Vier Frauen und ein Begräbnis

Eine Kurzgeschichte von Do Hoang Dieu

Der Leichenzug kroch den Hügel hinauf. Ein Photo eines jungen Mannes mit einer hohen Stirn und lockigem Haar war zwischen Räucherstäbchen und Kerzen auf dem Sarg befestigt. Er sah so traurig aus. Es hatte die letzten Tage genieselt. Die Straßen waren fast leer. Niemand wollte ohne Not draußen sein im Regen und kalten Wind. Die Mutter, die ein Kreuz an ihrer Brust trug, sagte Amen mit schwacher Stimme. Neben ihr lief ein grauhaariger Mann, der eine Perlenkette in seinen Händen hielt und buddhistische Sutras1 murmelte. Die übrigen Leute im Trauerzug waren schweigsam, ihre Augen waren feucht. Manchmal sah man Tränen aus ihren Augenhöhlen rinnen. Der junge Mann war im Alter von dreißig Jahren gestorben, so jung und in der Mitte seines Lebens.

Langsam kam das Blau des Himmels hervor. Die Türen des Hauses standen weit offen. Der Vater fingerte immer noch mit seiner Perlenkette herum, als er in das Wohnzimmer trat. Der Bodhisattva2 würde es ihm nie verzeihen, daß er ein lebenslustiger Mann war und eine Nonne aus dem Men Thanh Gia-Orden3 geheiratet hatte. Die Mutter kniete immer noch vor dem Bild Jesu Christi und murmelte ihre Gebete. Sie wollte es laut herausschreien: Es war meine Schuld, meine übergroße Schuld. Deshalb hat der Herr mir meinen Sohn genommen! Plötzlich läutete das Mobiltelefon in dem Zimmer ihres Sohnes. Sie lief hin, nahm den Apparat auf, drückte die grüne Taste und schrie in den Hörer: „Mein Gott, mein Sohn ist schon im Himmel!“ Dann ließ sie das Telefon aufs Bett fallen und setzte sich in den Stuhl, in dem ihr Sohn immer saß, wenn er mit seinem Computer arbeitete, eine Email schickte oder etwas las vor dem Zubettgehen. Er war nun seit zwei Nächten unbenutzt. Sie fragte sich, wo er jetzt in seinem Leben nach dem Tode sein würde. Ihre Hände tasteten wie mechanisch nach den auf dem Tische ausgebreiteten Papieren. Ein gelber Umschlag fiel ihr in die Augen. „An meine liebe Mutter, meine Göttin“. Zitternd öffnete sie ihn. Sie erkannte seine Handschrift. Er hatte die Notiz mit der Hand geschrieben, nicht mit dem Computer. Sie las die wenigen Zeilen wieder und wieder durch, bevor sie den Brief wieder in den Umschlag steckte. Mit einem entschlossenen Blick schaute sie auf zu dem Photo ihres Sohnes: „Mein lieber Sohn, ich werde alles genauso tun wie du es von mir verlangst. Vielleicht wird es mir gelingen, zu erfahren, warum Gott dich mir genommen hat.“ Später steckte sie das Handy in ihre Tasche. Von jetzt an sollte das Telefon immer bei ihr sein. Die Mutter wußte nicht, daß jedesmal, wenn sie es berührte, eine kleine Melodie zu hören war und die Luft außen am Fenster ein wenig in Bewegung geriet. Es war die Seele ihres Sohnes, die noch nicht zu Gott zurückgekehrt war, sondern ziellos im Garten herumirrte, vom Wind bewegt und mitten zwischen den Wolken und den Sternen. Er konnte die irdische Welt nicht verlassen. Er war ein lebendiger Geist. Er wollte nämlich noch hören, was die Frauen, die er geliebt hatte, sagen würden, wenn sie von seinem Tod erführen. Daß dieser junge, starke, intelligente und erfolgreiche Mann nicht mehr lebte.


