Am Abgrund

Eine Kurzgeschichte von Pham Thi Ngoc Lien

Angela Thuy, Model:

Es traf mich wie ein Donnerschlag, als ich hörte, dass Robert Khai tot ist. Nur drei Tage zuvor waren wir gemeinsam bei einem Photoshooting in Mui Ne bei Phan Thiet gewesen. Es ging um Werbung für eine Kosmetikfirma. Wie gewöhnlich machte Robert Khai Witze, um die Leute bei Laune zu halten. Wir wären lieber über Nacht in Phan Thiet geblieben, wenn nicht Julie Kim eine Abendshow in Saigon gehabt hätte. So kehrten wir mit einem gewissen Bedauern zurück. Julie versprach, uns alle am Wochenende zu sich nach Hause einzuladen, es sollte Pangasius-Eintopf geben und wir wollten Karaoke singen. Es sollte sogar einen Preis geben: eine hochwertige Handtasche, die sie von ihrem Freund erhalten habe. Robert Khai lachte und war sicher, dass er gewinnen würde:

„Also kannst du die Handtasche nur noch eine Woche lang benutzen, meine liebe Julie, denn dann wird sie mir gehören!“

Robert Khai hatte allen Grund, selbstsicher zu sein. Er hatte einst einen Gesangswettbewerb im Fernsehen mitgemacht und es bis in die Endrunde gebracht. Er wäre vielleicht ein Popstar geworden, wenn er nicht einen Modedesigner kennen gelernt hätte, der ihn dazu überredete, Karriere auf dem Laufsteg zu machen. Und schon bei seinem ersten Auftritt war er erfolgreich und wurde bekannt, wahrscheinlich seines schönen Körpers wegen. Er war 1,87 m groß und wog 78 kg. Er hatte ein quadratisches Gesicht mit tiefliegenden Augen. Er sah eine wenig aus wie Alain Delon, der französische Schauspieler.

Allmählich wurde er zum bekanntesten männlichen Top-Model und trat bei vielen Modenschauen auf. Inzwischen war er schon ein Veteran des Laufstegs, aber auch ein gutherziger Mensch, der stets alle Sympathien auf sich zog. Nach kurzer Zeit konnte er sich eine Wohnung in einem teuren Wohnkomplex leisten. Es war fast wie ein Palast, und vor allem das Badezimmer war luxuriös, ein wenig wie in einem Spa-Resort.

Die Stimme von Jinny Loan war heiser vor Schrecken am Telefon:

„Habt Ihr schon gehört? Khai wurde letzte Nacht tot in seinem Badezimmer aufgefunden!“ Ich traute meinen Ohren nicht, dachte, ich hätte mich verhört. Als Jinny seine Nachricht wiederholte, war ich so verwirrt, dass ich fast vergaß, ihm zu antworten, als er mich fragte, ob wir uns im Café treffen könnten. Ich nahm ein Taxi und fuhr hin, wo alle von dem Ereignis sprachen. Khai war tot, aber warum?

Louis Quyen, Model:

Bei der Autopsie war festgestellt worden, dass Khai an einem Herzinfarkt gestorben war. Das überraschte mich sehr, denn wenn jemand ein starkes Herz hatte, dann Robert Khai. Er war ein Body-Builder und sah hervorragend aus. Jeden Tag verbrachte er vier Stunden im Fitness-Center, und außerdem schwamm er, spielte Tennis und radelte mit seinem Bike durch die Berge. Ich dachte, dass er unmöglich an einem Herzinfarkt gestorben sein konnte. Dass es da irgend ein Geheimnis geben musste. Wir wussten nur, dass er im Badezimmer gestorben war. Das war die einzige Information die wir erhielten. Sein Tod überraschte alle Models und machte uns traurig, sogar diejenigen, die ihn eigentlich wegen seines Talents beneideten. Er konnte eben mit allen sehr gut. Und deshalb liebten sie ihn.

Um uns herum schwirrten die Gerüchte über seinen Tod, teils weil er so überraschend kam, teilweise auch, weil nach drei Tagen sich noch niemand aus seiner Verwandtschaft gemeldet hatte, obwohl eine Nachrichtenagentur seinen Tod in den Medien gemeldet hatte. Sein Körper lag tagelang im Leichenschauhaus. Er tat mir Leid.

