eher untergeordnetes Kriegsziel dar.20 Auch wenn man die Bush-Administration als einen verlängerten Arm der Öl- und Rüstungsindustrie sieht, so begründet sie ihre Politik nicht, auch nicht in geheimen Dokumenten, mit Ölinteressen, sondern sieht sie vor allem als langfristige globale Machtstrategie und als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001.21 Und gegenwärtig sieht es nicht so aus, als würden die Kriegsziele der Ölindustrie kurzfristig erreicht werden können – die Firma Haliburton wird noch lange auf die erhofften Millionenprofite warten müssen.

Das Interessengeflecht, das hinter den Kriegen in Afghanistan und Irak steht, kann man sich als eine Kombination verschiedener Motivationen vorstellen:
- eher sekundäre, beiläufige Motive (Öl, andere wirtschaftliche Interessen),
- als Legitimation öffentlich herausgestellte Motive (Beseitigung eines verhaßten und unterdrückerischen Regimes)
- und – als Dominante – die geopolitische Grundideologie der einen Welt unter US-amerikanischer Führung.

Wenn hier von „Kriegen neuer Art“ die Rede ist, steht diese letzte, dominierende Motivation im Vordergrund, entsprechend den programmatischen Äußerungen der gegenwärtigen Administration, deren Spuren man, wie gezeigt, weit zurückverfolgen kann.

„Quagmire“ ist kein Schicksal

1 Bei dieser neuen Art von Krieg, mit der es die einzige verbliebene Supermacht zu tun hat – und zwar offensichtlich seit Vietnam – ist Quagmire nicht ein unvermeidbares, zwangsläufiges Schicksal, sondern tritt nur dann ein, wenn die Politik einer Großmacht (die ganze Diskussion läßt sich auch auf die Beispiele Rußland oder Israel übertragen) bestimmte Charakteristika, bzw. bestimmte Fehler aufweist. Diese Fehler oder Fehleinschätzungen sind allerdings in diesen Ländern so wesentliche Bestandteile des dominierenden Politikverständnisses, daß sie dort dann doch als unausweichlich erscheinen bzw. wider besseres Wissen als unausweichlich hingestellt werden können.

So hat die George W. Bush-Administration offensichtlich im (zweiten) Irakkrieg viele Fehler begangen, die ihre Vorgänger schon in Vietnam gemacht haben, „und einige eigene noch dazu“. Dazu zählen, und zwar auf der Ebene der internen Überlegungen, nicht auf der der öffentlichen Lügen, vor allem drei Fehleinschätzungen22:

Washington hatte erwartet, daß die dominante religiöse Gruppe der Schiiten (62% der Bevölkerung) ihre Befreiung aus der Unterdrückung durch Saddam Hussein zumindest positiv aufnehmen, sich vielleicht sogar am Kampf gegen ihn beteiligen würden. Statt dessen erlebten die Besatzungstruppen eine wachsende Desillusionierung in der Bevölkerung angesichts der Tatsache, daß die siegreiche und übermächtige „Allianz“ nicht einmal in der Lage war, ihre Grundbedürfnisse (Wasser, Elektrizität, physische Sicherheit) in ähnlicher Weise zu befriedigen, wie es unter Saddam Hussein der Fall gewesen war. Die Schiiten hatten dabei eine besonders grausame Erfahrung zu verarbeiten: Während des ersten Golfkriegs hatten sie eine Revolte gegen Saddam Hussein ausgelöst, mußten aber erleben, daß die USA sich aus dem Land zurückzogen und die Aufständischen damit der massenhaften Vernichtung durch dessen Truppen auslieferten.

2 Vor dem Angriff im März 2003 war dem irakischen Volk versprochen worden, es werde sofort eine funktionierende vorläufige demokratische Verwaltungsstruktur aufgebaut. Im April wurde in zwei Versammlungen mit erst 43, dann 250 irakischen „Vertretern“, die der General Jay Garner persönlich ausgewählt hatte, über die „Organisation eines nationalen Dialogs über die Zusammensetzung einer Interimregierung“ diskutiert. Die Debatte mußte ergebnislos abgebrochen werden, weil die Auswahl der Repräsentanten willkürlich erfolgt war und den geographischen und ethnographischen Verhältnissen in keiner Weise entsprach.23 Dies war wohl eher aus schlichter Ignoranz passiert und nur zum Teil Ergebnis einer zielgerichteten Politik gewesen. Als dann Garner durch den neuen US-Repräsen­tanten (viele nennen ihn Gouverneur) L. Paul Bremer III ersetzt wurde, war die Sicherheitslage im Land bereits so prekär geworden, daß die Einrichtung einer Irakischen Interims-Verwal­tung auf neue, unvorhergesehene Schwierigkeiten stieß. Die Lage sei noch instabil und es müßten noch weitere Saddam-treue Elemente ausgeschaltet werden, hieß es. Statt dessen richtete Bremer ein Gremium mit 25 bis 30 ihm unterstellten „Beratern“ ein. Zu diesem Zeitpunkt wurden die ersten „Amis raus“-Rufe laut und die Besatzungsmacht verlor die Unterstützung einflußreicher religiöser Führer, von denen einer sagte: „Demokratie, das heißt: tun, was das Volk will und nicht, was der Westen will“.

