Begegnung auf dem Bahnhof

Eine Kurzgeschichte von Hue Thuong

Gerade fuhr wieder ein Zug ein, und die Lokomotive dröhnte in der schnell hereinbrechenden Abenddämmerung. Van lief eilig hinaus aus dem „Blockhaus“, wie sie die Bank in der hintersten Ecke des Wartesaals nannte, in der Hand einen Beutel voller Waren, die sie an die Zugpassagiere zu verkaufen suchte. Jeden Tag war sie mit diesem Beutel hier am Bahnsteig, bis das letzte Pfeifen ertönte.

Drei Jahre in diesem Geschäft hatten sie ihr Handwerk gründlich gelehrt, sie stark wie einen Athleten gemacht und ihr eine so rauhe Stimme beschert, als ob ihre Kehle aus Sandpapier wäre.

Das war der letzte Zug an diesem Tag gewesen. Nach seiner Abfahrt kehrte Van langsam zum „Blockhaus“ zurück, ordnete die Dinge in ihrem Beutel und legte sich schlafen.

Sie träumte, ihre Mutter sei gerade mit dem Zug gekommen, um sie zu sehen. Diesen Traum hatte sie jede Nacht, aber ihre Mutter sah jedes Mal anders aus: Sie formte das Traumbild nach einer der Reisenden, denen sie tagsüber begegnet war. Als sie gerade nach ihr rufen wollte, fühlte sie sich weggezerrt. Sie schlug die Augen auf. Drei Jungen, eine Bande, die vorhin aus dem Zug gestiegen waren, standen dreckig lachend vor ihr.

Van richtete sich auf und rief „Ihr …“, da fielen sie schon über sie her. Einer schnappte ihren Beutel und ging daran, ihn zu öffnen. Aber sie wehrte sich mit aller Kraft. Den einen, der versuchte, ihr den Mund zuzuhalten, schüttelte sie ab, dem anderen, der nach ihren Füßen grapschte, um sie umzuwerfen, versetzte sie einen Tritt. Sie schrie. Da schrillte eine Pfeife, und sie ließen erschrocken von ihr ab.

Mit der verworrenen Erleichterung einer gerade vor dem Ertrinken Geretteten setzte Van sich auf und blickte sich suchend nach dem Wachmann um. Aber da war niemand zu sehen. Wer hatte diese Pfeife geblasen? Ein kleiner Junge kam näher.

„Was ist los?“, fragte er. „Hast du gepfiffen?“ „Ja“. „Du hast mich gerettet! Wie kann ich dir das vergelten?“ „Laß mich bei dir bleiben.“ „Wie heißt du?“ „Tung.“

Van schaute ihn genauer an. Er war neun oder zehn Jahre alt und hatte den vorzeitig gealterten, stumpfen Blick des mutterlosen Kindes.

„Wo sind deine Eltern?“ „Ich habe keine.“ „Also gut“, sagte sie, „du kannst bei mir bleiben.“ Sie wollte großzügig sein, wollte dem Jungen zeigen, daß sie besser sei als andere Erwachsene.

In Wirklichkeit war Tung kein Waisenkind. Seine Eltern waren geschieden, und er hatte mit seiner Mutter und einem Stiefvater zusammengelebt, der so gemein war wie ein Tiger. Um von diesem Mann loszukommen, war er von zu Hause weggelaufen. Die Schule hatte er, ganz auf sich allein gestellt, aufgeben müssen.

Nachdem er aus dem Zug gestiegen war, hatte er sich in eine Ecke gekauert, zu hungrig und verstört, um einschlafen zu können, und alle Leute um ihn herum beobachtet. Dann hörte er Van schreien, holte seine Pfeife aus der Tasche und blies fest hinein.

„Hast du einen Schlafplatz?“

Van betrachtete ihn. Er trug nichts bei sich als die Kleider auf seinem Leib.

„Meine Sachen sind im Zug verloren gegangen.“

Eine weitere Lüge. Tung hatte nichts mitgenommen, als er von zu Hause floh, er wollte möglichst wenig Ballast mit sich schleppen, um zu vermeiden, daß man ihn einfing.

„In Ordnung“, sagte Van, als ob sie einen militärischen Befehl gäbe, „leg dich mit auf meine Matte, und morgen werde ich dir ein paar neue Kleider besorgen, ok?“ „Ok.“ „Schlaf jetzt.“

Dichte Dunkelheit hüllte sie ein und ließ den Raum groß erscheinen. Van konnte nicht schlafen. Sie dachte an ihre Großmutter, an ihre Eltern und an ihr ärmliches schwimmendes Dorf auf dem Fluß Cau. Seit ihre Eltern mit dem Boot tödlich verunglückt waren, führte sie, allein auf diesem Bahnhof, das Leben eines Straßenkindes.

Tung warf sich hin und her und störte ihre Erinnerungen. Sie rüttelte ihn an der Schulter. „Was ist los mit dir?“ „Ich habe Hunger.“ „Warum hast du mir nichts gesagt?“ Sie setzte sich auf und holte aus ihrem Beutel eine Handvoll in Zeitung gewickelten Klebreis, den ihr Frau Tu, die Händlerin, an diesem Morgen gegeben hatte. „Er ist sehr hart, aber iß.“

Der Junge tat ihr leid. „Das Leben auf der Straße ist hart. Warum bist du von zu Hause weggelaufen? Du hast Glück, daß du mich getroffen hast.“ Nach diesem kurzen Monolog war sie eingeschlafen, bevor sie wußte, wie ihr geschah. Das Surren der Moskitos erfüllte die Nacht.