Charlie Truong, Designer:

Einen Tag nach Khais Tod rief mich die Agentur an, weil er stets meine Kollektion als erste gewählt hatte. So hatten wir eine enge Beziehung. Das war allen Models bekannt. Es gab sogar Gerüchte, dass wir ein schwules Paar seien. Aber das stimmte nicht, Robert Khai war stets von einer Menge schöner Mädchen umgeben. Alle diese Rendezvous mit seinen Geliebten wurden geheim gehalten und ich war der einzige, der Bescheid wusste. Khai sagte oft zu mir: „Es gibt keine Veranlassung, mein Privatleben öffentlich zu machen, bitte denk daran.“ Ich denke, dass das nicht nur Khais Wunsch war, sondern so dachten auch die anderen Künstler. Diese Leute brauchen ihre Privatsphäre, weil sie fast ihre ganze Zeit in der Öffentlichkeit stehen.

In der letzten Zeit war Khai oft mit einer reichen Frau gesehen worden. Ich erzählte dies dem Ermittler.

„Wir untersuchen den Fall noch. Ihre Mitteilung und die der anderen Kollegen werden uns dabei helfen, den Fall zu lösen.“

Das Geheimnis seines Todes brachte mich immer wieder dazu, an sein Verhältnis zu dieser Frau zu denken.

„Sie ist über dreißig. Sie ist schön und reich. Sie heißt Kien Nga oder Kien Ngan, ich bin mir da nicht sicher, und sie ist die Frau eines Immobilienmaklers. Khai hatte mir erzählt, dass sie und ihr Mann getrennt lebten, Es schien mir, als liebe Khai sie sehr. Er wollte diese Beziehung nicht beenden, also hatte er nichts dagegen, dass sein Verhältnis bekannt wurde. Aber trotzdem sagte er nicht viel darüber, und vor allem nichts über die Frau. Deswegen kann ich dazu auch nichts weiter sagen.“

Der Ermittler stellte mir zahlreiche weitere Fragen über unsere Beziehung. Ich sagte alles, was dazu zu sagen war: Auch wenn ich selber homosexuell war, so waren wir doch nur enge Freunde. Aber anscheinend interessierte diese Aussage den Ermittler nicht. Stattdessen fragte er mich plötzlich, ob ich einen Lippenstift benutze, und ich verneinte. Ich bin schwul, aber ich benutze trotzdem keinen Lippenstift.

„Ach so, wirklich? Tut mir Leid. Kennen Sie denn irgendeinen Freund oder Liebhaber von Khai, der diese Art von Lippenstift benutzt?“ Und er zog einen kleinen Nylonbeutel unter dem Tisch hervor und legte ihn vor mich hin. Darin befand sich ein Lippenstift.

Herr Dung, Ermittler:

Nachdem ich die Aussagen Charlie Truongs aufgezeichnet hatte, ging ich ins Leichenschauhaus, um nochmals einen Blick auf Khai zu werfen. Obwohl ich ihn nun schon mehrfach gesehen hatte, seit er im Badezimmer gestorben war, machte der Anblick mich jedes Mal traurig, weil er noch so jung gewesen ist, als es geschah. Nach den Angaben in seiner Akte war er einen Monat zuvor erst 27 geworden. Wenn ich diesen jungen muskulösen Körper ansah, konnte ich mir vorstellen, wie schön er auf dem Laufsteg ausgesehen haben musste. Wie schade um ihn!

Als der Tote entdeckte wurde, lag er ausgestreckt mit dem Gesicht zum Boden, neben der Wanne, als würde er schlafen. Die erste forensische Untersuchung ergab, dass sein Herz plötzlich stehen geblieben war und damit kein Blut mehr in sein Gehirn floss. Es war anscheinend ein Herzinfarkt. Aber als er ein zweites Mal in der Autopsie gründlicher untersucht wurde, fand man in seinen Fingernägeln kleine Reste eines roten Lippenstifts. Auch an seinen Schneidezähne wurden Spuren des Lippenstifts gefunden. Bei der Durchsuchung der Wohnung stellten wir fest, dass es dort keine Kosmetika gab außer Rasierwasser, Parfüm und Haargel für Männer. Weitere Untersuchungen ergaben, dass sich in seinem Genitalbereich Spuren von frischem Sperma befanden. Das hieß, dass Khai vor seinem Tod Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Der rote Lippenstift in seinem Fingernägeln und Zähnen könnte der Person gehören, mir der er geschlafen hatte.