***

Die Mutter kniete in der ersten Bankreihe während der Sonntagsmesse. Die Predigt handelte von Gottes Wort über das Vergeben. Gott sagt, wem immer es gelingt, seinem Feind zuzulächeln, der hat schon seinen Fuß auf die Schwelle zum Himmel gesetzt. Vielleicht hatte ihr Sohn diese Stufe bereits erreicht. Voriges Jahr hatte er sich den Fuß gebrochen, weil ein Teenager mit seiner Honda in einer schmalen Gasse in der Altstadt direkt in ihn hineingefahren war. Im Krankenhaus lag ihr Sohn im selben Zimmer wie der rücksichtslose Fahrer, der andauernd schrie, obwohl seine Verletzungen weniger ernsthaft waren als die ihres Sohnes. Dessen gute Seele brachte ihn dazu, sein Essen mit dem Fahrer zu teilen. Plötzlich bemerkt sie, daß die anderen Leute in der Messe sie anstarrten. Das Handy ihres Sohnes klingelte. Sie stand auf und ging hinaus. Dabei dachte sie daran, was er ihr gesagt hatte: „Wenn ein Mädchen namens Duyen Dang4 anruft, dann erzähl ihr, ich sei bei einem Verkehrsunfall umgekommen.“ So sagte sie in den Hörer:

„Hallo, Fräulein Duyen Dang. Haben Sie etwas gehört? Sind Sie die Freundin meines Sohns?“

„Ja, eine enge Freundin ihres…“

Die Stimme der Mutter veränderte sich und nahm den Ton eines Verhörs an.

„Haben Sie ihn in den letzten Tagen gesehen?“

„Nein, seit dem Tet-Fest nicht, und ich bin beunruhigt, deshalb rufe ich jetzt an. Was ist passiert?“

Es war wie ein Zittern in der Stimme des Mädchens.

„Mein Sohn ist am ersten Tag des Tet bei einem Verkehrsunfall gestorben.“

Vollständige Leere. Oben auf dem Kirchendach, am Turm schwebte die Seele des jungen Mannes. Er hörte die Tränentropfen vom Gesicht des jungen Mädchens fallen. Er wagte es nicht, ihr Gesicht zu berühren, denn für ihn war sie eine Göttin. Er erinnerte sich daran, wie er sonntags morgens immer einen Strauß weißer Rosen in die Kirche mitbrachte und sie nach der Messe Thao gab. Oft, wenn er auf sie an der Kirchentür wartete, dachte er, daß er ihr einen Strauß roter Rosen bringen sollte am nächsten Sonntag…

Dann flog seine Seele über den Kirchturm weg bis zu Taos Haus. Immer noch hörte er einige Tränentropfen fallen. Er fühlte Mitleid mit ihr. Er wünschte sich zwar, daß Thao an ihn denken sollte und er wünschte sich auch, daß sie um ihn weinen sollte, aber zugleich wollte er sie nicht traurig machen.

Als seine Seele ankam, lauerte er hinter dem himmelblauen Vorhang am Fenster und sah Thao in ihrer blauen Bluse, wie sie immer noch bewegungslos war. Thao war wie blind, denn sie fühlte, daß alles, was ihr Leben ausmachte, sich in Nichts aufgelöst hatte. hatte sch sofort zu Son hingezogen gefühlt, als sie ihn in Begleitung einer eleganten, vornehmen, aber ein wenig verloren wirkenden Dame sah, vor zwei Jahren, nach der Ostermesse. Später hatte Son gesagt, das sei seine Mutter und daß sie diesen verlorenen Blick seit ihrer Kindheit habe. wünschte sich, daß sie ihn jeden Sonntag treffen möge, und daß er ihr immer einen Strauß weißer Rosen schenke. An einem Tag, es war kurz vor Weihnachten, fragte er sie, ob sie anders über ihn denken würde, wenn er ihr am nächsten Sonntag rote Rosen mitbrächte. verriet ihm nicht, daß sie rote Rosen liebte, sie sagte: „Die weißen Rosen sind schöner. Ich liebe weiße Rosen.“ Eines Tages, als Sons Mutter nach Saigon verreist war, lud er Thao zu einer Fahrt außerhalb der Stadt ein, zu einem Feld, auf dem Rosen in allen Farben wuchsen. Thao kam sich vor wie in einem Traum. Thao wünschte sich so sehr, daß er sie in seine Arme nehmen und sie durch die Rosen tragen würde, aber sie versuchte, sich zu beherrschen, denn sie war ein bescheidenes Mädchen. Immerhin war sie Mitglied des Kirchenchors.

