Geschichten aus einem kleinen Haus

Eine Erzählung von Y Ban

Seit Tagen hört es nicht auf zu regnen, und die kleine Gasse füllt sich mit Schlamm. Im Innern eines niedrigen und kleinen Häuschens, das gerade mal etwa 10 mal 10 Meter groß ist, verbreitet eine trübe Glühlampe einen schwachen gelblichen Schimmer. Zwei Männer hocken auf einer Matte, ihre Köpfe über zwei Becher mit Schnaps gebeugt. Der jüngere von ihnen steht nach einem langen Blick aus dem Fenster auf.

Er werkelt eine Zeit lang in einer Zimmerecke geräuschvoll an etwas herum, zieht schließlich einen Regenmantel an und setzt einen ziemlich ramponierten konischen Hut auf. Er geht aus dem Haus, löst die Kette, mit der die Fahrradrikscha an der Lehmwand befestigt ist, springt in den Sattel und fährt in den Regen hinaus. Er tritt nur langsam in die Pedale und wirft dabei Blicke nach rechts und links. Die Gasse ist seltsam verlassen, alle Häuser fest verschlossen, um zu verhindern, daß Schlamm und Wasser hinein fließen. An einer trockenen Stelle unter der Terrasse eines Hauses erblickt er eine Frau, die dort mit zwei Kindern von drei und fünf Jahren kauert, alle drei reglos und schweigsam. Er bremst seine Fahrradrikscha vor ihnen, ein kurzer Seufzer ist zu hören. Nachdem er seit drei Tagen kein Wort gesprochen hat, sagte er nun:

„Geh nach Hause mit den Kindern.”

Er steigt mit mehr Schwung in die Pedale, und sein Gefährt bewegt sich schneller. Die Frau nimmt die beiden Kinder auf und stützt sie auf ihre Hüften, läuft unter den Vordächern entlang nach Hause. Im Haus liegt der ältere Mann schon unter einer speckigen Decke und schnarcht.

Die Frau setzt die Kinder auf eine Matte, die nahe bei der Tür ausgebreitet ist, wo von draußen ein wenig Licht hereinfallt, und gibt ihnen einige billige Spielsachen. Die Kinder spielen still vor sich hin, die Frau räumt auf. Die Wohnung wird langsam ordentlicher. Dann spielt die Frau mit den Kindern, alle drei sind friedlich und vergnügt. Manchmal gibt es einen kleinen Streit um die Spielsachen, aber alles läuft gedämpft und lautlos ab. Schließlich fallen die Kinder in einen tiefen Schlaf. Die Frau trägt sie zum großen einzigen Bett, das in der Wohnung steht. Sie legt ihnen die Kissen zurecht, deckt sie mit einer Decke zu und spannt ein Moskitonetz auf. Dann geht sie zu dem schlafenden Alten. Die Frau berührt ihn leicht, als wolle sie ihm ein Zeichen geben, und legt sich neben ihn aufs Bett. Der Mann dreht sich um, wacht halb auf, rückt ein wenig von ihr ab und sagt mürrisch:

„Geh weg! Laß das.”

Auch bei ihm sind das die ersten Worte nach drei Tagen Schweigen. Die Frau kriecht auf allen vieren weg und steht auf, das Abendessen zuzubereiten.

Um sechs Uhr abends, wenn in den Fabriken Schichtwechsel ist, kommt der junge Mann mit der Fahrradrikscha heim. Er hat große Mühe, das Fahrzeug an der Mauer festzumachen. Er betritt wortlos und mürrisch das Haus, gibt der Frau eine Handvoll Kleingeld und den Kindern ein paar Bonbons. Immer noch ohne ein Wort zieht er den Regenmantel aus, hängt den ramponierten konischen Hut an den Haken, packt sich ein Handtuch und geht ins Badezimmer. Dort befinden sich seine sauberen Sachen und ein Topf voller dampfend heißem, mit stärkenden und duftenden Gewürzen gekochtem Wasser. Er zieht sich aus und fühlt sich wie neugeboren nach den vielen dunklen Regentagen, die sein Gemüt verfinstert haben.

Als er aus dem Bad zurückkommt, steht das Abendessen auf dem Tisch. Drei Erwachsene und zwei Kinder setzen sich. Sie essen friedlich, zu hören sind nur die Kleinen, die mit ihren Löffeln an ihre Schälchen aus Steingut stoßen.