3 Im Juni wechselte der Schiitenführer Ayatolla Ali Sistani, der zunächst den Einmarsch der Truppen begrüßt und seither der Besatzungsmacht gegenüber eine wohlwollende Haltung eingenommen hatte, über ins Lager der kritischen Gruppen und äußerte öffentlich seine Unzufriedenheit mit dem Andauern des Besatzungsregimes und mit dem Scheitern der USA beim Aufbau einer Selbstverwaltung. Und er beklagte, was für ihn das Wichtigste war: „die Zerstörung von Iraks kultureller Identität.“24

Wir brauchen die Ereignisse im Irak nicht weiterzuverfolgen, um die Voraussetzungen zu verstehen, unter denen jeder Krieg, den die USA jetzt oder in Zukunft führen, fast unausweichlich in den Quagmire mündet: die Weigerung oder Unfähigkeit (meist beides), die Situation in fremden Ländern außerhalb einer rein militärischen Sichtweise zu analysieren, die ideologische Blindheit, Tatsachen nicht zur Kenntnis zu nehmen, die nicht ins eigene Weltbild aus der Perspektive der unbesiegbaren Großmacht passen, und eine tiefe Verachtung allem gegenüber, was nicht den eigenen, teils neoliberalistischen, teils christlich-fundamentalistischen Wertvorstellungen entspricht. „Die Washingtoner Rhetorik scheint ebenso weit entfernt von dem zu sein, was heute im Irak passiert wie sie es während des Vietnamkrieges“ von dem, was dort passierte, war.25

Diese „Rhetorik“ ist nicht nur, wie man annehmen könnte, „Schönfärbung“ einer militärisch oder politisch mißlichen Lage, sondern verbirgt im Grunde eine tiefe Ratlosigkeit angesichts einer Entwicklung der Ereignisse, die nicht in das vorgefaßte Schema des „Krieges gegen den Terrorismus“ paßt. Sehr schön dokumentieren dies die von Woodward fast täglich protokollierten Diskussionen im Nationalen Sicherheitsrat26, in denen zu Beginn des Krieges in Afghanistan vor allem das Dilemma auftauchte, keinen Gegner zu haben, der sich in ordentlicher, d. h. gewohnter Weise in der Schlacht stellt oder, noch besser, dessen militärische Schlagkraft so in technischen und administrativen Komplexen zusammengefaßt ist, daß man sie leicht bombardieren kann. Unter dem Datum 7. Oktober 2001 ist dort zu lesen: „General Myers (der ranghöchste Luftwaffengeneral, gg) kam auf das Zielproblem zu sprechen. Sie wußten nicht, was sie angreifen sollten. ‚Unsere taktischen Kampfflugzeuge hängen herum (…)’ Es war ein unglaublicher Augenblick, wie er in den Annalen der modernen Kriegsführung noch nie vorgekommen war. Nach einem einzigen Tag der Luftangriffe hatte sich die luftgestützte Macht der Vereinigten Staaten in einen hilflosen Riesen verwandelt, der am Himmel kreiste – ‚herumhing’ in den Worten des obersten Militärs des Landes – und auf Gelegenheiten wartete.“27

In einer ähnlichen Situationen hatte man im Vietnamkrieg dem Guerillakampf mit dem Einsatz modernster Waffen- und Zerstörungstechnik entgegenzutreten versucht (elektronische Sonden, die „Leben“ im Dschungel aufspürten und an die Bomber meldete), Flächenbombardements aus großer Höhe, Einsatz von chemischen Kampfstoffen wie agent orange). In Afghanistan gelang es erst durch die systematische Bestechung von Stammesführern und Warlords der „Nordallianz“, die Luftwaffe mit den so dringend benötigten Bombardierungszielen zu versorgen. Deren Angaben wurden von kleinen paramilitärischen CIA-Teams an die Luftwaffe weitergegeben. „Ein Haufen Geld auf dem Tisch, das war immer noch die Sprache, die jeder verstand“. Klar ausgedrückt: Die US-Luftwaffe „kaufte“ ihre Bombenziele, ohne sie weiter vor Ort zu überprüfen, um die vermißte „Effektivität“ vortäuschen zu können. Jeder Warlord oder Kommandant der „Nordallianz“ konnte so nach seinem Gutdünken die Bomber dahin lenken, wo es ihm nützlich schien: Zum Lager eines Rivalen oder auch in die Wüste, die Dollars flossen allemal.

Bald übernahm die „Nordallianz“ auch den Bodenkrieg ganz. Denn die CIA ging dazu über, „Leistungsprämien“: zu verteilen: „Rücke von Punkt A nach Punkt B vor, und du erhältst einige hunderttausend Dollar“28. Nach eigenen Schätzungen hat die CIA in den ersten Wochen der Afghanistan-Invasion 70 Mio. Dollar auf diese Weise in bar verteilt. Und im Irak wird bald, wie Dan Smith schreibt, der Quagmire die Form eines schwarzen Lochs annehmen, in dem immer mehr Dollarmillionen verschwinden werden, weil man glaube, auf diese Weise alle Probleme lösen zu können. „Ein Charakteristikum schwarzer Löcher ist, daß sie jedesmal größer werden, je mehr sie Energie aus dem benachbarten Kosmos absorbieren. Irak hat bereits Tausende von Menschen das Leben gekostet und zig Milliarden Dollar verschlungen“.29 Und das sei erst der Anfang.

Ignoranz + Arroganz = Quagmire

Für den Buchautor und progressiven Aktivisten Tom Hayden hat das Q-Wort eine besondere Bedeutung. Es bezeichnet eine „strategische Niederlage. Der Besatzer kann sich nicht zum Sieger erklären und er kann nicht abziehen.“ Obwohl es dafür vielleicht noch zu früh sei, leitet er aus den Lehren des Irakkrieges dennoch ein Szenario für den Ablauf der Kriege neuer Art, eine „zutreffende Beschreibung der amerikanischen Krise“ ab30:
- Die Besatzungstruppen werden in nichtmilitärische Aufgaben und Rollen gezwungen, was sie für kleinere Überfälle und Angriffe verwundbar macht.
- Die Besatzungstruppen können sich nicht zurückziehen, denn das wäre das Eingeständnis des Scheiterns und eine Demütigung.
- Die Streitkräfte können auch nicht immer wieder aufgestockt werden, nicht nur aus politischen Gründen, auch wegen der vielen Einsatzorte, an denen sie gleichzeitig im Einsatz sind (außer Irak Afghanistan, Bosnien usw.).
- Die Pläne für eine neue Regierung sind nicht aufgegangen, weil man sich zu sehr auf Exiliraker wie Achmed Chalabi fixiert hatte.
- Wie Gulliver unter den Zwergen, ist die US-Besatzungsmacht wegen ihrer imperialen Attitüde auf gefährliche Weise unfähig, die ihr entgegentretende Opposition zu verstehen.
- Das Gefährlichste an einem solchen Sumpf ist, daß es für die Besatzer keinen anderen Ausweg gibt als den, die eigenen Fehler einzugestehen.
- Das Ende naht dann, wenn die Militärs selbst, beginnend mit den einfachen Soldaten im Feld, bei ihrer Rückkehr nach Hause das Ausmaß der „Versumpfung“ an die Öffentlichkeit bringen. „Vorige Woche mußten führende Militärs vor einer Basis in Georgia angesichts protestierender Soldaten-Ehefrauen militärischen Geleitschutz anfordern.“31

