"Um die Zeit wirst du schon in San Francisco sein" sagt er und schaute traurig auf ein Photo, das er in der Hand hielt. "So ist das Leben…", murmelte er, "mein Schicksal." - "Wie, dein Schicksal?" Mit einer energischen Kopfbewegung schüttelte Huyen ihre Haare aus dem Gesicht, schaute ihm einen Moment lang direkt in die Augen, um sich dann wieder ihren Jeans zuzuwenden, damit beschäftigt, mit ihren feinen Fingern den Rest eines Queckenzweigs, der sich dort festgesetzt hatte, zu entfernen. Offensichtlich war ihr die Frage so herausgerutscht: Sie hatte sie aus reiner Gewohnheit gestellt, vielleicht auch aus Mitleid. Sie war ihr eigentlich nicht wichtig, und schon gar nicht die Antwort.

Er legte das Photo auf den Tisch und begann, skizzenhaft ein Haus zu zeichnen. "Das, das ist San Francisco", sagte er. "Du wachst um acht Uhr auf: die Uhr schlägt acht mal. Du gehst ins Eßzimmer. Jetzt ist es neun Uhr. Die Uhr schlägt neun mal. Dein Vater sagt: "Ich mache mir Sorgen wegen deiner Reise" Du lachst: "Ich bin kein Baby mehr, weißt du". Dein Vater sagt: "Du warst erst dreizehn, als wir aus Vietnam geflüchtet sind. Ich fürchte, du wirst viel Schlimmes erleben." Du sagst: "Ich habe keine Vorurteile. Kannst du das verstehen?" Dein Vater schüttelt den Kopf: "Deine Naivität bringt dir nichts!". Du sagst: "Nun hör halt auf, dich zu quälen, Vater." Dein Vater sagt: "Du wirst viel Geld brauchen. Das wird dir das Leben erleichtern. So hoffe ich wenigstens. Du wirst es in Singapur, Bangkok, Ho Chi Minh-Stadt und Hanoi erhalten." Du umarmst deinen Vater, du sagst: "Du meinst es gut mit mir, Vater. Danke."

Fragment aus einem Brief

"In Tan Son Nhat kam ich im Regen an. Als mein Flugzeug landete, regnete es, als würde der Himmel all sein Wasser ausschütten. Man könnte glauben, dieser Regen stammte direkt aus meiner Erinnerung. Es war 1970. Ich war sechs Jahre alt. Um den dritten Tag des dritten Monats zu feiern, hatte meine Mutter banh troi1 zubereitet. Meine Mutter stammt aus dem Norden, aus Hanoi. Sie wohnte in der Seidenstraße. Sie war eine sehr gute Köchin. Sie sagte zu mir: "Es ist nicht gut für ein junges Mädchen, nicht kochen zu können, denn damit fehlt ihr einer der wichtigsten Vorteile. Siehst du, mein Mädchen, die Männer muß man in den Armen der Familie halten unter Einsatz aller Waffen, die wir haben: Tugend, gute Küche, und eventuell Religion."

*

Also, an dem Tag machte meine Mutter banh troi. Beim Betrachten der Wassertropfen, die vom Regen auf die Landebahn in Tan Son Nhat perlten, hatte ich plötzlich eine verrückte Lust auf banh troi

Er erinnert sich, mit Huyen ban troi gegessen zu haben in einer billigen Imbißstube an der Ecke einer kleinen Straße in Hanoi. An dem Tag hatte es auch geregnet. Jedenfalls gab es einen kleinen Schauer. "Schmeckt's?" fragte er. "Super!", antwortete sie. Und dann, mit einem Seufzer: "Wenn ich daran denke, daß ich so was seit 15 Jahren nicht mehr gegessen habe! Das gibt es nicht in Amerika." "Fünfzehn Jahre!" wiederholte er betroffen. Solange wie das unstete Leben von Kieu2." Huyen sagte: "Ich glaube, die Dichterin Ho Xuan Huong hat etwas über banh troi geschrieben, aber ich erinnere mich nicht mehr genau." Er sagte: "In Vietnam können das 70 von 100 Leuten auswendig:

    Meine Haut ist zart, meine Figur rund
    In dem Taumel der mich erfaßt reite ich mal auf den Wogen, mal verschlingen sie mich.
    Mein folgsames Fleisch nimmt die Gestalt der Hand an, die es formt.
    Aber meine Unschuld schläft, jungfräulich, in meinem Innersten.