Am Abend vor Neujahr hatte sie einen schrecklichen Traum. Sie standen beide auf dem Gipfel eines von Nebelschleiern eingehüllten Hügels, der sich inmitten eines Feldes mit Rosen erhob. Thao trug einen blutroten Ao Dai, und am Horizont nahte ein aufkommender Sturm. Ein Bulldozer fuhr durch das Feld und zerstörte die Rosen. Sie wollte hinablaufen, aber sie war unfähig, ihre Beine zu bewegen. Sie wachte auf, wollte ihn anrufen, aber sie zögerte. Jetzt hatte sie schon lange nichts von ihm gehört. Sie war so ängstlich. Sie dachte nach und beschloß, ihn anzurufen und ihn zu bitten, ihr rote Rosen zu bringen, und sie wollte ihm sagen, daß sie die rote Farbe über alles liebe.

Aber all das war jetzt vorbei, da er ins Jenseits gegangen war.

Plötzlich sah die Seele des jungen Mannes, wie ein starkes rotes Licht Thaos Zimmer erhellte. Ihre Bluse und auch der Vorhang leuchteten jetzt rot. Thao rief laut: „Son, wo sind meine roten Rosen?“ Ein Sonnenstrahl fiel in den Raum und die Seele des jungen Mannes schwebte hinweg.


***

In der Nacht zuvor blühten auf dem Balkon im zweiten Stock, wo Sons Zimmer lag, die Hortensien-Knospen auf. Man brauchte nur das Fenster zu öffnen, dann konnte man vom Zimmer aus das langsame Sich öffnen der kleinen Blüten beobachten. Aber nun war niemand mehr da, um sich am Duft der Blüten zu erfreuen. Sons Seele war so sehr damit beschäftigt, die Telefongespräche abzuhören, daß sie, sobald sie den Duft der Hortensien roch, nach Hause eilte. Aber es war zu spät. Die Knospen waren schon ganz offen. Sons Seele konnte nur noch den Duft der reifen Blüten im Wind genießen und sie streicheln. Es war noch früh am Morgen, und sein Vater stand auf, um in die Pagode zu gehen. Er ging allein. Er erinnerte sich, daß sein Sohn, als er noch lebte, ihn immer am Neujahrsfest zur Pagode begleitet hatte. Aber Son hatte niemals vor einem Altar gebetet. Er lieferte nur Blumen und Räucherstäbchen ab, blieb seitwärts stehen und beobachtete die tief ins Gebet versunkenen anderen Besucher. Einmal fragte der Vater ihn offen, ob er den Gott seiner Mutter liebe oder den Buddha seines Vaters. Son lächelt nur. Sein Vater wußte ja, daß er beide liebte, und daß er seine Mutter sonntags morgens zur Kirche begleitete und mit seinem Vater am ersten und fünfzehnten Tag des Monats zur Pagode ging.

Der Vater stand im Zimmer seines Sohnes. Alles war in Ordnung. Sons Portrait an der Wand lächelte ihn an. Der Duft von etwa sehr Köstlichem und Elegantem lag in der Luft. Es war derselbe Wohlgeruch, den er vor 30 Jahren eingeatmet hatte, als er ein junger und dynamischer Reporter war, der mit einer schriftlichen Erlaubnis eines höheren Kirchenmannes in das Kloster des Men Thinh Giai-Ordens trat, um einige Informationen für einen Artikel zu erhalten. Damals war er ganz betäubt gewesen von diesem Duft und brauchte ein paar Minuten, sich wieder zu fassen. Er warf einen flüchtigen Blick auf ein elegantes Gesichtsprofil, das hinter einem Schleier kurz zu erkennen war und mit zarten Schritten vorbeilief. Und er war überrascht, als ihm klar wurde, daß die verschleierte Frau mit den schwarzen Augen genau in seine Richtung geschaut hatte. Diese Begegnung veränderte sein Leben. Die schwarzen Augen und der unvergeßliche Duft führten schließlich zu einer Heirat zwischen ihrem Gott und seinem Buddha. Und auch nach 30 Jahren erkannte er noch diesen Duft – es war der Duft von Hortensien. Er brachte eine Vase mit diesen Blumen und stellte sie neben das Bett seines Sohnes, wobei einige Tränen auf die schon verwelkten Blumen fielen. Als er am Zimmer seiner Frau vorbeikam, hörte er das Läuten seines Handys. Er hatte das Bedürfnis laut aufzuschreien: Wo bist du, mein geliebter Sohn?