Ignoranz, wenn sie nicht als Defizit empfunden oder bewußt eingestanden wird, produziert Arroganz. Dieses Wort, das eine moralische Kategorie bezeichnet, ist im Falle der Bush-Administration (und vieler ihrer Vorgänger) außerdem auch die nüchterne Beschreibung einer Haltung. Um dies zu erläutern, sollen hier nicht ein weiteres Mal die sogenannten „Kollateralschäden“ thematisiert werden, wenngleich sie dazu gehören. Auch „Grausamkeiten“ im Rahmen kriegerischer Auseinandersetzung (wie etwa die den Charakter eines Massakers annehmende Niederwalzung der flüchtenden irakischen Truppen im ersten Golfkrieg) können zur Not noch als Begleiterscheinungen einer Schlacht angesehen werden. Hier soll ein anderes Beispiel verdeutlichen, wie sehr die Politik der USA im gegenwärtigen Anti-Terror­kampf mit der Attitüde eines „strafenden Gottes“ ohne Rücksicht auf humane oder andere Verluste ihre Ziele durchzusetzen pflegt.

In den Wochen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ergriff die Bush-Administration (in Vorbereitung des Afghanistan-Krieges) eine Reihe von Maßnahmen, die verheerende Folgen hatten. Zu diesem Zeitpunkt waren Millionen von Afghanen durch die Kriege und die aktuellen Kämpfe zwischen den verschiedenen afghanischen Warlords und den Taliban in ihrer Existenz auf die internationalen Lebensmittellieferungen angewiesen. Am 16. September deckte die New York Times auf, daß Washington fünf Tage nach den Anschlägen Pakistan unter Druck gesetzt hat, „die LKW-Transporte, die einen großen Teil der Lebensmittelhilfe und andere dringend benötigte Hilfsgüter, die für die zivile Bevölkerung von Afghanistan bestimmt waren, einzustellen.“ Pakistan gehorchte, wollte es doch zu einem „gutwilligen“ Partner der USA im Kampf gegen den Terrorismus werden. Durch diese Maßnahme, die die Bewegungsfreiheit von Al Qaida einschränken sollte (dafür aber völlig ungeeignet war) geriet eine große Zahl von Menschen in akute Hungersnot, der Tausende oder Zehntausende zum Opfer fielen. In den darauf folgenden Wochen unterrichtete die New York Times ihre Leser wiederholt darüber, daß „die Drohungen militärischer Angriffe die internationalen humanitären Organisationen zum Abzug zwingen und die Hilfsprogramme zum Stillstand bringen“ – „Das Leben dieser Menschen dort hängt an einem dünnen Faden“, so der Vertreter einer Organisation, „und diesen Faden haben sie durchgeschnitten.“32

Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO), die zusammen mit der Generalversammlung der UNO das Welternährungsprogramm (WEP) betreibt, und andere Organisationen mußten wenig später ihre Tätigkeit einstellen. Sie protestierten empört gegen die Bombardements, die für sie „kaum verhüllte Propagandaoperationen“ waren.33 Die New York Times berichtete kommentarlos, daß durch sie die Zahl der von äußerer Hilfe abhängigen Menschen in Afghanistan um 50% auf 7,5 Millionen gestiegen sei. Der Sonderberichterstatter der UNO für Lebensmittelversorgung hatte vergeblich an die USA appelliert, die Bombardements einzustellen, ebenso kurz zuvor die Hohe Kommissarin für Menschenrechte der UNO, Mary Robinson, die vor einer Katastrophe vom Ausmaß derjenigen von Ruanda warnte. Diese beiden Appelle wurden ebenso ignoriert wie die aller anderen humanitären Organisationen. Über sie wurde in der westlichen Presse nicht einmal berichtet. Die FAO warnte davor, daß die Aussaat von Getreide wegen der Bombardements nicht erfolgen könne, wodurch voraussehbar 80% der Ernten verloren gingen. Dadurch würden die Folgen des Krieges auf die kommenden Jahre ausgedehnt. Der Sonderberichterstatter der UNO sprach von einem „schweigenden Genozid“.

Rache für den 11. September? Man kann dazu nur zynisch feststellen: Noch ehe er begonnen hatte, wurden durch den „Krieg gegen den Terrorismus“ in Afghanistan tausend- bis zehntausendmal so viele unschuldige Opfer getötet wie bei den Anschlägen von New York und Washington.

„Anders ausgedrückt: die westliche Zivilisation macht ihre Pläne mit dem Bewußtsein, daß sie ein Massaker von mehreren Millionen Menschen auslösen können – keine Taliban, sondern deren Opfer. Der Chef der westlichen Zivilisation lehnte erneut (Ende September 2001, gg) verächtlich ein Verhandlungsangebot der Taliban ab und machte sich lustig über deren Forderung, er möge doch glaubhafte Gründe dafür vorbringen, warum er ihre Kapitulation verlange.“34

Präsident Bush hat seinen Krieg in Afghanistan, der den Erklärungen aus Washington zufolge auch dazu dienen sollte, das afghanische Volk von der Schreckensherrschaft der Taliban zu befreien, damit begonnen, daß er einen Teil dieses Volkes, das er angeblich retten wollte, ausrotten ließ. Die Arroganz einer solchen Politik wird deutlich, wenn man die Diskussionen im engsten Kreis des Machtzentrums (Präsident, Minister, Sicherheitsberater und Militärspitze) verfolgt, wie sie in dem Buch von Woodward detailliert wiedergegeben werden. Dort ist an keiner Stelle die Rede von den Warnungen und verzweifelten Appellen der Vertreter von UNO, FAO und anderen Hilfsorganisationen. Der sichere Tod von Tausenden von unschuldigen Afghanen wurde anscheinend durch einfache Befehle ausgelöst, die nicht einmal einer internen Diskussion für würdig befunden wurden. Statt dessen äußerte der Präsident mehrmals seine Besorgnis, bei den Bombardierungen könnte eine Moschee getroffen werden, was eine verheerende Wirkung für sein Image hätte, und zwar im Blick auf die nächsten Präsidentschaftswahlen.