"Das ist ja super!", sagte Huyen. Und dann: "Und wer sind die siebzig Personen, die dieses Gedicht aufsagen können?" "Fünfzig davon sind Bauern," sagte er, "zehn sind Intellektuelle - von denen acht Naturwissenschaftler sind und zwei Sozialwissenschaftler. Einer ist ein Mandarin. Was die restlichen neun angeht, so sind sie Freudenmädchen." Huyen lachte ein wenig pikiert. Sie bestellte noch eine Portion banh troi. "Und wer sind die dreißig, die das Gedicht von Ho Xuang Huong nicht kennen?" Er sagte: "Fünfzehn sind Kinder; zwei sind Irre, die dreizehn restlichen sind Gesindel." Huyen ließ ihren Löffel fallen. "Muß ich das so verstehen, daß die Bevölkerung zu zehn Prozent aus Gesindel besteht?" sagte sie. "Dreizehn Prozent!", verbesserte er. "Nehmen Sie einen neuen Löffel, einen sauberen.", sagte die Wirtin lachend zu Huyen.

Sie nahmen ein Boot, das sie auf dem Yen-Fluß zur Huong-Pagode brachte. Er lehnte sich an die Reling und sang leise vor sich hin:

    Zärtliche Mutter!
    Hinter der Bergkette im Nebel
    liegt unser Dorf
    und die Laubhütte
    wo du mich zur Welt brachtest
    O zärtliche Mutter!
    In der Stunde der Bewährung hat mein Herz dich gerufen
    Rechtzeitig bist du gekommen
    mit einem Blick hast du mich gerettet
    O zärtliche Mutter!
    Ich mach mir Sorgen wenn du hungerst…

Huyen sagte: "Dein Lied ist super traurig" Huyen liebt das Wort super. Sie lebt in Amerika. In San Francisco. Dort gibt es keinen Hunger, aber es ist das teuerste Land der Welt. Dort spricht man englisch.

Huyen sagte: "Als ich in den Vereinigten Staaten ankam, im ersten Jahr, war ich super traurig. Ich redete mit niemandem, weil ich kein Wort englisch konnte. Die ganze Familie hatte schreckliches Heimweh. Mein Vater sagte immer wieder: ‚Hinter der Bergkette im Nebel ist meine Heimat, Vietnam, und dort ist meine Mutter …' Und dann haben wir uns eingewöhnt. Jetzt spreche ich besser englisch als vietnamesisch."

Fragment aus einem Brief

"Mein Vater fand Arbeit in der Firma von Mister John Quickly. Und der hat uns dann alle eingestellt, alle sechs Kinder. In San Francisco leben ungefähr zwanzig vietnamesische Familien, die für ihn arbeiten. Mister John sagte: ‚Ihr, die Vietnamesen, ihr seid intelligente Leute, unglücklicherweise habt ihr den schrecklichen Virus der Zwietracht in eurem Blut. Bei Geschäften seid ihr ungeduldig, maßlos …' Ich erinnere mich, daß du mir eines Abends dasselbe gesagt hast. Und du hast es so traurig gesagt, daß ich schließlich auch traurig wurde. …"

*

Er sang:

    Hinter der Bergkette im Nebel
    liegt unser Dorf
    o zärtliche Mutter!
    Oft stand ich am Abgrund
    Oft habe ich fast mein Leben dabei gelassen
    Aber du bist immer im richtigen Moment gekommen.
    o zärtliche Mutter!
    Ich sorge mich wenn du hungerst
    Während ich der Karriere hinterherlief
    Stieß hinter der Bergkette im Nebel
    Der Sumpfvogel seinen schrillen Schrei aus.