Die chemische Abteilung untersuchte die Lippenstift-Spuren und kam zu dem Ergebnis, dass es etwa 30 Lippenstifte mit dieser Zusammensetzung auf dem Markt gab.

Angela Thuy, Julia Kim, Jinny Loan und Charlie Trung, die einige Tage zuvor zusammen mit Khai nach Mui Ne gefahren waren, wurden verhört. Sie alle waren überrascht von Khais Tod und bereit, bei der Aufklärung mitzuwirken. Auch sie wurden unvorbereitet mit der Frage nach dem roten Lippenstift konfrontiert, um ihre unverfälschte Reaktion zu testen. Aber das war ergebnislos. „Wir Models benutzen oft roten Lippenstift, und gerade dieser Ton ist weit verbreitet, also jeder von uns könnte einen Lippenstift dieser Art haben.“, sagte Angela Thuy.

Kieu Nga, Geschäftsfrau:

Als ich von Khais Tod erfuhr, fiel ich fast in Ohnmacht. Hatte mich jemand gesehen, als ich in jener Nacht Khais Wohnung verließ? Hatte jemand unsere laut geführte Unterhaltung gehört? Ich hatte zu Khai gesagt, dass ich mich nicht von meinem Mann scheiden lassen wolle. Und daraufhin hatte er mich angeschrien.

Ich sagte ihm, dass ich meinen Mann nicht verlassen könne, um Khai offen zu lieben, obwohl ich ihn sehr liebte, ganz innen in meinem Herzen liebte. Es gab tausend Gründe dafür, mich ihm zu entziehen, aber Eifersucht war das stärkste Gefühl. Khai war so hübsch und dazu noch sechs Jahre jünger als ich. Auch wenn ich eine schöne Frau bin und meinen Körper immer gut pflege, fühle ich das Alter nahen. Und er war immer umgeben von so schönen Mädchen, besonders den weiblichen Models. Khai hatte mir immer geschworen: „Ich liebe nur dich“, aber ich war solchen Behauptungen gegenüber skeptisch, denn eines Tages würde er meiner überdrüssig werden ...

Als ich mit ihm sprach, stand Khai schweigend da und schaute mich mit traurigen Augen an. Dann kam er auf mich zu und fragte mich:

„Glaubst du denn nicht, dass ich dich aus tiefstem Herzen liebe?“

Ich glaubte es ihm, aber ich musste das ihm gegenüber verschweigen. Unsere Liebesaffäre hatte nun schon zwei Jahre gedauert, mit einer Leidenschaft, die uns beide verzaubert hat. Zuerst hatte ich mich Khai genähert, um mich an meinem Mann zu rächen, der der schlimmste Sadist ist, den die Welt je gesehen hat. Ich musste viele Kränkungen erdulden, wenn er Sex von mir haben wollte. Als Ausgleich gab er mir viel Geld und ein schönes Leben, das mich meine Leiden leichter ertragen ließ. Und er war nicht hinter anderen Frauen her wie viele reiche Männer. So war ich still und spielte das Opfer.

Auch die Beziehung zu Khai ging ich in der Absicht ein, meine Leiden zu lindern. Durch ihn erst lernte ich, dass die sexuelle Liebe keine Tortur sein muss, sondern eine Himmelsgabe ist. Wir waren voneinander verzaubert und wollten uns niemals trennen. Khai gab mir die Schlüssel zu seiner Wohnung und sagte:

„Du kannst herkommen, wann immer du willst. Und du brauchst nicht vorher zu fragen, hörst du!“

Je mehr ich mich Hals über Kopf in Khai verliebte, umso weniger ging ich auf die sexuellen Wünsche meines Mannes ein. Schließlich sagte ich in der Woche vor Khais Tod zu ihm: „Ich möchte mich scheiden lassen.“

„Nein“ sagte er mit kalter Stimme. Er wusste seit Langem von meiner Liebesaffäre, aber er hatte geschwiegen, weil er verstand, dass ich einen Ausgleich für unsere lieblose Ehe brauchte. Er verlangte, dass ich die Idee einer Scheidung vergessen solle. Wenn nicht würde er mich und Khai töten.