Sons Mutter antwortete auf den Anruf, nachdem sie die Symbole und Buchstaben auf dem Telefon gelesen hatte, und sie erinnerte sich daran, was ihr Sohn ihr geschrieben hatte. Sie bemerkte nicht, daß die Tür zu dem Zimmer plötzlich geöffnet wurde.

„Hallo, Frau Ehebrecherin!“

„Verzeihung, ist das nicht Sons Handy?“

„Natürlich ist es das. Ich bin seine Mutter. Wie heißen Sie?“ – Die Mutter runzelte die Stirn. Die Stimme der Anruferin war so imponierend – „Warum wollen Sie ihn sprechen? In welcher Beziehung stehen Sie zu ihm?“

„Verzeihen Sie, ich möchte mit Son sprechen. Ich bin seine Freundin.“

„Was für eine Art Freundin? Sind Sie seine Geliebte?“

„Ich bin verheiratet, also nicht seine Geliebte.“

Son hatte seiner Mutter eingeschärft, sie solle dieser Frau sagen, er sei getötet worden. Es konnte ja sein, daß Son eine Affäre mit ihr hatte und daß ihr Mann drohte, ihn zu töten. Die Mutter zitterte vor Angst.

„Ich möchte Ihnen mitteilen, daß mein Sohn am ersten Tag des Tet getötet worden ist.“

Die Mutter hörte nur noch ein wiederholtes tuut tuut von der anderen Seite der Leitung, als habe es dort einen Kurzschluß gegeben. Die Seele des Jungen Mannes war bestürzt. Es war ihm, als höre er Hunde jaulen, wie wenn sie sich paaren. Er wußte, daß die Frau jetzt ihren vollen Busen zusammenpreßte. Van Anh, so hieß die Frau, hatte oft Sons Gesicht an ihren Busen gedrückt, manchmal so fest, daß er fast erstickt war. Und oft hatten seine großen Hände ihre Brüste ausgepreßt, und sie hatte ihn ermuntert, noch fester zuzufassen. Va Anh sagte, daß nur Son imstande sei, sie beim Sex zum Höhepunkt zu bringen, nur mit ihm würde sie sich körperlich lebendig fühlen. Ihr Mann konnte in ihr solche Gefühle nicht erwecken, obwohl er sehr nett war. So war Son ihr höchster Erlöser. Er war ihre Stärke, die Quelle ihres sexuellen Genusses. Nur Son konnte bewirken, daß sie sich wirklich wie eine Frau fühlte.

Die Seele des jungen Mannes fühlte Mitleid mit der Frau. Er konnte nicht abstreiten, daß die Frau ihn überglücklich gemacht und in Extasen versetzt hatte. Jede Woche, wenn er sie traf, fühlte er sich wie ein großer Mann.


***

Die Mutter hatte vor, zu warten. Die Beerdigungsfeiern hatten drei Tage gedauert und viele Leute waren gekommen, um zu beichten und für ihren Sohn zu beten. Sie glaubte, daß er nun wohl in den Himmel kommen werde. An dem Abend beim Essen war ihr Mann so aufmerksam zu ihr wie nie zuvor. Wenn er ihr die Schüssel mit dem Reis reichte, schien er zu lächeln, mit vielen Falten im Gesicht. Er brachte ihr Herz zum Schlagen und sie hatte Gefühle, von denen sie glaubte, daß sie bei ihr schon abgestorben waren, seit der Zeit vor dreißig Jahren, als sie zum ersten Mal miteinander schliefen in einer sternenlosen Nacht, als sie sich aus dem Kloster stahl und sich heimlich mit ihm traf. Die christliche Nonne wußte, daß sie den Allmächtigen betrogen hatte. Sie hatte es nicht vermocht, ihr ganzes Leben Gott zu widmen und statt dessen einen einfachen Mann gewählt. Und seit sie mit ihm in sein Haus gegangen war, hatte ihre Lust stets den Beigeschmack eines tiefen Gefühls der Reue.

Jetzt, als sie ihres Mannes zerknittertes Gesicht sah, in dem ein Lächeln blühte, fühlte sie, wie jene Gefühle wieder zurückkamen.