Eine neue Strategie der Abschreckung

Wer in solchen Befunden eine Tendenz zur Irrationalität der Washingtoner Politik entdeckt, findet diese Vermutung in einem Dokument bestätigt, das bereits 1995 verfaßt wurde und fünf Jahre später in die Öffentlichkeit gelangt ist. Es handelt sich um ein im Namen des Nationalen Sicherheitsrates (Security Council) erarbeitetes Memorandum mit dem Titel Essentials of Post-Cold War Deterrence, dessen Autoren der „Strategic Advisory Group“ (SAG) angehören. Das Dokument blieb zunächst streng geheim und sollte die Grundlagen einer „neuen“ Abschreckungspolitik nach dem Verschwinden der Sowjetunion darstellen. Zur damaligen Zeit war das Dokument auch eine Reaktion auf die internationale Diskussion über Atomwaffen und den Atomwaffenvertrag.35

Die Hauptthese der Studie wird schon im ersten Absatz formuliert: „Der eigentliche Rahmen eines Konzepts, das darauf abzielt, Furcht und Unsicherheit in die Köpfe der Gegner zu bringen, war niemals, und kann niemals strikt rational sein.“ Man müsse vor allem die Gefühle des Gegners ansprechen, nicht seinen Verstand. Deshalb darf das Verhalten der Vereinigten Staaten nicht berechenbar oder rational erscheinen. Abschreckung funktioniere am besten, wenn sowohl stets die letzte Konsequenz (der Einsatz von Atomwaffen) als Drohung vermittelt werde, als auch die Art der Sanktionen unbestimmt bleibe. „Deswegen ist es unerwünscht, eine 'deklaratorische Politik' zu betreiben, also etwa Erklärungen zu verbreiten wie die, man werde Atomwaffen nicht als erste einsetzen, denn das würde die nuklearen Abschreckungsmöglichkeiten der USA einschränken. „Speziell müssen wir dem Feind vermitteln, wovor wir abschrecken wollen, aber nicht, was ‚erlaubt’ ist“. Die Unterscheidung zwischen Atomwaffen (deren Verbot auf die Staaten beschränkt ist, die noch keine haben) und „Massenvernichtungswaffen“ sowie biologische oder chemische Kampfstoffe (deren Anwendung allen Staaten verboten ist), wird als unsinnig erklärt und statt dessen eine „Werthierarchie“ dieser verschiedenen Waffen propagiert. Damit ist gemeint, daß die USA (und niemand sonst) das Recht haben sollen, zu entscheiden, welche Waffen sie in jedem einzelnen Fall einer Verletzung „vitaler Interessen“ einsetzen, und daß sie auch nicht vorher mitteilen sollen, welche dies sein werden. Die logische Folge dieser Politik ist natürlich die prinzipielle und konsequente Mißachtung aller internationalen Vereinbarungen, die die Anwendung von Atom- oder Massenvernichtungswaffen verbieten oder einschränken.

„Abschreckung“ soll „Furcht im Kopf des Gegners auslösen – die Angst, daß er seine Ziele nicht erreichen kann, Angst, daß seine Verluste und Leiden weit größer sein würden als was er gewinnen kann, die Furcht, daß er bestraft wird. Sie soll letztlich die Angst vor der vollkommenen Auslöschung erzeugen – Auslöschung entweder der feindlichen Anführer, oder ihrer nationalen Unabhängigkeit, oder von beidem.“

Es ist zu konstatieren, daß einige Aspekte dieser neuen Doktrin offenbar bereits in praktische Politik umgesetzt worden sind. Demnach scheint als theoretisch-moralischer Grundbegriff das Wort „Bestrafung“ im Zentrum dieses neuen Konzepts des Umgangs mit fremden Staaten zu stehen. Die aus diesem Geist geführten Kriege sind im Grunde keine um Territorien, um Bodenschätze oder Einflußsphären mehr, sondern Bestrafungsfeldzüge („Kreuzzüge“), ausgelöst durch das „Verbrechen“ des Gegners, sich der Weltmacht in irgendeiner Weise entgegengestellt zu haben oder entgegenstellen zu wollen. Atomwaffen sind in diesem Fall wichtig, weil nur so die USA als „irrationale und rachsüchtige“36 Strafinstanz glaubwürdig erscheinen, denn nur so können sie jederzeit mit der totalen Vernichtung eines Gegners drohen.

„Dies soll ein Teil unserer nationalen Identität sein, die wir allen Gegnern vermitteln.“ Es sei falsch, die USA als „ganz rationale Macht mit kühlem Kopf“ erscheinen zu lassen, und sie dürften sich auch nicht „solchen Albernheiten wie internationalem Recht oder Verpflichtungen aus Verträgen“ unterwerfen. „Die Tatsache, daß einige Elemente (der US-Administration, gg) tendenziell als ‚außer Kontrolle geraten’ erscheinen, kann vorteilhaft sein, um Angst und Zweifel in den Köpfen der feindlichen Entscheidungsberechtigten zu erregen und zu verstärken.“

Nach dem Bekanntwerden der Studie ließ der Nationale Sicherheitsrat der Presseagentur Associated Press eine Mitteilung zukommen, sie repräsentiere nicht offizielle US-Politik. Dem ist zuzustimmen, formuliert sie doch nur die ideologischen Voraussetzungen und Motive dieser Politik („a baseline“, wie es heißt) und dies auch nur in der Form eines Diskussionsbeitrags. Ohne Rücksicht auf eventuelle Umsetzungsprobleme wird eine strategische Linie entworfen, die manche bislang geltende Tabus bricht und schließlich doch als so etwas wie der geistige Horizont erscheinen muß, innerhalb dessen in Washington politische Entscheidungen diskutiert und gefällt werden.