In jener Nacht hatte ich wieder einmal die sadistischen sexuellen Wünsche meines Mannes ertragen müssen. Ich wartete, bis er das Haus verlassen hatte und ging zu Khai. Als er meinen geschundenen Körper sah, schrie er: „Nein!“, nahm meine Hand und schlug mir vor, in ein fernes Land zu gehen, wo wir gemeinsam leben und glücklich sein könnten. Ich weinte und weinte und konnte nicht aufhören zu weinen, aber ich konnte nicht auf seinen Vorschlag eingehen. Da gab es eine Menge Dinge in meiner Ehe, die Khai nicht ersetzen konnte. Ich stand auf und wischte mir die Tränen aus den Augen:

„Bitte sprich nicht mehr davon. Such dir ein anderes Mädchen, das besser zu dir passt. Unsere Beziehung ist zu Ende. Ruf mich nicht mehr an, ich werde mir eine neue Nummer besorgen.“ Und ich rannte zur Tür hinaus.

Am anderen Morgen, als ich vom Tod Khais erfuhr, fiel ich fast in Ohnmacht. Ich fragte mich, ob er sich vielleicht, in Reaktion auf meine Worte, selbst umgebracht hatte. Mein Herz tat mir weh. Ich fragte mich auch, ob mich jemand beim Verlassen der Wohnung gesehen hatten und zur Polizei gegangen war. So hielt ich es für besser, selber herzukommen, bevor ich vorgeladen würde.

Angela Thuy, Model:

Ich bin noch einmal zum Kommissariat gegangen, und zwar freiwillig. Ich musste eine Aussage machen, um etwas klarzustellen, was mich beunruhigt. In der Nacht, in der Khai starb, bin ich nämlich bei ihm gewesen, weil ich seine Nähe brauchte. Ich wollte mich in seine Arme schmiegen, obwohl er mir gesagt hatte, dass zwischen uns nichts gehen würde, solange er diese Affäre habe mit der Frau eines reichen Mannes. Und ich wusste auch von ihm, dass er dieser Frau seinen Wohnungsschlüssel gegeben hatte, so dass sie jederzeit dort auftauchen konnte. Wenn diese Frau mich dort sehen würde, wäre sein Plan aufgeflogen.

Es war dieser blöde Plan, der mich dazu zwang, mein Verhältnis zu Khai geheim zu halten. Er hatte mir gesagt, er müsse die Rolle des perfekten Liebhabers so lange spielen, bis er genug Geld von ihr erhalten habe, um eine private Firma zu eröffnen. Deswegen mussten wir immer, wenn wir Lust aufeinander hatten, zu weit entfernten Orten fahren, um miteinander zu schlafen. Als wir in Mui Ne waren, um Photos zu machen, hatten wir vor, zu einem anderen Hotel zu fahren und einige private Momente zu genießen. Aber Julie Kims Vorschlag vereitelte diesen Plan. Als ich in Saigon ankam, beschloss ich, zu Khai zu gehen, ohne mich um die Beziehung zu der reichen Frau, die nur dem Geldmachen diente, zu scheren. Ich hatte schließlich genug Opfer gebracht, indem ich es duldete, dass mein Liebhaber so lange in den Armen einer anderen lag.