Huyen wischte sich eine Träne ab. Das Boot glitt geräuschlos durch das Wasser. Huyen tauchte ihre Hand in den Strom und streifte eine Wasserpflanze. Er sang weiter:

    Der Sumpfvogel blutet, Tropfen für Tropfen
    Ich bin nicht rechtzeitig gekommen
    Hinter der Bergkette im Nebel

Sie legten am Fuß des Berges Mam Xoi an, mit ihnen eine große Anzahl weiterer Dschunken und Motorboote. Die Pilger strömten ans Ufer. Huyen zupfte ihre Kleidung zurecht. Sie gingen eine Steintreppe hinauf. Huyen trug eine Bluse, der ihr bis zum Knie reichte, was sie wie ein kleines Mädchen aussehen ließ. Er sagte: "Das ist die Thien Tru Pagode. Thien Tru bedeutet himmlische Küche." Einige Bettler liefen auf sie zu und hielten ihre Hände auf. Huyen wollte ihren Geldbeutel ziehen, aber er hielt sie davon ab: "Später. Man gibt kein Almosen, bevor man nicht das Innere der Pagode besucht hat. Das ist so üblich."

Fragment aus einem Brief

"Ich danke Ihnen für Ihren Brief. Ihre Überlegungen zur Religion scheinen mir sehr originell zu sein. Ich bin voll einverstanden damit, daß man unbedingt vermeiden muß, den Idealismus dem Materialismus blind gegenüberzustellen. In der Politik hat es überhaupt keinen Sinn, von einem Menschen zu sagen, er sei Materialist oder Idealist. Wichtig ist, ob er arbeitet, seine Steuern bezahlt. Die Schließung der Pagoden und der Kirchen führt nur zur Verbreitung von Unruhe und erzeugt Unzufriedenheit unter der Bevölkerung. In der Monarchie, vor allem in ihren blühenden Perioden hat die Religion in Vietnam genauso wie in vielen anderen Ländern eine nicht zu vernachlässigende Rolle gespielt …"

*

Im Innern der Grotte erzeugten die Räucherstäbchen einen so dichten Qualm, daß man nicht mehr viel erkennen konnte. Er zündete einige an. Huyen flüsterte: "Weißt du, großer Bruder, ich kann nicht beten. Ich lebe in Amerika, bin eine gelbe Amerikanerin. Kann ich auf englisch beten? Ich denke nur noch auf englisch." Er sagte: "Die Religion pfeift auf politische Vorurteile. Du brauchst nur den Buddha um seinen Segen zu bitten für deine Mutter, deine Nächsten und um Glück für dich selbst." Huyen erschauerte: "Ich spüre die übernatürliche Macht hier." Sie ergriff seinen Arm. Er konnte fühlte, wie ihre Finger bebten.

In der Grotte von Dun Gao kratzte er am Felsen, sammelte so ein wenig Kreidestaub auf, den er in ein Stück Zeitungspapier wickelte. "Das ist für dich", sagte er zu Huyen, "Nimm es mit nach Amerika." "Und was soll ich damit machen?" "Man sagt, daß es demjenigen, der dieses Pulver hat, an nichts mehr mangeln wird."

Fragment aus einem Brief

"Mein Vater hat uns erklärt, daß unsere Familie aus Vietnam geflohen ist, aber nicht aus wirtschaftlichen Gründen. Mein Vater brauchte die Freiheit. Der Weg, der zur Freiheit führte, barg aber so große Gefahren, daß wir sie auch mit aller Kraft kaum bewältigen konnten."

*

Es war dunkel. Kalter Tau senke sich herab. Ein Pferdefuhrwerk brachte Huyens Familie zur Grenze. Ihre Mutter flüsterte: "Und wenn sie nicht da sind?" "Sei ruhig", sagte der Vater Huyens zu ihr, "Es ist ausgeschlossen, daß sie nicht zum Treffpunkt kommen. Ich habe ihnen 600 Gramm Gold gegeben und noch mal so viel versprochen, wenn wir die Grenze passieren." Sie waren insgesamt acht, der Vater, die Mutter und die sechs Kinder. Der vereinbarte Preis für jede Person war 150 Gramm Gold. An der Grenze würde ein Auto warten und sie nach Thailand bringen. Huyens Onkel wartete dort auf sie. Der Onkel arbeitete in Amerika. Er war extra aus San Francisco gekommen. um ihre Reise in die Vereinigten Staaten zu organisieren.

Im Innern des Wagens döste Huyen vor sich hin. Die Nacht war hell, der Himmel voller Sterne. Man konnte das Sternbild des Gottes der Landwirtschaft sehen, und, weiter weg, das Gau Song-Sternbild3.