Die Studie stellt außerdem ein „Abschreckungskonzept“ vor, dessen Abstraktheit den Vorteil hat, daß es gegen jeden beliebigen Feind angewendet werden kann. Erst in der Verbindung mit dem kurz zuvor (und diesmal offiziell) eingeführten Begriff „Schurkenstaaten“ entfaltet dieses Konzept seinen Bezug zum jeweiligen politischen Handeln. Die Sanktionen sind schon formuliert, bevor der Gegner feststeht, und dieser kann vollkommen willkürlich bestimmt werden. Es ist durchaus vorstellbar, daß die „Gefahr“, dieses Abschreckungskonzept anwenden zu müssen, zum Zeitpunkt seiner Formulierung eher unwahrscheinlich war (und ich vermute, ohne dies hier abwägen zu können, daß es im Krieg um das ehemaligen Jugoslawien kaum in dieser Form angewendet worden ist). Erst die Anschläge vom 11. September 2001 haben die Notwendigkeit ganz konkret geschaffen, über eine Umsetzung nachzudenken. Der Vietnamkrieg paßte in die globale Abschreckungstheorie, wie sie in den 1990er Jahren entwickelt wurde, noch nicht hinein, auch wenn mit der „Counterinsurgency-Taktik“ bereits Elemente davon eine Rolle spielten. Wir müssen dabei die Tatsache bedenken, daß der Vietnamkrieg nicht als Guerillakrieg gewonnen wurde, sondern letztlich in offener Schlacht. Dies begann schon 1968 mit der „Tet-Offensive“, bei der Provinzen und Großstädte (Hue) und sogar für einige Tage die Botschaft der USA in Saigon in die Hände des Widerstands fielen und die südvietnamesischen und US-Streitkräfte in ernste militärische Schwierigkeiten gerieten. Und der Krieg endete mit einem Sieg der Truppen der Befreiungsfront und der DRV über die hochaufgerüstete Armee Nguyen Van Thieus. Der Verteidigungs- und Unabhängigkeitskrieg gegen die USA war, von seinen Wurzeln her gesehen, eine Fortsetzung des Kolonialkrieges gegen Frankreich und enthielt gleichzeitig bereits Elemente jener „neuen“ Art von Kriegen, die dann immer ausschließlicher die Ära nach dem Kalten Krieg bestimmte.

Die Terroranschläge vom 11. September spielten in durchaus unterschiedlicher Weise eine Schlüsselrolle bei der Entfaltung der neuen Großmachtpolitik der USA. Es ist bekannt, daß sie von einigen Vertretern einer imperialistischen Politik in der Denkschule des „Unipolarismus“ (Huntington37) und bei Mitgliedern der aktuellen Administration38 als „Chance“ begrüßt worden sind. Denn gerade die relative Anonymität der Täter erlaubte es, die Trauer und den Zorn der US-Bevölkerung und ihre eigenen Racheaktionen auf alle die Staaten, Personen und Regionen zu lenken, die auch aus anderen Gründen bereits als potentielle Gegner bestimmt worden waren. Andererseits brachte sie sich durch die sofortige Personalisierung (Bin Laden) in Erklärungszwang, warum im Kampf gegen diesen Gegner und seine Organisation (El Qaida) Staaten als Ganze angegriffen werden sollten. Im Falle Afghanistan war dies durch das Vorhandensein von „Schlupfwinkeln“ noch relativ leicht, im Falle Irak eigentlich unmöglich. Einerseits also schienen jegliche Hemmungen durch die überaus große Brutalität der Anschläge, die den Boden der USA trafen, nunmehr fallen gelassen werden können, andererseits mußte die imperiale „Abschreckungspolitik nunmehr auch praktisch, nicht mehr nur verbal angewendet werden.

Es tat sich ein tiefer Gegensatz auf zwischen der imperialistischen Rhetorik und den Notwendigkeiten der Praxis, die nun „Krieg“ heißen sollte. Der reinen widerspruchsfreien Sphäre des absoluten Machtgefühls traten die Beschränkungen die Realität gegenüber. Und sie lassen sich summieren und symbolisch benennen mit dem Wort Quagmire. Auf der einen Seite das „geopolitische Delirium“39 und auf der anderen die Untiefen des realen Sumpfs.

„The Never Ending War“

Es scheint, als habe der Vietnamkrieg als Bezugspunkt für die historische Bewertung der gegenwärtigen Situation eine größere Bedeutung als die Terroranschläge vom 11. September. Die letzteren sind, wenn man Edward W. Saids Sicht aus arabischer Perspektive folgt, nur eine Konsequenz aus einer langen Folge von „furchtbaren Schlägen“ der USA, unter denen die Araber zu lange gelitten hätten. 1998 formulierte er die „Notwendigkeit“ eines „einheitlichen, abgestimmten Willens“ der Araber40, ohne voraussehen zu können, daß dieser sich in so radikaler und unerwarteter Form manifestieren würde, wie es 2001 geschah.

Neuere wissenschaftliche Beiträge zum Vietnamkrieg, wie sie auffallend häufig in letzter Zeit erschienen sind, weisen schon in ihren Titeln darauf hin, daß wenigstens in der wissenschaftlichen Diskussion eine Neueinschätzung dieses Ereignisses versucht wird.41 Eine repräsentative Sammlung von Aufsätzen zum Thema erschien 2003 unter dem Titel „America, the Vietnam War and the World“.42 In ihrer Einleitung zu diesem Buch nennen die Herausgeber drei Dimensionen, die der Vietnamkrieg in historischer Betrachtung habe: als ein amerikanischer Krieg, als ein internationales Ereignis und als ein Ausgangspunkt für historische Vergleiche43 (Hervorhebung gg).