Als die Fahrstuhltür sich öffnete, sah ich, wie eine Frau mit Kopftuch eilig das Haus verließ. Hatte Khai etwa ein Rendezvous mit ihr gehabt, sofort nach seiner Rückkehr? Ich betrat den Aufzug und drückte auf den Knopf seines Stockwerks. Seine Wohnungstür war halb offen und ich trat ein. Khai hatte eine Flasche am Mund und schluckte Whisky in großen Zügen. Er gab mir ein Zeichen, hereinzukommen und sagte: „Komm her, sie ist weg.“

Er küsste mich gierig und nahm mich mit roher Gewalt auf dem Fußboden. Mein Körper war danach voller Spuren seiner Bisse. Er stöhnte: „Ist es das, was die Frauen wollen? Stehen sie darauf, so gefoltert zu werden!“ Ich richtete mich mit Mühe auf, während Khai in Richtung Badezimmer taumelte. Dabei drehte er seinen Kopf in meine Richtung und sagte kalt zu mir: „Geh nach Hause. Ich liebe dich nicht. Ich liebe sie, aber sie hat ich verlassen!“

Noch nie hatte ich mich so gequält und gedemütigt gefühlt. Ich zog mich eilig an und rannte weinend weg. Zu Hause angekommen, weinte ich immer noch, bis ich in einen tiefen Schlaf fiel. Am nächsten Morgen rief Jinny mich an, um mir zu sagen, dass Khai gestorben ist.

Herr Dung, Ermittler:

Die roten Lippenstift-Spuren auf Khais Lippen und Fingernägeln waren also von Angela Thuy. Sie gab uns ihren Lippenstift zur Untersuchung, und alle Parameter stimmten. Aber sie war nicht die Mörderin. Der Lippenstift als Beweismaterial war eine falsche Fährte. Jetzt mussten wir die Todesursache herausfinden.

Die Tests hatten ergeben, dass der Alkoholpegel in seinem Blut und Magen die Marke 6 erreicht hatte – an einer solchen Konzentration konnte ein Trinker sehr wohl sterben. Wir hatten eine fast leere Flasche Brandy gefunden. Wenn man aber den breiten, athletischen Körper in Betracht zog, kamen uns Zweifel, ob dies die Todesursache war.

Aus dem Bericht von Angela Thuy und dem gefundenen Sperma war klar, dass er in betrunkenem Zustand Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Danach war er ins Badezimmer gegangen und hatte seinen Kopf ins Wasser getaucht. Das konnte einen hohen Blutdruck verursacht haben. Als er aus der Badewanne stieg, war er gestürzt und hatte das Bewusstsein verloren.

Aber wer hatte ihm die zweite Flasche Alkohol eingeflößt? Wir fanden sie leer im Abfalleimer des Badezimmers, aber es waren keine Fingerabdrücke von Khai daran. Wir überprüften alle Aussagen, die wir hatten, und luden Frau Kieu Nga ein zweites Mal zum Verhör. Ich fragte sie: „Sie haben ausgesagt, dass Sie, sofort nachdem Sie von Ihrem Ehemann gequält worden waren, zu Khai gegangen sind. Hatten Sie keine Angst, von ihm aufgehalten und erneut misshandelt zu werden?"

„Nein, mein Mann hatte sofort das Haus verlassen. Er sagte, er wolle seinen Partner treffen. Er kam dann erst sehr spät zurück.“

„Was taten sie da gerade?“

„Ich war im Schlafzimmer. Als ich meinen Mann weggehen sah, ging ich schnell zu Khai, um von ihm Abschied zu nehmen und kam sofort zurück. Mir tat alles weh von den Verwundungen und ich konnte nicht einschlafen. Deshalb weiß ich, dass mein Mann erst um zwei Uhr morgens zurückkam.“

„War das irgendwie ungewöhnlich?“

„Nein. Er kommt oft spät nach Hause, wenn er mit seinem Partner gesoffen hat. Er geht dann ins Badezimmer und übergibt sich ausgiebig, ehe er ins Bett fällt und sofort einschläft.“

Dann hatten wir ein Gespräch mit Herrn Ngan, dem Immobilienmakler. Er war eine harte Nuss, denn er wusste sich zu verteidigen.

„Warum haben Sie es geduldet, dass Ihre Frau ein Verhältnis mit dem Model Khai hatte?“

„Ich weiß nicht, wer dieser Herr Khai ist. Alle Beziehungen, die meine Frau hat, sind transparent und rechtmäßig. Ich erlaube niemandem, meine Frau zu verleumden oder schlecht über sie zu reden mit dem Ziel, uns voneinander zu trennen, auch nicht den Personen in Ihrem Kommissariat."