Sie erwachte vom langgezogenen Pfeifen des Frühzugs. Die Weichensteller machten schon ihre Späße in Frau Bays Restaurant, sie aßen Vermicelli mit Krabben, während der Bahnsteig noch in Dunkelheit lag. Van rannte zum Bäcker und kaufte einige Stangen Brot. Die Zugpassagiere aßen immer Brot zum Frühstück. Pro Laib konnte sie einen Gewinn von 200 Dong erzielen.

Frau Tu betrachtete Tung neugierig, dann richtete sie einen fragenden Blick auf Van. „Der ist erst seit heute Nacht bei mir“, sagte sie.

Frau Tu gab beiden eine Handvoll Reis. Sie zog Tung freundlich an sich. „Wie alt bist du?“ „Ich bin zehn.“ „Wo wohnst du?“ „In der Nähe des Berges Ve.“

Van hörte mit halbem Ohr zu, während sie die Brote in ihrem Korb zählte. Dann zog sie Tung heran: „Komm mit. Heute lernst du deinen neuen Job, und ab morgen verdienst du deinen Unterhalt selber.

Frau Tu schaute den beiden nach und murmelte „Arme Kinder!“.

Es wurde Mittag. Van ließ Tung den Brotkorb bewachen, während sie im Restaurant von Frau Bay Geschirr spülte. Als die Gäste sich verlaufen hatten, gab ihr Frau Bay wie jeden Tag eine Schale Reis. Aber Van schlang nicht wie sonst den Reis in einem Bissen hinunter, sondern bat darum, die Portion in zwei Teile aufzuteilen. „Die eine Hälfte ist für meinen kleinen Bruder.“

Frau Bay lief hinaus, um Frau Tu, die gerade eifrig Tee verkaufte, zu fragen, was das zu bedeuten habe. „Ach Gott“, antwortete Frau Tu, „sie sagt, sie hat ihn aufgelesen, aber wie kann sie ihn durchfüttern, wenn sie es kaum schafft, sich selbst über Wasser zu halten?“ Sie murmelte leise für sich: „Der arme Junge ist so klein wie ein Zuckerstückchen.“ Und laut fügte sie hinzu: „Wir können uns nicht um alle heimatlosen Kinder auf diesem Bahnhof kümmern!“

Später ging sie zu Van und Tung hinüber: „Ich gebe dem Jungen eine Teekanne und eine Eisbox.“ Sie wandte sich Tung zu: „Und ich werde den Schaffnern sagen, sie sollen dich in den Zügen verkaufen lassen. Versuche, für dich selbst zu sorgen, unabhängig von deiner Schwester.“

Dann seufzte sie unwillkürlich: „Arme Kinder. Wo sind eure Eltern?“

Van fühlte sich unbehaglich. Sie mochte es nicht, wenn andere über ihre Eltern sprachen. „Frau Tu“, sagte sie, „da warten Kunden auf Sie.“ Dann drehte sie sich zu Tung um: „Kümmere dich nicht um das, was sie gesagt hat.“ Der Junge weinte. „Warum weinst du? Schlucks runter und setz dich in Bewegung, der Zug kommt!“ Sie verlor die Geduld. „Sei still! Was ist los, wieso heulst du? Du bist doch kein kleines Mädchen, oder? Wenn du Heimweh hast, setze ich dich in den nächsten Zug!“

Der Junge schaute ihr erschrocken ins Gesicht; sie sah aus, als meinte sie es ernst. „Ich will nicht nach Hause,“ murmelte er, „wenn ich heim gehe, wird er meine Mutter schlagen.“ „Dann hör auf zu heulen.“

Van wandte sich ab und sah die ausgedehnte Fläche des Bahnsteigs vor sich. War eine Familie ein Segen oder ein Fluch?

Tung folgte Van zwei Wochen lang. Er lernte Tee zu verkaufen, und Van gewöhnte sich daran, ihn um sich zu haben. Dann, eines Tages, als sie gerade Frau Tus Klebreis gegessen hatten, stand Tung auf, schaute zu dem Zug hinüber, der gerade in den Bahnhof einfuhr, und fing an zu weinen. Was Van die ganze Zeit erwartet und gefürchtet hatte, war eingetroffen: Die Mutter des Jungen war angekommen.

Sie war nicht schön, aber sie verstand es, sich gut zu kleiden. Sie führte, nein, sie zog Tung zu Van hin und sagte: „Mama ist hier, um deinen kleinen Bruder heim zu holen.“ Aber Van konnte nichts hören, nicht einmal, als ihr die Frau ein Bündel Geld in die Hand drückte.

Van sah die Tränen, als die gut gekleidete Frau sie an sich drückte. Seit langem hatte niemand sie umarmt. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter sie liebkost und ihr Haar geküßt hatte. Van wollte weinen, so wie die Frau weinte, und die Tränen drängten hinter ihren trockenen Lidern hervor. Da ertönte ein Pfiff und machte der Rührung ein Ende, die sich in ihrem Herzen regte. Der Pfiff galt ihr. Sie wand sich aus der Umarmung, griff den Brotkorb und rannte zum Zug. Hinter sich hörte sie Tungs Bitten, und die Banknoten, die ihr die Frau gegeben hatte, flatterten im Wind. Ein Schrei entrang sich ihrer Brust: „Mama!“

Vielleicht sehnte sie sich nach einer Familie. Aber sie wußte: Mit der Abfahrt dieses Zuges würde auch das kleine Glück, das ihr widerfahren war, verschwinden. Kaum ein Zug hielt länger als fünf Minuten an diesem Bahnhof.

Quelle: Viet Nam News 11.1.2004
Aus dem Englischen (von Hoang Tuy)
ins Deutsche übersetzt von Marianne Ngo

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 1/2004

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