Bericht eines "boat people"

"Als wir etwa sechs Meilen von der vietnamesischen Küste entfernt waren, hatte unser Boot eine Panne. An Bord brach Panik aus. Wir haben versucht, den Motor wieder in Gang zu bringen, aber alle unsere Anstrengungen waren vergebens. Am nächsten Tag wurden wir von Piraten angegriffen. Zuerst mußten alle Männer antreten. Dann haben sie Lösegeld verlangt. Wer das verweigerte, wurde sofort erschlagen. Dann haben sie die Frauen vergewaltigt. Alle kamen dran, sogar elfjährige Mädchen. Viele Leute haben sich umgebracht, indem sie sich ins Meer stürzten. Die Piraten ließen uns in einer schrecklichen Lage: Wir hatten keine Lebensmittel mehr, nicht einmal Trinkwasser. Dann kam noch ein Sturm, der das Boot vollends zerstörte. Ich habe drei Leichen zusammengebunden und als Rettungsring benutzt. Ich trieb mitten im Ozean herum. Über meinem Kopf war der Himmel voller Sterne. Ich sah das Sternzeichen des Landwirtschaftsgottes und schwamm in seine Richtung. Am Ende hat ein Fischerboot mich gerettet. Als sie mich herausfischten, stand das Gau Song-Sternbild genau über mir."

Fragment aus einem Brief

"An der Grenzübergangsstelle gab es einen widerlichen Handel über den Preis unserer Ausreise. Unsere Führer (später erfuhr ich, daß sie alle Rowdys, Diebe und Schmuggler waren) konnten sich nicht über den vereinbarten Preis einigen, also 1200 Gramm Gold für acht Personen. Unsere Familie wurde ins Elend gestoßen. Alles, was wir besaßen, mußten wir hergeben. Schlimmer noch: Auf der Liste Da stand nur der Name meines Vaters und der sechs Kinder. Das hatten sie bewußt gemacht, um meine Mutter dazubehalten. Das unermeßliche Opfer meiner Mutter machte aus meinem Vater einen anderen Menschen, seit er in Amerika lebt ... Mein Vater ist sehr einsam. Vor seinen Augen wurde meine Mutter vergewaltigt. Er mußte sich entscheiden zwischen diesem Opfer, das meine Mutter brachte, und unser aller Freiheit."

*

Er sang:

    O zärtliche Mutter!
    Rechtzeitig bist du gekommen
    Der Sumpfvogel blutet, Tropfen num Tropfen
    hinter der Bergkette im Nebel

Huyen sagte: "Hör auf zu singen, ich bitte dich. Dein Lied bricht mir das Herz." Er sagte: "Die Huong-Pagode ist eine der berühmtesten Sehenswürdigkeiten. Schade, daß diejenigen, die herkommen, sich nicht einfach ihrem Freizeitvergnügen hingeben können. Was hast du gefühlt, als du das Wasser der Giai Oan-Pagode4 getrunken hast?" Huyen lachte: "Ich fror".

Sie saßen auf einer steinernen Bank, in einem öffentlichen Park. Die hohen Straßenlaternen verbreiteten strahlendes Licht. Vor ihnen, nur einige Meter entfernt, liebte sich ein Paar. Der Mann besorgte es ihr, indem er sich hochreckte wie ein Hahn.. Huyen sagte: "Sie stören mich." "Gehen wir weg", sagte er und half ihr auf.

Sie spazierten die Straße lang. Ein leichter Blumenduft erfüllte die nächtliche Luft. Es waren keine sua-Blumen5, denn diese Blumen verbreiten einen charakteristischen Gestank. Und doch haben fast alle Dichter den Duft der Alstonia besungen! Er brach in ein Lachen aus. Huyen lachte mit: "Was bringt dich zum Lachen?" Er sagte mit mürrischer Stimme: "Bei uns haben Schriftsteller die schlechte Gewohnheit, Gestank als Wohlgeruch zu preisen."