Die Autoren behandeln die verschiedensten Aspekte, aber für unsere Fragestellung interessant sind vor allem ihre Versuche, den Vietnamkrieg geschichtlich einzuordnen und seinen beispielhaften Charakter zu bestimmen. Dabei verweisen sie auf einen wichtigen, bislang kaum beachteten Aspekt, inwiefern nämlich der Vietnamkrieg nicht nur der Anfang, sondern auch das Ende einer langandauernden Selbstinterpretation der USA als Nation war: Sie verweisen auf die Entstehung der amerikanischen Nation aus einem Abwehrkampf gegen europäische Kolonialmächte, welcher das Bewußtsein der US-Amerikaner geprägt habe. Das Entkommen aus europäischer Korruption und die Inbesitznahme eines ursprünglichen Kontinents durch das unermüdliche Ausweiten menschlicher und räumlicher Grenzen war stets eines der Grundelemente des amerikanischen Nationalismus. Dieses Selbstbild wurde „unwiderruflich besudelt durch den dreckigen Krieg in Südostasien“.44

Solche Erkenntnisse, die natürlich je nach politischer Überzeugung verschieden interpretiert und vor allem verarbeitet wurden (das „Trauma“), waren nicht ohne Einfluß auf die verschiedenen historischen Interpretationen dieses Krieges, wie sie bereits in den 1960er und 1970er Jahren in den USA nacheinander vorherrschten und jeweils als Legitimierung der Invasion dienten.

Zwei „major narratives“

Diese beiden Haupt-Interpretationsansätze45 sind:

1 Der Vietnamkrieg war Teil des Kalten Kriegs
Der Konflikt in Vietnam wird im Rahmen des Kalten Kriegs gesehen, und zwar als ein peripherer oder „Stellvertreterkrieg“. In dieser Sicht erscheint die südvietnamesische Befreiungsfront als Teil der internationalen kommunistischen Expansion, unterstützt durch Hanoi, SU und China. Jeglicher Bezug zum Antikolonialismus fehlt, der Krieg in Südostasien ist nur ein „kommunistischer ‚Befreiungskrieg’“46.

Diese Variante war während des gesamten Krieges vorherrschend, nach der Niederlage wurde sie vor allem von Politikern auch weiterhin propagiert. So behauptete Nixon noch im Jahre 1980, daß der wirkliche Kampf der gegen die Sowjetunion, und daß Vietnam in diesem Kampf nur eine Schlacht sei, ebenso wie die Kämpfe um die Dritte Welt nur „Stellvertreterkriege“ im Kampf gegen die Sowjetunion seien.47 Als dann die sozialistischen Staaten verschwanden, erschien der Vietnamkrieg in dieser Sicht als eine Schlacht in einem letztlich gewonnenen Krieg. Walt Rostow, Berater für nationale Sicherheit von Präsident Johnson war sogar der Ansicht, der Vietnamkrieg sei positiv zu bewerten, weil er den anderen südostasiatischen Staaten dabei geholfen habe, „in Unabhängigkeit zu prosperieren“48, also trotz der Niederlage eine „abschreckende“ Funktion gehabt habe.

Diese Sicht ignoriert, was der Krieg für die Vietnamesen bedeutete. Ihnen ging es nicht um „Kommunismus“ oder um die Unterstützung in einer weltweiten Auseinandersetzung zwischen West und Ost, sondern um Unabhängigkeit und Wiedervereinigung. Hätte es keinen Kalten Krieg gegeben, hätte Vietnam trotzdem um seine Unabhängigkeit gekämpft. Dieser Kampf wäre auch geführt worden, wenn die USA nicht eingegriffen hätten (dann wäre er freilich schon 1954 zu Ende gewesen). Auch die Unterstützung von UdSSR und China für Vietnam gegen den Feind USA im Kalten Krieg ändert nichts an dieser Auffassung der Vietnamesen, zumal diese Unterstützung explizit im Zusammenhang mit Dekolonisierung und Kampf gegen eine Aggression geleistet wurde. „Hintergedanken“ oder geheime Ziele gab es für die Vietnamesen nicht.49

2 Der Vietnamkrieg kennzeichnet das Ende der Dekolonisierung

Die zweite Geschichtsinterpretation begann etwa Mitte der 60er Jahre diese Standardtheorie in Frage zu stellen und ersetzte sie – zumindest in akademischen und intellektuellen Kreisen – in den frühen 70er Jahren ganz. Sie stellte den Vietnamkrieg in den Zusammenhang der Kämpfe um die Dekolonisation der Dritten Welt. In dieser Auseinandersetzung fand sich Amerika am Ende auf der Verliererseite wieder, „weil es beschlossen hatte, in die Fußstapfen der europäischen Kolonialmächte zu treten“50>. Insofern war Vietnam nicht nur eine verlorene Schlacht, sondern signalisierte einen verlorenen „Kolonialkrieg in einer postkolonialen Ära“51. Diese Theorie macht auch einen Unterschied zwischen Kommunismus und Antikolonialismus. So war Ho Chi Minh in dieser Sicht eher ein Nationalist als ein „Kommunist“, und der Vietnamkrieg hatte zu Zeiten der US-amerikanischen Intervention eher den Charakter eines Bürgerkrieges als den einer kommunistischen Revolte.52

Beide Erklärungsmodelle sind zu stark auf ihre Funktion als Rechtfertigung hin konzipiert, als daß sie einem historisch wissenschaftlichen Anspruch genügen könnten. Demgegenüber ist der Übergangscharakter dieses Krieges zu betonen und zu beschreiben, um seine globalen Bedeutung zu erfassen. „Der Vietnamkrieg stellt tatsächlich, in der Art, wie er das Leben von Regierungen und normalen Bürgern auch außerhalb der wichtigsten kriegführenden Länder beeinflußte, ein globales Ereignis dar.“53