Die Mahlzeit ist schnell zu Ende. Die Frau räumt sofort den Tisch ab. Der jüngere Mann steht auf, um Tee zu kochen. Der Alte veschränkt die Hände im Nacken, reckt sich mit aller Kraft, um die Müdigkeit zu vertreiben. Die beiden Kleinen schlingen ihre Arme um den Kopf ihrer Mutter und flüstern ihr etwas ins Ohr. Die Frau schüttelt ihre nassen Hände aus, steht auf und bringt die beiden vor die Tür. Sofort ist sie wieder zurück und arbeitet weiter in der Küche.

Wenn die Frau ihre Hausarbeit beendet hat, schnarcht der Junge bereits mit großer Inbrunst. Der Alte beugt sich über das Bett und bereitet sein Nachtlager. Die Frau verläßt mit leisen Schritten die Männer. Sie geht zu den Nachbarn, um dort mit den Kindern fernzusehen, was diese freundlicherweise erlauben. Genau um neun Uhr, pünktlich wie die Arbeiter zur Schicht, kommt sie mit den beiden Kindern wieder nach Hause. Sie bringt sie gleich ins Bett und legt sich neben sie. Sie streckt die Hand aus, um sie zu streicheln. Eigentlich würde sie ihnen gern aus ganzem Herzen ein Wiegenlied singen. Aber das Schnarchen der beiden Männer verschließt ihr den Mund. Sobald die beiden Lieblinge in die Tiefe ihres Engelsschlafes abgetaucht sind, entspannt sie sich auch.

Um Mitternacht wacht sie auf, immer pünktlich wie die Schichtarbeiter. Sie zupft die Kissen und Decken der Kinder zurecht und verläßt vorsichtig ihr Bett. Sie kriecht zu dem schlafenden jungen Mann. Sie legt ihm die Hand aufs Gesicht, streichelt ihn und streckt sich an seiner Seite aus. Er dreht sich um und liegt jetzt Gesicht an Gesicht mit ihr. Er macht Anstalten, sie an sich zu ziehen, stößt sie aber nach einem kurzen Augenblick des Einverständnisses schließlich wieder zurück: „Das ist jetzt nicht der Moment. Schlaf bei den Kindern.” Auf allen vieren kriecht sie wieder zurück.

Nach dem Regen der Sonnenschein! Am anderen Morgen, gegen fünf Uhr, scheint die Sonne schon mit aller Kraft. Der Regen hat das Firmament sauber gewischt. In dem kleinen Haus sind die drei Erwachsenen schon auf den Beinen, bewegen sich wie Schatten. Ihre Bewegungen und Gesten strahlen eine Freude aus, die in den vergangenen düsteren Regentagen nicht dagewesen war.. Genau um sechs Uhr ist das Frühstück fertig. Die beiden Männer essen zuerst. Sie beenden das Mahl schnell, kaum haben sie die Schalen geleert und die Baguette gegessen, trinkt der Alte schon frisch gebrühten Tee aus der heißen Kanne, die auf dem Tisch steht. Er steckt sich einen Zahnstocher in den Mund, nimmt den ramponierten konischen Hut vom Haken und geht zur Tür hinaus. Der junge Mann steht auch auf, geht hinaus und löst die Kette mit der Fahrradrikscha von der Wand. Der Alte schiebt sie auf die Gasse, springt rüstig in den Sattel, tritt in die Pedale mit all der Kraft, die sich in drei Tagen Pause wegen des Regens in ihm angesammelt hat.

Der junge Mann kehrt ins Haus zurück, wo die Frau fleißig das Geschirr spült. Er nähert sich ihr, ergreift von hinten ihre beiden Brüste und drückt sich gegen ihren Rücken. Sie legt das Geschirr nieder, macht eine halbe Drehung und findet sich Gesicht an Gesicht mit ihm. Er umfaßt ihre Taille und schiebt sie hin zur Matte, die auf dem Boden liegt. Dort bearbeitet er sie mit derselben Intensität wie die Pedale der Fahrradrikscha, wenn er einen eiligen Auftrag möglichst schnell erledigen muß.

Nach dem Regen badet die Erde in einem glänzenden Licht. Die Sonnenstrahlen dringen auch in das kleine Haus ein, plötzlich wirken das Zimmer und die Einrichtung geräumiger. Der Junge ist etwa dreißig, die Frau ist jünger, aber auch schon über zwanzig.