Sie schaute ihm schweigend zu, als er die Opfergaben vorbereitete und sie auf dem Altar ausbreitete, und sie betete darum, ihr Sohn möge zurückkehren und mit ihnen zu Abend essen. Sie glaubte nicht, daß er kommen würde, denn er war ja schon im Himmel. Aber wenn sie ihren Mann sah, wie er den Reistopf in seine schon zittrigen Hände nahm, da wünschte sie sich so sehr, daß ihr Sohn nach Hause zurückkommen und mit ihnen gemeinsam den Reis essen würde.

„Hast du es schon seiner Freundin Lan gesagt?“, fragte er.

„Noch nicht, mein Lieber. Wo ist Lan überhaupt? Ich wundre mich, daß sie zum Tet nicht hereingeschaut hat? Weiß sie es etwa schon?“

„Das ist wirklich seltsam. Haben sie sich vielleicht gestritten?“

Sie warf ihm einen Blick zu und schüttelte ihren Kopf, der Form halber. Sie wollte ihm den Brief des Sohnes nicht zeigen. Sie hatte so ein Gefühl, daß Lan in dieser Nacht anrufen würde. Vielleicht würde sie dadurch etwas über seinen Tod erfahren. Im Grunde ihres Herzens liebte sie Lan nicht, aber haßte sie auch nicht. Lan war ein Mädchen ohne besondere Eigenschaften. Sie war eben ganz normal, wie jedes andere Mädchen. Obwohl sie wahrscheinlich eine gute Frau für ihn wäre, schien ihr Sohn dieses Mädchen nicht wirklich zu lieben.

Morgen war Sonntag, und sie würde nicht mit einem Sohn zur Kirche gehen können. Ein Schaudern überkam sie. Die Wanduhr über dem Altar ihres Sohnes schlug acht Mal. Der Wetterbericht hatte für morgen Sonne angekündigt. Wenn er noch lebte, würde er sie bitten, ihren blauen Ao Dai zum Kirchgang anzuziehen, denn er liebte die Farbe blau, obwohl seine Sweatshirts immer rosa und schwarz waren, manchmal auch gelb. Sie fragte ihren Sohn oft nach dem Grund für diesen Widerspruch, aber er lächelte nur. Ihr kam es immer vor, als sei eine dunkle Melancholie in diesem Lächeln.

Sie dachte immer noch darüber nach, ob sie morgen den blauen Ao Dai anziehen sollte, als das Telefon klingelte. Schnell nahm sie es und meldete sich:

„Ist da Lan? Hier ist Vy. Wo sind Sie jetzt?“

„Wo ist Son? Warum gehen Sie an sein Telefon? Ich war in meinem Heimatdorf, um mit meiner Familie das Tet-Fest zu feiern. Ich bin gerade wieder in Hanoi angekommen. Ich wollte Son anrufen und ihn fragen, ob er mich abholen und mit zu euch nach Hause nehmen kann, damit ich euch meine besten Wünsche zum Tet ausdrücken kann. Habt ihr gut gefeiert? Ich …“ – Das Gespräch wurde wegen einer Störung kurz unterbrochen – „Ja, sind Sie noch da, Frau Vy?“

„Sie meinen, daß in den letzten Tagen alles in Ordnung war, Lan?“

„Ja, nichts Besonderes. Alles ist in Ordnung mit uns. Was ist los, Frau Vy?“

Die Mutter stieß plötzlich einen tiefen Seufzer aus.

„Gab es keine schlimmen Vorzeichen?“

„In meinem Dorf habe ich meine Verwandten besucht und viel gegessen, so daß ich zugenommen habe, stellen Sie sich vor. Aber ist irgendwas los? Bitte sagen Sie es mir, und wo ist mein Son?“

Die Seele des jungen Mannes zeigte ein tapferes Lächeln. „Mein Son“: Lan betrachtete ihn immer als ihr Eigentum. Wenn sie im Büro war, sagte sie „Mein Son ist nett und talentiert.“ Zuerst fühlte Son Stolz dabei. Aber mit der Zeit bewirkte es bei ihm ein Gefühl der Minderwertigkeit, später ärgerte er sich. Lan sorgte für ihn, als sei er ein Baby. Sie sagte ihm immer, was er anziehen, was er essen sollte, und wie er sich mit den Kollegen zu verhalten habe. Ja, sie hatte den Ehrgeiz, eine beispielhafte Ehefrau und eine gute Mutter zu werden. Ein Mann braucht so eine Frau.