Es scheint, daß im Vietnamkrieg die politische Absicht, im Sinne der Domino-Theorie den “Kommunismus” zu bekämpfen, bereits kontrapunktisch begleitet war von einer späteren Doktrin: der globalen Vision einer neuen Weltordnung.54 Diese Ideen betrafen vor allem internationale freie Märkte und technologische Modernisierung. Selbst Intellektuelle waren in den 1960er Jahren davon fasziniert, daß das Ideal der US-amerikanischen Great Society in andere Länder und sogar in solche der „Dritten Welt“ wie Vietnam übertragen werden könnte. Aber es stellte sich heraus, daß dieses Terrain dafür nicht geeignet war. Alle diese Ideen (z.B. auch Nixons Vision eines kapitalistischen asiatischen Marktes) waren sehr abstrakt und bauten ganz auf den eigenen ideologischen Fundamenten auf, ohne die jeweiligen Voraussetzungen vor Ort zu beachten. „Die Art von Revolution, die die USA in der Dritten Welt begrüßt hätten, eine, die der eigenen Geschichte ähnlich wäre, passierte nicht. Statt dessen gelang den Nordvietnamesen etwas, das nicht nur ihren eigenen geographischen Möglichkeiten entsprach, sondern auch ihren kulturellen Wurzeln, die den amerikanischen Diplomaten, Soldaten und Intellektuellen stets fremd waren und fremd bleiben würden.“55 Ho Chi Minh hatte große Sympathien für bestimmte Phasen der amerikanischen Geschichte: Den kolonialen Befreiungskampf der USA gegen England etwa und ihre Erklärungen zur Selbstbestimmung der Völker im 2. Weltkrieg. Da drängt sich ein Vergleich der beiden Revolutionen auf: Im Vietnamkrieg hatten die USA die Gelegenheit, anders zu handeln als die europäischen Mächte, gegen die sie die Entstehung ihrer Nation durchgesetzt hatten. Statt dessen begaben sie sich auf die ausgetretenen Pfade des Kolonialismus und erlitten ein Schicksal, das die Gründerväter ängstlich zu vermeiden gesucht hatten.56

Der Vietnamkrieg war wohl der letzte Kolonialkrieg und zur gleichen Zeit der erste im sogenannten “amerikanischen Jahrhundert”, jener nach dem Ende der bipolaren Welt entstandenen Vision von der (gutmütigen) Herrschaft der USA über die ganze Welt. Daß gerade er verloren ging, mag als Fanal für diese Vision und ihre Verlogenheit stehen. Dazu paßt, daß die USA auch in Afghanistan und im Irak noch in den Denkmustern des Kolonialismus verhaftet erschienen und sich damit von ihren eigenen Wurzeln entfremden. Man wird darauf hoffen müssen, daß die Gegenkräfte in diesem nunmehr wahrhaft globalen Machtkampf erwachen und erstarken, und daß es friedliche sein mögen, mächtig nicht durch Waffen und Terror, sondern durch Überzeugung und demokratische Überlegenheit. Denn die Vorstellung, Al Qaida könnte ein Verbündeter sein oder bleiben, ist unannehmbar, denn dann würden wir uns eine ähnliche ignorante und arrogante Haltungen anmaßen wie die bellizistischen Kreise in Washington.