Dieses kleine Haus steht schon lange hier in der zum Markt führenden Gasse. Es war auch schon da, als der Bursche noch ganz klein war und an der Seite einer sanften kleinen Frau lebte, die er Mutter nannte. Diese Mutter und ihr Kind mußten sich nicht ziellos mal hier mal dort herumtreiben. Das Haus war winzig, aber voller Glück. Der Hausherr, den er Papa nannte, besaß eine Fahrradrikscha. Mit dieser Fahrradrikscha als Transportmittel verdiente er genug Geld, um Frau und Kind zu ernähren.

Als der Sohn zwölf war, wurde seine Mutter krank. Das Geld, das sie vom Verdienst vieler Fahrten zusammengespart und beiseite gelegt hatten, reichte nicht, um die Mutter von ihrer Krankheit zu heilen. Als sie ihren letzten Atemzug getan hatte, blieben in der bescheidenen Unterkunft nur noch der Vater, der Sohn und die Fahrradrikscha. Das Leben verlief so lala und der Sohn wuchs heran. Er hätte gern einen Job gefunden, um seinem Vater wenigstens ein wenig zu helfen. Aber was für einen Job? Er hatte weder Geld noch Bildung. Er konnte gerade mal lesen und schreiben. So ergriff er also den Beruf seines Vaters. Der bestand darin, vor allem innerhalb der Stadt Leute und Waren zu transportieren, und dazu brauchte man weder Studium noch Lehre. So arbeitete also der Vater, der schon schwächer wurde, bei Tag, und der kräftigere Sohn in der Nacht.

Die Arbeit der beiden Männer brachte zusammengenommen ein erkleckliches Sümmchen ein. Sie kauften eine neue Fahrradrikscha. In den Zeiten, in denen es bei ihnen noch keine Frau und keine Kinder gab, redeten die beiden Männer oft miteinander. Der Vater sagte zu seinem Sohn:

„Schau, daß du etwas sparst und eine Frau nehmen kannst.”

„Du auch, du kannst doch noch mal heiraten, du bist noch jung.”

Der Vater seufzte, dachte lange nach und sagte schließlich:

„Das ist meine Sache. Kümmere du dich um dich. Gründe eine anständige Familie, wie es sich gehört!”

Kurz nach diesem Gespräch brachte der Alte eines Abends eine junge Frau mit ins Haus, bäuerlich und vollkommen veräng­stigt. Er übergab die Fahrradrikscha an den Sohn, damit er ihn ablöste, und murmelte:

„Wir brauchen eine Frau, die für uns kocht. Immer draußen essen und trinken gehen, das ist zu teuer und schlecht für die Gesundheit.”

Seit diesem Tag gibt es die Silhouette einer Frau in dem Haus. Ihr Verhältnis zu den beiden ist unbestimmt, es gibt keine Erklärungen und keine Zeremonien oder Feiern vor dem Ahnenaltar und auch keine Behördenpapiere wie etwa eine Heiratsurkunde. Es gilt als ausgemacht, daß die Frau dem Vater gehört.

Sie versteht es, das Geld zu verwalten, das die beiden Männer verdienen, und sie bringt den Haushalt in Ordnung. Seit Ihrer Aufnahme in das Leben von Vater und Sohn ist zwar ein Mund mehr zu füttern, aber die Sparbeträge, die der Sohn im Hinblick auf eine künftige Familie beiseite legt, werden nicht angetastet. Es ist nicht so, daß die beiden Männer jetzt mehr Geld verdienten. (In einer Zeit, in der alle Sektoren der nationalen Wirtschaft sich auf Teufel komm raus entwickeln, strömen die Leute vom Land in die Städte. Fahrradrikscha-Fahrten bringen dann nur geringe Bezahlung, werden dafür aber häufiger bestellt. Die beiden Männer gewöhnten sich daran, lange Strecken zu fahren und eine niedrigere Bezahlung zu akzeptieren. Aber da die Frau gut und vor allem pünktlich für sie kocht, gehen die Männer nicht mehr aus, um zu essen und brauchen dafür kein zusätzliches Geld.