Die Mutter zitterte noch immer.

„Son. Son ist an einem Herzinfarkt gestorben und wir haben ihn gerade begraben.“

„Was… Was haben Sie da gesagt? Wer hatte einen Herzanfall? Wer ist gestorben? Was habt Ihr begraben?“

„Bitte beruhigen Sie sich. Son ist jetzt schon im Himmel.“

„Nein, nein, nein! Sie lügen, Sie lügen mich an…“

Die Seele des jungen Mannes legte ihre Hände auf ihre kleinen Ohren. Das Schreien war so laut. Tränen strömten über das Gesicht des Mädchens. Sie schrie und schrie. Son fragte sich, warum sie nie so geschrieen hatte, wenn sie miteinander schliefen. Sie hatte nie einen Höhepunkt; sie sprang nicht auf ihn und sie preßte sich nicht fest an ihn. Sie lag immer nur da, wie resigniert. Trotzdem, Lan war immer gut zu ihm. Er hatte Lust, sich hinunterzustürzen und ihre Tränen zu trocknen. Aber plötzlich hörte Lan auf zu schreien. Sie setzte sich aufs Bett und schaltete den Fernseher ein. Sons Seele konnte hören, wie sie sagte: „Ich will mich noch dieses Jahr verheiraten. Ich muß eben einen anderen Mann finden.“ Sie lächelte schon wieder.


***

Letzte Nacht, als sie mit der Frau telefoniert hatte, die ihre Schwiegertochter hätte werden sollen, dachte die Mutter, Lan würde nun hergeeilt kommen und sich vor Sons Altar auf die Knie werfen. Aber niemand kam, nur der unendliche dunkle Himmel hing über ihrem Kopf. Außergewöhnliche Ruhe! Sie wünschte sich, daß ein Windstoß kommen und ihre Worte zu ihrem Sohn in den Himmel wehen würde. Er pflegte zu sagen, daß er nicht an ihren Gott glaube, auch nicht an Buddha, Aber er glaubte schon, daß es in dieser Welt eine Heiligkeit gibt. Und diese Heiligkeit war ein Geschöpf des menschlichen Geistes.

Sie nahm die Photos ihres Sohnes zur Hand und betrachtete sie erneut. Er hatte immer so nett ausgesehen, sowohl als kleiner Junge als auch als erwachsener Mann. Aber seine Augen waren traurig, als sähen sie sein tragisches Schicksal voraus. Dann nahm sie sein Handy aus ihrer Tasche. Es war nur noch eine Frau übrig, die anrufen würde. Sie wollte die Aufgabe, die ihr Sohn ihr gestellt hatte, endlich erledigen. Dann würde sie das Handy ausschalten und in die Schublade seines Tisches legen. Auf diese Weise, so dachte sie, würde er immer in ihrer Nähe sein. Sie erinnerte sich, der Spitzname der letzten Frau war: Indigofarbenes Kleid. Sie fragte sich, warum?

Am Abend klingelte das Telefon. Sie hoffte, daß sie von dieser Frau etwas über das Geheimnis des Todes ihres Sohnes erfahren würde. Sie war ganz ruhig, als sie sich meldete.

„Ja, wer ist da?“

„Entschuldigen Sie, ich habe mich wohl verwählt. Ich wollte mit Herrn Son sprechen.“

Was für eine freundliche und klare Stimme!

„Es ist die richtige Nummer, auf jeden Fall, Fräulein Indigokleid. Es ist Sons Nummer.“

Diese attraktive Stimme hat ihren Sohn bestimmt verzaubert. Sogar der Son auf dem Altarbild schien auf die heilige Stimme zu hören. Er schaute so betroffen, als fühle er, daß Thanh, so hieß das Mädchen am anderen End der Leitung, schon über seinen Tod Bescheid wußte. Wie würde sie diese Nachricht aufnehmen, würde sie daran zerbrechen? Sie war so zart wie die Blüte einer Tuberose.5. Sein Herz war beklommen.

„Ja. Kann ich mit Herrn Son sprechen?“

„Wozu? In welcher Beziehung stehen Sie zu ihm?“

Ein Moment des Schweigens.

„Ich bin diejenige, die Ihren Sohn liebt.“

Die Mutter war erschrocken über diese Antwort. Plötzlich quollen Tränen aus ihren Augen.