Anmerkungen:
1 so Rumsfeld Ende Oktober 2001, zit. nach Bob Woodward: Bush at War, 2002, dt. Ausg. Stuttgart/München 2003, S. 313. 2 Woodward, S. 345.
3Websters New Universal Unabridged Dictionary, 1996
4 Titel von Aufsätzen und Internet-Texten, auf die in diesem Artikel noch eingegangen wird. 5 Robert Hardaway: U. S. struck in the quagmire, in: Denver Post vom 14. März 2004.
6 Kampf gegen Aufständische, Guerillakämpfer.
7 Dan Smith: Descending into the Quagmire. The Occupation of Iraq, in: Foreign Policy in Focus, 30. Juni 2003. Dan Smith ist Oberst der US-Army im Ruhestand und Militärexperte im Friends Committee on National Legislation.
8 Dieses und die folgenden Zitate stammen aus einer Vorlesung von Bernard Fall am Naval War College vom 10. Dezember 1964, zit. nach Dan Smith, s.o.
9 Dieser Vergleich ist inzwischen ein weltweites öffentliches Diskussionsthema: Dem Stern war das Thema schon zewimal eine Titelstory wert (47/2003 und 12/2004), der greise Peter Scholl-Latour widmete ihm ein Feature im ZDF. Sogar die regionale Presse nimmt sich des Themas an (Z.B. Oberhessische Presse am 08.04.2004). Selten sind vertiefende Artikel wie der in der Frankfurter Rundschau vom 22.11. 2003.
10 Im Juli 1964 behauptete die US-Navy, eines ihrer Kriegsschiffe, die im Golf von Tonking operierten, sei von zwei vietnamesischen Booten angegriffen worden. Die Meldung stellte sich später als frei erfunden heraus, wurde aber zum Vorwand für die Bombardierung der DRV benutzt.
11 Erst ein Jahr später gab Außenminister Powell öffentlich zu, was er schon bei seiner Kriegsrede am 5. Februar 2003 von der UNO genau wußte: daß seine „Beweise“ offensichtlich falsch waren (Vgl. FR vom 05.04.2004).
12 Außenminister George Shultz am 14. April 1986. zit. in Noam Chomsky, Acts of Aggression. Policing „Rogue“ States, New York 1999, S. 24
13 NSC 5429/2, zit. nach Chomsky (s.o.), S. 25
14 Vgl: Irving Kristol: The Emerging American Empire, Wall Street Journal 18.08.1997; Joseph S. Nye jr.: Bound to Lead. The Changing Nature of American Power, New York 1990.
15 Dieser Begriff wird in den USA abgelehnt, weil er nur auf die Politik der Kolonialmächte im 19. und 20. Jahrhundert passe, aber der Begriff „imperial“ wird offiziell verwendet. Noch schmeichelhafter ist der Begriff „Welthegemon“, der vielerorts bereits ganz ernsthaft benutzt wird, so in dem von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Buch „Die Vereinten Nationen“ von Sven Gareis und Johannes Varwick, Bonn 2003, S. 175ff.
16 Peter Scholl-Latour hat in seinem Vergleich (ZDF) wie eh und je diese Kategorien in den Mittelpunkt seiner Darstellung gestellt.
17 Im Original: “inadmissible” – unzulässig.
18 Edward W. Said: Apocalypse Now, in Chomsky (s.o.), S. 8f.
19 "Schiiten und Sunniten in eine gemeinsame Front gedrängt zu haben, ist ein besonderes Meisterstück der Besatzung“, schreibt Karl Grobe in der Frankfurter Rundschau vom 19. 04. 2004.
20 einen willkommenen Nebeneffekt etwa, der sicher zu Beginn eine größere Rolle gespielt hat und nach und nach in den Hintergrund tritt.
21 Das mag am besonderen Charakter des derzeitigen Präsidenten liegen, der vor allem ein ideologischer und fundamentalistischer Hardliner ist. Insofern können die hinter ihm stehenden wirtschaftlichen Kreise zufrieden sein, denn seine „Kreuzzüge“ dienen auch ihren Interessen.
22 Die folgenden Ausführungen beruhen auf einem Artikel von Daniel Smith, dem bereits erwähnten ehemaligen Oberst der US-Army und jetzigen Journalisten, mit dem Titel: „Quagmire? What Quagmire?“, in: Foreign Policy in Focus, 6/2003. Hier zitiert nach Asia Times 01.07.2003 online. Wörtliche Zitate im Folgenden stammen, wenn nicht anders vermerkt, aus dieser Quelle.
23 Die USA hatten dazu vor allem Exiliraker als „Vertreter“ hinzugezogen, die im Land unbekannt oder unpopulär waren.
24 Washington Post, 23. Juni 2003.
25 Daniel Smith s.o.
26 Die „Fortsetzung” dieser Protokolle aus dem innersten Kreis der Macht dürfte wichtige Aufschlüsse über den Krieg im Irak geben. Sie ist bereits angekündigt („The Attack”), war bis Redaktionsschluß aber nicht erschienen.
27 Woodward, S. 235
28 Woodward, S. 348
29 Daniel Smith s.o.
30 Tom Hayden: Say It: This is a Quagmire, Independant Media Institute, veröffentlicht auf der Website Alternet im Juli 2003
31 New York Times, 04.07.2003
32 Zitate und Fakten zu diesem Fall stammen aus: Noam Chomsky: „Lakdawala Memorial Lecture“, Vorlesung, gehalten in Neu Delhi am 3.11.2001, veröffentlicht u.a. in Le Monde vom 22.11.2001 (Supplément Guerre éclair, doute persistant).
33 Sogar die Air Force mußte zugeben, daß sie wenig sinnvoll waren im Rahmen des Kampfes gegen Al Qaida, vgl. weiter oben.
34 Noam Chomsky, a.a.O.
35 Etwa zur selben Zeit, als dieses Dokument bekannt wurde, erschien ein Buch, dessen Autor diese Fragen aufwarf, aber nicht wußte, daß seine Thesen bereits in die Politikplanung eingegangen waren: Keith B. Payne: The Fallacities of Cold War Deterrence and a New Direction, Lexington 2001. (Fallacities = Verirrungen) Es wurde breit diskutiert, während die „Essentials...“ m. W. nur in der Washington Post eine kurze Erwähnung fanden (am 05.07.2001).
36 So wörtlich in dem Dokument.
37 Erstmals formuliert von Charles Krauthammer: The unipolar Moment, in Foreign Affairs 1990/ 91. Vgl. auch Samuel P. Huntington: The Lonely Superpower, in Foreign Affairs 78, 1999.
38 Wie Rumsfeld, Rice und Powell. Vgl. Woodward S. 65 und 82.
39 Günter Giesenfeld: Geopolitisches Delirium? US-amerikanische Denkmuster über Internet, Cyberspace und künftige Kriege, in: AugenBlick Nr. 29, Marburg 1999.
40 In Chomsky, Acts of Aggression, S. 14
41 Es seien nur einige wenige genannt: The Un­ending Debate: Historians and the Vietnam War (Gary R. Hess, 1995); America and Vietnam: The Debate Continues (George C. Herring, American Historical Review 92, 1987); Why Vietnam? Postrevisionist Answers and a Neorealist Sugges­tion (David L. Anderson, Diplomatic History 13, 1989); Conflicting Interpretations of the Vietnam War (Robert K Brigham, Martin J. Murray, Bulletin of Concerned Asian Scholars, 26, 1994); The Debate over Vietnam (David W. Levy, 1995); Der Vietnamkrieg im Spiegel der neueren amerikanischen Forschung (Marc Frey, Neue politische Literatur 42, 1997); The Never Ending War (Jonathan Mirsky, New York Review of Books, 25.05.2000).
42 Herausgegeben von Andreas W. Daum, Lloyd C. Gardner und Wilfried Mausbach, Cambridge University Press 2003.
43 Daum et al., S. 2
44 Daum et al. S. 5
45 Der englische Ausdruck „narratives“ hat einen gewissen Reiz, weil er den Akzent auf die Interpretation legt, die ein Ereignis beim „Wiedererzählen“, etwa in einem Hollywood-Film, erfährt.
46 So MacNamara in einem Memorandum an den Präsidenten vom 16. Mai 1964. FRUS 1964-68, 1, 154.
47 Nixon in seinem Buch The Real War, New York 1980

48 Walt W. Rostow in Times Literary Supplement, 9. 06.1995
49 Vgl. John Prados: Peripheral War, in Daum et al. S. 88-103
50 Daum et al. S. 6
51 Michael Adas in: Daum et al. S. 27-42
52 Für diese Theorie steht vor allem das Buch von Grances FitzGerald: Fire in the Lake: The Vietnamese and Americans in Vietnam, Boston 1972.
53 Daum et al. S. xi
54 Emily Rosenberg: Spreading the American Dream. American Economic and Cultural Expan­sion, 1890-1945. New York 1982; Tony Smith: America’s Mission. The United States and the Worldwide Struggle For Democracy in the Twentieth Century, Princeton 1884
55 Daum et al. S. 23
56 Vgl. T. Christopher Jespersen: British Reactions and American Responses, in Daum et al.: S. 87.

Veröffentlicht im Vietnam Kurier 1/2004

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