Er lehnte jede Aussage zu seinen sexuellen Praktiken ab, aber als ich ihm die Aufnahme vom Verhör seiner Frau vorspielte, so dass er ihre Behauptungen hören konnte, änderte sich seine Haltung plötzlich. Sein Gesicht verzog sich und er machte ein Geständnis:

„Ich habe Robert Khai getötet. Er war ein niederträchtiger Kerl, dem es nur ums Geld ging."

Le Ngan, Immobilienmakler:

Ich war kein Sadist. Gut, um genauer zu sein, ich wurde ein Sadist, nachdem ich Kieu Nga geheiratet hatte, die Schwester meines Freundes. Ich hatte mein halbes Vermögen aufgewendet, um ihn vor dem Gefängnis zu bewahren wegen seiner Schulden. Seine Eltern waren so glücklich, dass sie mir aus Dankbarkeit ihre jüngste Tochter zur Frau geben wollten. Während ich sie aufrichtig liebte, glaubte sie, dass diese Ehe nur die Begleichung einer Schuld sei. Deshalb hat sie nie wirklich mit mir gesprochen und handelte, als wäre sie eine Prostituierte. Verstehen Sie meine Situation? Ihre Haltung machte mich verrückt. Ich habe sie gefoltert. Aber tief in meinem Innern fühlte ich mich elend dabei, mein Herz war gebrochen. Jedesmal, wenn ich sie misshandelt hatte, verließ ich das Haus und betrank mich, kam erst zurück, wenn ich besinnungslos besoffen war. Dies war die einzige Möglichkeit, meiner Qual zu entgehen.

Einmal traf ich Khai in einem Fitnessstudio. Er war so hübsch. Plötzlich hatte ich eine Idee: Ich freundete mich mit ihm an. Er erzählte mir, dass er dabei sei, Geld aufzutreiben, um ein eigenes Geschäft aufzuziehen. So bezahlte ich ihn dafür, Kieu Nga den Hof zu machen. Unser Plan war, dass er am Ende das Geld und Kieu Nga behalten sollte. So konnte ich ihr gegenüber als ein großzügiger Mann erscheinen. Nur wenn sie einen solchen Schock erlitt, würde sie meine Gefühle verstehen können. Das würde ihre Haltung mir gegenüber verändern.

Aber Khai hielt sich nicht an die Vereinbarung. Er hatte eine große Summe von meinem und Kieu Ngas Geld eingesteckt, wollte sie aber nicht freigeben. Er sagte zu mir, dass er sie liebe und mir das Geld zurückzahlen wolle, wenn ich sie freigäbe. Er versuchte sogar, sie zur Scheidung zu überreden. Als sie mir das erzählte, verlor ich die Fassung. Ich folgte ihr heimlich. Ich hatte die Absicht, Khai die Maske vom Gesicht zu reißen und ihn als männlichen Prostituierten zu entlarven, aber Kieu Nga war nur kurze Zeit in seiner Wohnung und rannte gleich wieder weg. Ich versteckte mich in einem Winkel und sah ein schönes Mädchen, das in seine Wohnung ging. Ich näherte mich neugierig und sah, wie sie auf dem Fußboden miteinander schliefen. Aber zu meiner großen Überraschung verjagte Khai das Mädchen danach aus seiner Wohnung, sagte, er liebe sie nicht, er liebe nur meine Frau. Was für ein verfluchter Scheißkerl! Wie viele Mädchen hatte er schon auf diese Weise betrogen, fragte ich mich. Ich kochte vor Wut. Als das Mädchen wegrannte und die Tür angelehnt ließ, trat ich ein und schloss ab.