„Oh, Liebe, Son ist gestorben und wir haben ihn gerade beerdigt. Wo sind Sie?“

Sons Seele sprang aus der Tuberosenblüte heraus, zitterte an der frischen Luft. Die Mutter brach in Schluchzen aus. Die Luft war ganz ruhig und im Telefon gab es viele Störungen.

„Anitabba!6 Bitte seien Sie nicht traurig! Buddha hat uns gelehrt, daß das Leben ein Meer aus Leiden ist. Son ist jetzt von seinen Begierden und Leiden befreit. Ich werde morgen zu Ihnen und der Familie kommen und Räucherstäbchen zu seinem Angedenken entzünden.“

Von ferne waren der Klang einer Holztrommel und Gebete zu hören. Son wußte, daß Thanh sich in eine leere, nichtige Welt versenken würde. Er wollte zu diesem Haus aus roten Ziegeln laufen, das moosüberwachsen in jenem stillen Garten lag, um die schwarzen Haare, die von Thanhs Schultern fielen, zu glätten. Zweimal war Thanh von den Mönchen abgewiesen worden in der Giac Pagode, wegen der Tonsur7. Der Bonze dort sagte ihr, sie sei noch immer ganz mit der Welt verbunden, so könne sie nicht tonsuriert werden. Son hatte Mitleid mit ihr, sie war ein intelligentes und gefühlvolles Mädchen. Es war zwischen ihnen nicht die Liebe zwischen Mann und Frau, sondern eine Sympathie und Harmonie zwischen zwei sensiblen Seelen. Son erinnerte sich daß Thanh ihn einen Monat vor Tet mitgenommen hatte zu ihrer Wohnung in der Vorstadt, wo sie allein lebte. Sie lud ihm zu einer Tasse Tee ein, der mit Grapefruitblättern parfümiert war. Ihre großen hellen Augen blickten unruhig. Mit ihrer leisen Stimme sagte sie, sie habe so viele Verluste und Enttäuschungen erlebt und könne nun niemandem mehr glauben. Aber sie war zu schwach, um zu widerstehen, und ihr ganzes Herz war ausschließlich erfüllt von dem Anspruch auf das Leben und auf die Liebe. Nur Son konnte ihr ein normales Leben bieten unter einem warmen Dach. Er schien zu versteinern, als er diese ehrlichen Worte hörte. Er sagt ihr, er sei noch schwächer als sie und nicht stark genug, um ihr leicht verwundbares Herz zu schützen. Sie schaute ihn mit freundlichen Augen an. Und sie lächelte. Sie hätte ihm glauben sollen, als er sagte, er sei schwächer als sie! Sons Seele hielt sich noch immer irgendwo in diesem stillen Garten auf, die ganze Nacht. Die Schritte seines Geistes hatten tiefe Fußspuren in diesem wunderschönen, lotusförmigen Haus hinterlassen.


***

Am nächsten Morgen ging die Mutter zur Kirche, in ihrem blauen Ao Dai. Die Straße war hell, beschienen von einem gesegneten Licht in diesen Wintertagen. Sie hatte gut geschlafen die letzte Nacht. Der Tod ihres Sohnes quälte sie nicht mehr. Das kleine Handy lag jetzt in der Schublade. Jetzt glaubte sie endgültig, daß ihr Sohn im Himmel war.



Anmerkungen des Übersetzers:
1 Sutras: gelehrte Sinnsprüche Buddhas
2 Erleuchtetes Wesen auf dem Weg, ein Buddha zu werden, Ideal der Barmherzigkeit
3 wörtl: Orden der Liebe zum Kreuz, also ein katholisches Kloster.
4 Der Name bedeutet Grazie, oder Gnade
5 Tuberose, auch Nachthyazinthe, in der Natur nicht vorkommendes gezüchtetes Agavengewächs mit weißen Blüten und starkem Duft.
6 „Unermeßlicher Glanz“. Bezeichnung für einen transzendenten Buddha.
7 Tonsur: Haarschnitt von Mönchen und Priestern, ganzer oder teilweise Kahlschnitt.

Quelle: VNS 23. 10. 2005.
Aus dem Englischen von Manh Chuong
übersetzt von Günter Giesenfeld.

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 3-4/2005

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