Fragment aus dem Notizbuch eines Schriftstellers

"Es scheint, daß die Arbeit des Schriftstellers darin besteht, Überzeugungen und Vorbehalte der Menschen darzustellen. Wenn der Mensch ignorant ist, spricht der Schriftsteller von Intelligenz, von Weisheit. Wenn der Mensch übertrieben intelligent wird, übertrieben weise, dann wird ihn der Schriftsteller zum Träumen animieren. Wenn der Mensch die Neigung hat, Böses zu tun, wird der Schriftsteller das Gute besingen. Wenn sich jemand der Onanie hingibt, wird ihn der Schriftsteller zu gesunderen Liebespraktiken anhalten. Wenn er dagegen der Unzucht verfällt, wird der Schriftsteller ihm den engen Rahmen der Moral entgegenstellen (jeder moralische Rahmen ist eng). … So ist der Schriftsteller in jedem Fall der Gegenstrom und deshalb zieht er sich ständig Ärger zu. Er ist derjenige, der für die Menschen seine Fantasie entfaltet. Dem Wesen nach ist der Schriftsteller sanftmütig Aber so sehr man auch versucht, dem Sanftmütigen die Flügel zu stutzen, er beugt sich nicht. Denn er liebt die Freiheit. Aber keine Schmach zu dulden, ist in Wirklichkeit ein Handicap. Indessen sollten wir kaltes Blut bewahren: Ähnlich wie bei der Moral richten die leidgeplagten Menschen in ihrer Suche nach wahrer Freiheit ihren Blick auf harte Lebensumstände und politische Machenschaften."

*

Huyen sagte: "Sing mir noch ein Lied, aber nicht das von der Mutter." Sie gingen eine einsame Straße entlang. Hanoi ist wunderschön in der Nacht. Von ferne tönte eine Musik. Huyen nahm seinen Arm, lehnte ihren Kopf an seine Brust. Ihre Haare rochen gut nach Chanel.

Er sang:

    Um die Welt zu verbessern
    um die Menschen zu verbessern
    ist es wichtig, nicht engherzig zu sein.
    Sei nachsichtig mit mir, Bruder
    sei nachsichtig mit mir, Schwester
    und du, kleiner Bruder, sei nachsichtig
    mit meinem Gesicht ohne Schönheit
    mit meinem hinkenden Gang
    Denn ich habe viele Fehler…

Huyen sagte: "Ich mag dieses Lied nicht, es ist ein wenig demagogisch." Er lachte, versöhnlich. Sie lenkten ihre Schritte zum Guom-See hin. Von ihrem Standort aus schien der See und seine Ufer tief unten zu liegen wie in einer Schlucht

Von der The Huc-Brücke her kam eine Gruppe von Männern auf sie zu, einen Sack in der Hand und auf der Schulter einige Holzbretter. Es waren Bauern auf der Suche nach Gold. Er zog Huyen in einen Hauseingang, um ihnen auszuweichen. Huyen sagte: "Sie scheinen sich sehr zu amüsieren. Werden sie noch weit so gehen?" Einer der Goldsucher scherzte: "Sehr weit! Bis zum Grund der Hölle! Möchte die junge Dame mit uns gehen?" Huyen lachte und streckte ihren Arm in ihre Richtung aus. "Okay" rutschte ihr heraus. Die Goldsucher riefen ihr nach: "Okay, okay." Ihre Rufe brachen das Schweigen der Nacht.

Im Jahre 1860, als Thomas Quickly seine erste Goldader in einem verlassenen Tal entdeckte, am Fuß der Berge, wo die Rothäute des Yahi-Stammes lebten, stieß er denselben Schrei aus: "Okay, okay." Im Jahre 1872, als der Name des Yahi-Stammes von der Landkarte Amerikas gestrichen wurde, wurde Thompson Quickly zu einem der angesehensten Landbesitzer der Region. Im Jahre 1916, als der letzte Vertreter des Stammes der Yahi starb, war die Firma Thompson Quickly in ganz Nordamerika berühmt. Drei Viertel der Männer, die für die Quickly-Werke arbeiteten, waren Schwarze. John Quickly, der Enkel von Thompson Quickly, erbte von seinem Großvater alles. Er ist Bankier und Dichter. Der Dichter John Quickly verwaltet ein Vermögen von -zig Millionen Dollar.