Ich hatte nur die Absicht, ihn grün und blau zu schlagen, vor allem seine schöne Fratze. Aber als ich ins Badezimmer kam, sah ich ihn auf dem Boden liegen, als schliefe er. Ich weckte ihn auf, aber er war so betrunken, dass er mich nicht erkannte. Er bot mir sogar an, mit ihm zusammen zu baden. Ich zeigte ihm die Brandyflasche und schlug stattdessen vor, mit ihm zu trinken. Ich sagte zu ihm:

„Wenn du diese Flasche mit mir leerst, dann gebe ich dir Kieu Nga.“

Er nahm die Flasche und leerte sie, ohne abzusetzen. Die leere Flasche warf er selber in den Abfalleimer. Da sie nass war, konnten Sie seine Abdrücke nicht auf ihr finden. Aber diese eine Flasche reichte noch nicht, ihn außer Gefecht zu setzen. Also gab es noch eine dritte. Er stieg aus der Badewanne heraus und nahm mir die Flasche aus der Hand, trank und sagte: „Halt dein Wort“. Dann fiel er zu Boden und blieb dort regungslos liegen.

Wie angewurzelt stand ich da und starrte auf den nackten Körper. Ich nahm die leere Flasche und verließ das Badezimmer. Ich dachte darüber nach, ob ich nicht doch in die Scheidung einwilligen sollte, die Kieu Nga von mir haben wollte. Es war zwei Uhr morgens, als ich zu Hause ankam.

Ich glaube nicht, dass Khai von dem Brandy gestorben ist. Ich habe ihn nicht getötet. Ich habe ihm auch keinen Alkohol gegen seinen Willen eingeflößt. Er trank selber, denn er dachte, dass er damit erreichen könne, mit Kieu Nga zusammenzuleben. Die Liebe selbst hat ihn umgebracht!

Quelle: VNS, 26.01.2014.
Aus dem Englischen von Manh Chuong
in Deutsche übersetzt von Günter Giesenfeld

Kommentar;

Die Kurzgeschichten, die im Viet Nam Kurier veröffentlicht werden, stammen nicht immer von renommierten Autoren und entsprechen nicht immer höchsten literarischen Ansprüchen. Wir entnehmen sie meistens dem Feuilleton von Zeitungen und Zeitschriften, sie sind oft „nur“ Unterhaltungsliteratur.

Dies scheint auch bei dieser Geschichte der Fall zu sein. Diese Kriminalstory scheint auf den ersten Blick ein Versuch zu sein, dieses auf dem vietnamesischen Markt noch nicht so bekannte Genre zu bedienen, und zwar durch Nachahmung der wichtigsten Elemente westlicher Vorbilder. Denn schon das hier geschilderte soziale Milieu gibt es in dieser Ausprägung in Vietnam wohl noch nicht. Denn es geht nicht um die in vietnamesischen Geschichten häufig vorkommende Korruption, sondern um ein komplett unmoralisches Milieu der Werbe- und Modebranche, die in Vietnam erst im Entstehen begriffen ist.

Natürlich könnten sich die hier erzählten oder angedeuteten „Missstände“ auch in Vietnam auffinden lassen: Geldgier, enttäuschte und berechnende Liebe, ein Luxus, der einen Abgrund von Verruchtheit verdeckt, ein Konkurrenzkampf um Anerkennung in einem Milieu, in dem dies nur durch äußeren Schein möglich ist, bis hin zum Mord. Die Konzentration, mit der diese Dinge hier auftreten, wäre aber zumindest als amateurhafte Übertreibung zu bewerten.

Was auffällt, wenn man versucht, den Text im Zusammenhang mit seinem Zielpublikum zu lesen, ist das Fehlen einer logisch überzeugenden Krimihandlung. Weder gibt der „Ermittler“ genug her, um mit den Kommissaren unserer Krimis verglichen zu werden. Er tut zwar so, aber er blickt weder wirklich durch, noch löst er den Fall am Ende. Nicht nur diese Unsicherheit dürfte die vietnamesischen Leser verwirren, sondern auch die „Enthüllungen“, die ihnen im Lauf der Erzählung präsentiert werden: Der tadellose Ruf fast aller Protagonisten erweist sich als reine Fassade, das Bekenntnis zu Gefühlen wie der „ehrlichen Liebe“ ist nur Mittel zur Durchsetzung materieller Interessen, jegliche „moralische“ Haltung stellt sich als Maske heraus.