Nach und nach spielte sich das Alltagsleben ein und die Kommunikation zwischen den drei Personen starb langsam ab. Nachdem die notwendigen Informationen ausgetauscht sind und für Klarheit gesorgt ist, sind weitere Gespräch überflüssig. Morgens um sechs Uhr, wenn die junge Frau das Essen vorbereitet hat, kehrt der junge Mann mit der Fahrradrikscha nach Hause zurück. Manchmal verspätet er sich ein wenig wegen einer morgendlichen Fahrt. Aber meistens ist er pünktlich. Von Mitternacht bis zur Morgenröte gibt es im allgemeinen wenig Kunden, und dann sucht er sich eine ruhige Ecke, um ein wenig zu pennen. Die drei Menschen setzen sich und essen schweigend. Dann geht der Alte mit der Fahrradrikscha zur Arbeit. Der Junge schläft. Die Frau spült das Geschirr und macht den Haushalt. Das Mittagessen nehmen die beiden Übriggebliebenen gemeinsam ein. Wer gerade tagsüber arbeitet, sucht einen Imbiß an der Straße auf.

Um sechs Uhr wird mit größerem Aufwand das Abendessen serviert. Außer den Mahlzeiten, die sie sorgfältig zubereitet, richtet die Frau auch das Waschwasser für die beiden Männer. Sowohl in der heißen Jahreszeit, als auch wenn es kalt ist, finden sie, wenn sie von der Arbeit kommen, im Badezimmer stets einen Bottich mit heißem, nach Kräutern duftendem Wasser vor. Für den Vater ist die Gegenwart der Frau, die er auf der Straße aufgesammelt hat, fast schon die Erfüllung seiner Wünsche auf dieser Erde. Für den Sohn war die Gründung einer anständigen Familie, wie es sich gehört, immer ein Traum. Der tägliche Überlebenskampf nimmt ihn wie ein mechanisches System, das automatisch funktioniert, so gefangen, daß er nicht mehr an andere Dinge wie etwa einen Haushalt denken kann. Manchmal, wenn er sich ein wenig ausstreckt im Schatten eines Baumes, denkt er intensiv und voller Angst über dieses Problem nach. Nachts arbeitet er, und tagsüber verschläft er den ganzen Vormittag. Am Nachmittag wird er wach, geht hinaus und vertritt sich ein bißchen die Füße.

Die meisten Familien in dieser Gasse leben so ähnlich wie diese. Das heißt, sie kämpfen täglich um ihr Überleben. Die Leute hier machen alle einen überarbeiteten Eindruck. Alle tragen sie die gleichen verwaschenen Kleider, ihre Haare sind zerzaust und ihre Gesichter mürrisch. Die jungen hübschen Mädchen versuchen um jeden Preis, einen Ehemann woanders zu finden, um ein besseres Leben zu führen. Aber der junge Mann kennt niemanden außerhalb dieser Gasse. Deshalb stellt sich der Traum, den ihm sein Vater eingeprägt hat, eine anständige Frau zu finden wie es sich gehört, als undurchführbar heraus. Je mehr er darüber nachdenkt, umso tiefer versinkt er in eine melancholische Verzagtheit. Manchmal denkt er daran, es so zu machen wie sein Vater: eine von den vagabundierenden Weibern zur Frau zu nehmen. Ist die Frau, die bei ihnen Zuflucht gefunden hat, nicht eigentlich ein guter Mensch? Es laufen jetzt so viele davon auf den Straßen herum! Welche soll er nehmen? Und wie soll er sie ernähren? Er schließt seine Augen, schnalzt mit der Zunge und macht sich auf, einen neuen Kunden zu suchen.

Einmal hat er einen Europäer in der Nacht durch die Stadt gefahren. Der Reisende war nicht in Eile, und unser junger Mann fand ein Vergnügen darin, unbeschwert vor sich hin zu fahren. Nach einer Stunde hatte der Europäer genug. Er zog aus seinem Geldbeutel eine Zwanzig-Dollarnote und gab ihm zu verstehen, daß er kein Wechselgeld haben wollte. Außer sich vor Glück machte er bei der nächsten Getränkebude halt und faulenzte bis sechs Uhr morgens.