Fragment aus einem Brief

"Sehr geehrter Herr, erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß die vietnamesischen Sozialwissenschaften, nach meinem Eindruck und im Ganzen betrachtet, nichts weiter sind als, mit Verlaub, Sophismen, in denen der humanistische Geist wie in einem Sumpf herumwatet, der seinerseits durch die Macht der Phantasie die Neigung der Poeten zum Träumen verstärkt. Sie haben keinerlei Beziehung zur Politik oder zur Wirtschaft. Der Intellektuelle hat nicht die Fähigkeit, politische Aktivitäten durchzuführen, und schon gar nicht, in irgendeinem sozialen oder wirtschaftlichen Sektor Leitungsfunktionen zu übernehmen, Sektoren, in denen er nicht nur ineffektiv, sondern sogar gefährlich ist. Wer sich da hineinbegibt, ist eine Kanaille, ein Betrüger, oder bestenfalls ein Kleinbürger… Seine humanistischen Motive werden nur die Gemüter verderben. Ich bin sehr überrascht, daß es Leute gibt, die die Geschichte der Au Co analysieren und auch die von Lac Long Quan6, nicht, um daraus Gedanken abzuleiten, die geeignet wären, die Moral des Volkes zu festigen, sondern um sich über den humanistischen Plunder aufzuregen, den sie dort finden. Wenn man nichts anderes zu essen hat als gesalzene Auberginen, dann ist es unsinnig zu glauben, man könne, mit einem Sprung, ein mächtiges Land werden. Die Ungeduld und die Furcht vor der Vernunft sind die Früchte des Sophismus der vulgären Humanisten. Der humanistische Geist macht sich in der Regel bei einsamen Talenten bemerkbar, spontan und am Rande der Gesellschaft, und er rührt deshalb auf, was es an Tiefstem in jedem von uns gibt. Darin liegt ihre Fähigkeit zur Faszination. Der wahrhafte Humanismus begegnet uns nur bei den genialen Menschen, den großen Persönlichkeiten, bei denen, die ihre Ideen um den Preis ihres Leben zu verteidigen wissen. Der wahrhafte Humanist findet immer in sich selbst genügend Kraft, um auch anderen zu Hilfe zu kommen. Dagegen bringt der Sophismus der Dorfhumanisten oder der Pseudo-Intellektuellen nur den Zweifel in die Köpfe des Volkes und bewirkt, daß es seinen Glauben verliert. Glauben ist hier zu verstehen als das, was zur Wahrheit führt. Eine korrekte Konzeption der Sozialwissenschaften muß die Persönlichkeit des Intellektuellen einkalkulieren. Denn das Ziel muß sein, das Volk in Richtung einer fortschrittlichen Politik zu führen…"

*

Er seufzte. Huyen sagte: "Warum bist du so traurig?" "Weißt du, ich fühle ein ständiges Unbehagen. Als sei ich von einer Art Fieber befallen." Huyen schob ihre Hand unter sein Hemd: "Dein Herz schlägt zu schnell, Setz dich mal hin." Sie setzten sich auf eine Stufe der Freitreppe zum Opernhaus. Er zündete eine Zigarette an. Huyen ebenfalls. Es war elf Uhr abends. Die Uhr des Postamts schlug elf mal. Ein schwarzer Wolga fuhr an ihnen vorbei. Er erhob sich, winkte mit dem Arm: "Onkel Vinh!" Sein Onkel saß in dem Wagen. Er kam von eine offiziellen Essen des Außenministeriums.

Fragment aus einem Brief

"Ich bewundere und respektiere meinen Onkel sehr. Außer einige Sonderlichkeiten und seiner ein wenig rüden Art, sich in der Gesellschaft zu verhalten (eben wie in der Politik auf hohem Niveau), ist er jemand, der sehr gütig ist, einer, der das Leben kennt und die Welt gesehen hat. Die Geschichten, die er erzählt, sind immer einfach, erdverbunden und bedeutungsvoll. Natürlich, wenn ich Vorsteher einer Gemeinde wäre zum Beispiel oder Bürgermeister eines Dorfes, dann könnte ich sicherlich seine Gerechtigkeit und all das Gute, was er der Gesellschaft tut, nicht würdigen. Na ja, wie ich ihn heute sehe, scheinen ihm einige Qualitäten und vor allem ein Ideal im Leben zu fehlen. Er ist überarbeitet, er findet nicht mehr die Zeit, über die Bedürfnisse unseres Volkes nachzudenken."