Wenn wir also von der Tatsache ausgehen, dass hier westliche Muster als Vorbilder dienten, so werden diese in gewisser Weise extrem radikalisiert – und damit wären sie hier vielleicht mehr als nur Imitationen. Im geistigen Umfeld der vietnamesischen Literatur kommt hinzu, dass in ähnlichen Geschichten, vor allem wenn sie eher zum alltäglichen Konsum bestimmt sind, das „Happy End“ absolut unentbehrlich ist. Dies gilt nicht für westliche massenmediale Erzähltraditionen, wo etwa die Filme der „schwarzen Serie“ durchaus zur Genrekonvention Hollywoods werden konnten.

Es muss vielleicht auch erwähnt werden, dass die Autorin Pham Thi Ngoc Lien keine Anfängerin und kein unbeschriebenes Blatt ist. 1952 geboren, begann sie nach einem Studium der Kulturwissenschaften als Lyrikerin (3 Gedichtsammlungen 1989, 1990 und 1992) und arbeitet hauptberuflich als erfolgreiche Journalistin sowohl für die Tagespresse als auch für renommierte Literaturzeitschriften. Für einige ihrer Werke (seit 1989 auch Kurzgeschichten) erhielt sie Literaturpreise.

Vor diesem Hintergrund erscheinen die, literarisch gesehen, „Unvollkommenheiten“ unseres Textes in einem anderen Licht. Schon rein erzähltechnisch gesehen, gibt es da „Schwächen“ der dramaturgischen Struktur, die einer versierten Autorin nicht unterlaufen dürften: so wenn etwa am Ende in der Wiedergabe der Aussage des Immobilienmaklers Le Ngan plötzlich das Geständnis kommt: „Ich habe Robert Khai getötet. Er war ein niederträchtiger Kerl, dem es nur ums Geld ging“, die Leser aber am Ende erfahren, dass dies nicht zutrifft, dass Khai sich entweder bewusst selbst zu Tode gesoffen hat oder dass er „an der Liebe“ gestorben ist, wie der Immobilienmakler wie aus einem plötzlichen Hang zu literarischen Knalleffekten am Ende insinuiert. Oder so banale Fehler wie die dritte Flasche Whisky, von der man nicht erfährt, woher sie kommt.

Ob auch weitere „Trivialitäten“ der Geschichte auf das Konto der Autorin gehen, ließe sich nur ermitteln, wenn man den Originaltext in Vietnamesisch heranzöge. Dies ist aber nicht unbedingt nötig, denn die wichtigsten Verstöße gegen die Regeln der trivialen Erzählkunst hat die Autorin selbst begangen, und zwar offenbar bewusst: Alle Figuren sind sehr klischeehaft gezeichnet, mit einer sehr einfachen, ja primitiven psychologischen Struktur, und sie sind stets und mit ermüdender Eintönigkeit dem Widerspruch zwischen Liebe (und Moral) auf der einen und Geldsucht (Unmoral) auf der anderen Seite ausgesetzt.

Irritierend ist, dass dieser Widerspruch in fast keinem Fall aufgelöst wird, der Unterschied zwischen Opfer (auch als vorgetäuschte Rolle) und Täter (als von einer höheren Not getrieben) zunehmend verblasst. Es fehlt die gute, unschuldige Figur (allenfalls Angela Thuy erfüllt diese Funktion bis zu einem gewissen Grad), vor allem aber ist der zentrale Bösewicht durchaus zweideutig charakterisiert. Schon dass er das Schlusswort hat und damit seine Perspektive als das Resümee der Geschichte erscheint, ist ungewöhnlich.

Vor allem aber sein Schlusssatz, der wohl die Geschichte auf den Begriff bringen soll: Khai sei an der Liebe gestorben, wäre eigentlich der Erzählerin zugekommen – wenn er denn ernst gemeint … und nicht eine unverbindliche Pirouette ist, die die Ernsthaftigkeit der gesamten Geschichte in Frage stellt.

Das ist ein waghalsiger Befund, aber so gesehen wäre der Text eine vielleicht schlechte, aber – auf andere Weise als erwartet – doch hochinteressante Geschichte.

Günter Giesenfeld

veröffentlicht im Vietnam Kurier 1/2014

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