Nach dem Abendessen geht der Vater weg zur Arbeit. Der Sohn legt sich lang. Aber der tiefe Schlaf der letzten Nacht hindert ihn jetzt am Einschlafen. Er öffnet die Augen und beobachtet die Frau, die nun schon Jahre bei ihnen wohnt. Sie ist immer noch sehr jung, obwohl man bei den Frauen in dieser Gasse nie sicher sagen kann, wie alt sie wirklich sind. Sie ist sogar ein wenig hübsch. Ein muskulöser Körper. Braune Haut. Ein freundliches Gesicht. Ein attraktiver Mund. Nur die Glieder wie ein Bauerntrampel. Er sagt sich, diese Frau paßt viel besser zu mir als zu meinem Vater. Der ist ziemlich alt, sein Geschlechtstrieb entspricht nicht mehr dem, was sie verlangen darf. Er denkt, daß er Recht hat. Und mit einer entschlossenen Bewegung steht er auf, geht zu der Frau hin, die mit dem Haushalt beschäftigt ist. Er umarmt sie fest von hinten, beide Hände auf ihre Brüste gepreßt. Sie ist überrascht, stößt kleine Schreie aus, versucht, ihn mit ihren Ellenbogen abzudrängen. Schließlich beugt sie sich unter dem Druck der starken Arme des Burschen. Sie wehrt sich noch eine Weile, entspannt sich dann aber und flüstert:

„Ich bin Ihnen sehr dankbar, Ihnen und Ihrem Vater. Machen Sie also mit mir, was Sie wollen.”

Von diesem Tag an denkt er immer weniger an sein ewiges Projekt der Gründung einer anständigen Familie wie es sich gehört. Sowieso wird die Summe, die durch den Schweiß von Vater und Sohn für diesen Traum angesammelt werden sollte, Tag für Tag kleiner. Zwei Jahre nach der Ankunft der Frau in dieser bescheidenen Wohnung kommt ein kleines Mädchen zur Welt. Im Jahr darauf ist es ein Junge. Jetzt müssen fünf Münder ernährt werden, das strapaziert den Verdienst der beiden Männer. Der Vater wird immer älter, er verdient deshalb immer weniger Geld. Der Sohn versucht, den Verlust auszugleichen und beschließt, die ganze Nacht zu arbeiten, ohne jede Pause.

Der Alte erkennt seine Lage, sein Schicksal. Die beiden kleinen Babys sind der Grund für sein Unglück. Und welches der beiden Kinder ist sein eigenes, welches das Kind seines Sohnes? Die Ironie dieses Schicksals könnte er noch ertragen, aber die Familienhierarchie ist oberstes Gesetz. Eine Jahrhunderte alte Tradition legt den Status jedes Mitglieds einer großen Familie fest: Großeltern, Eltern, Kinder, Enkel. Er erinnert sich an das Sprichwort: „Das Baby kommt und geht im selben Augenblick.”1 Er schläft mit der Frau in der Nacht, sein Sohn am Tag. Die Grenze ist klar, wie bei den Tieren, die ihr Revier markieren. Beide Babys in dem kleinen Haus sind in der Abenddämmerung auf die Welt gekommen.

Die Not ist für die kleinen Würmer am größten. Sie müssen lernen, still zu sein, so wie es die Großen in diesem Haus auch sind. Seitdem sich das Dreiecksverhältnis etabliert hat, sind die Worte aus dem Haus verschwunden. Die drei Erwachsenen verständigen sich in den wenigen Momenten, in denen sie zusammen sind, durch Gesten. Die beiden Männer vermeiden es so weit wie möglich, allein zusammen zu sein. Wenn die Männer nicht da sind, bringt die Mutter den beiden vieles bei. Doch in Gegenwart der beiden Männer schweigen sie. Wenn es Geschenke oder Gesten der Zärtlichkeit gibt, dann erheben sie nur kurz ihren kindlichen Blick und drücken so ihre Gefühle aus. In dieser traurigen Wohnung sind die Tage am schlimmsten, an denen es unablässig regnet. Die Fahrradrikscha ist fest an der Wand angekettet. Die beiden Männer sitzen widerwillig zusammen und trinken Alkohol. Die beiden kleinen Engel und die Frau suchen sich einen Platz unter dem Vorbau eines Hauses in der Gasse. Dort beten sie, daß diese schlimmen Tage so bald wie möglich vorübergehen mögen.

Anmerkung:
1 Eigentlich: Der Samen kommt in die Frau und verläßt sie nach kurzer Zeit wieder.

Übersetzt von Günter Giesenfeld und Marianne Ngo
Geschrieben und veröffentlicht 1998 in der Zeitung Tan Nhien unter dem Titel "Cyclo".
Quelle: Buchfassung mit neuem Titel Chuyen Trong can nha nho
in dem Sammelband Cam Cu (Streiflichter) Hanoi 2001.
Die Buchfassung wurde leicht verändert.
In Absprache mit der Autorin wird hier die Urfassung wiedergegeben, aber mit dem neuen Titel.

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 3-4/2010

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