*

Onkel Vinh sagte: "Ihr Jungen heutzutage, ihr habt kein Ideal mehr. Das beschäftigt und bedrückt mich." Er brach in Lachen aus. "Lieber Onkel, sei nicht traurig und sorge dich nicht. Natürlich haben wir ein Ideal. Wie könnten wir sonst weiterleben?" "Du bist unverschämt!" warf Tante Vinh empört ein. "Dummer Junge, du! Hast du schon vergessen, wem du das alles verdankst?" Er sagte: "Nein, Tante" "Dann sei still" sagte Tante Vinh. "Mal langsam, rede dich nicht in Zorn", sagte Onkel Vinh zu seiner Frau. "Die Jungen von heute sind nicht wie die von damals. Und nun sag mir: welches ist dein Ideal?" Er schaute auf Tante Vinh und bemerkte, daß sie ihn mit aufgerissenen Augen ansah. Er sagte: "Mein Onkel, wenn du willst daß ich ehrlich antworte, möchte ich das lieber nicht im Beisein meiner Tante tun." Tante Vinh schnellte hoch, als habe sie auf einer Sprungfeder gesessen: "Aha, so sind sie also, die Kinder heutzutage! Man zieht sie auf, man umsorgt sie, und sie, sie nehmen keine Rücksicht auf uns! Sag nur, daß die Erziehung durch deine Tante nichts wert ist! Sag nur, daß sie zu dumm ist für dich!" "Aber nein, Tante. Ich liebe dich und bin dir sehr dankbar… Aber dies ist eine Sache zwischen meinem Onkel und mir… Ich möchte mit ihm anders reden, nicht wie ein dankbarer Neffe." Onkel Vinh sagte lächelnd: "Sei nicht so feierlich… Und du, gehe ein wenig nach oben… Mein Neffe und ich möchten und ein wenig unter uns austauschen…." Tante Vinh warf das Hemd und das Garnknäuel, das sie in der Hand hatte, zu Boden und verließ das Zimmer, nicht ohne auf dem Weg gegen ein paar Möbel zu stoßen. "Unter uns…" brummelte sie vor sich hin. Er schloß die Augen: "Vor zwanzig Jahren war Tante Vinh nicht so dick… Und sie geriet niemals in Zorn".

"Gut, ich höre dir zu…" sagte Onkel Vinh, nachdem seine Frau weg war. Er schäkerte: "Die Ehre ist ganz meinerseits, Onkel. Sag mir, was ist dein Ideal?" Onkel Vinh lächelte. Er wußte, daß sein Onkel so seinen Ärger überwinden wollte. Im Außerministerium war er bekannt für seine Schlagfertigkeit und seine Fähigkeit, die Dialektik anzuwenden. Er kannte alle Kniffe und Spitzfindigkeiten und verlor nie sein Lächeln.

Onkel Vinh nahm einen Bleistift vom Tisch und zeichnete einen Stern auf ein Blatt Papier.

Er sagte: "Das soll meine Behauptung illustrieren: Der Mensch hat immer ein Ziel". Er schaute auf das Blatt und sagte: "Ich sehe. Wir steuern auch ein Ziel an." Er zeichnete eine Leiter, die zu dem Stern führte. "Außer daß wir konkreter sind", fügte er hinzu. "Wir wollen auch zu den Sternen, wie ihr, aber Sprosse für Sprosse." Onkel Vinh lächelte: "Übrigens könntest du mir eines deiner Lieder singen, so wie damals, als wir noch auf dem Lande lebten."

Er sang:

    Und alles ging vorüber
    die Grundschule, der ausgetretene Pfad
    Vorbei der Tag des ersten Lohns
    die Jugend, heftig und arm
    der erste Malaria-Anfall
    Und du, du bist in mein Leben eingetreten
    Und ich bin dir verfallen
    Sie ist schwer
    die Last der Tugend
    Weiter, geben wir nach, wenn es sein muß
    Gibt es etwas anderes für eine mannhafte Seele?
    Die Tage vergehen, einer nach dem anderen
    Jeden Tag ein neuer Sieger
    Jeden Tag ein neuer Millionär
    Bald wird das Land reich sein
    Alles vergeht
    Bleibt nur dieser Stern.
    der glänzt auf dem Grund deiner Augen, meine unbekannte Liebe.

Onkel Vinh sagte: "Hast du das jetzt gerade improvisiert?" Er schlug auf die Saiten seiner Gitarre und sagte lächelnd: "Ja. Die Lieder kommen mir einfach so zum Spaß, ohne tieferen Sinn." Onkel Vinh zog ihm die Ohren lang: "Sing nicht zu oft, mein Neffe!" Und dann, nachdenklich: "Vielleicht wird es eines Tages genug Lieder geben, um jedem von uns eines zum Tag seiner Beerdigung zu singen?" Er sagte: "Für die Rothäute vom Stamm der Yahi gab es keine Lieder zur Beerdigung."

Er sang:

    Morgen, wenn ich sterbe
    Wird da der Himmel noch blauer sein?
    und die Sonne wärmer?
    Wer wird tanzen
    Wer wird weinen
    an meinem Grab?
    Du, meine Liebe
    Du wirst so beschäftigt sein,
    du wirst nicht die Zeit haben an mich zu denken
    Du wirst mich vergessen
    So ist das Leben
    Man weint am ersten Tag, auch noch am zweiten
    Am dritten hat man keine Tränen mehr
    Hinter der Bergkette im Nebel
    stößt der Sumpfvogel seinen schrillen Schrei aus
    Der Vogel blutet, Tropfen für Tropfen
    Der Himmel wird nicht blauer sein
    die Sonne nicht wärmer
    Aber die grünen Kräuter wachsen
    Ein einziger Regen und mein Grab wird von ihm bedeckt sein.

Huyen sagte: "Küß mich, bitte". Er drückte sie an sich, küßte sie auf den Mund. Seine heißen Lippen schmeckten nach Salz. Seine Zungenspitze glitt um ihren ganzen Mund herum. Huyen stieß ihn zurück: "Mein Flugzeug geht morgen früh. In drei Tagen werde ich in Amerika sein, in San Francisco." Er fragte sie mit trauriger Stimme: "Werden die Vietnamesen in Amerika verachtet?" "Ja." Er sagte: "Der Vietnamese wird verachtet, wo immer er hingeht." "Ja" sagte Huyen und weinte leise.

Fragment aus einem Brief

"Sehr geehrter Herr, nur wenn wir inmitten unseres Volkes leben, in unserem Vaterland, können wir uns als freie Menschen fühlen, die niemand verachtet. Glücklich in der Heimat zu leben, das ist das reinste, die legitimste Bedürfnis des Menschen."

*

Er lachte schmerzvoll. Ein Gruppe kleiner Bettler umgab ihn, die Hände ausgestreckt. Er ging lässig über die Straße. "Die Vietnamesen werden überall verachtet, sei es in Amerika, in Frankreich, in Kanada, oder in der Sowjetunion… Egal, ob sie Arbeiter, Ärzte, Ingenieure oder Künstler sind. Sie können Glück nur auf vietnamesischem Boden finden, in ihrer Heimat."

Eine Gruppe Goldsucher kam vorbei. Das sind glückliche Leute. Strahlten sie nicht übers ganze Gesicht?

Ein Liebespaar kam vorbei. Das junge Mädchen war ganz bleich, der Junge verwirrt, verlegen. Auch sie waren glücklich.

Eine Gruppe von besorgten Funktionären kam vorbei. Auch sie waren glücklich.

Mehrere Menschen standen auf dem Bürgersteig, die sich um die Tageszeitung scharten. Auch sie waren glücklich.

Er warf einen Blick über ihre Schultern und las die Schlagzeile des Tages: "Vietnam ist die Wiege der Bewässerungslandwirtschaft." Er prustete vor Lachen: "Das ist mal ein geniales Ergebnis der Sozialforschung!" Sie werden es eilig verbreiten. Da haben wir ein Beispiel glücklicher Sozialforschung!

Eine Gruppe Frauen in Gaze-Schleiern ging zur Pagode. Auch sie waren glücklich.

Er fühlte sich fast fröhlich. Er dachte überhaupt nicht mehr an Huyen. Sie mußte jetzt in Amerika sein. In San Francisco.

Er trällerte:

    Dieser Tag geht vorbei
    Das Gesindel wird schließlich sterben
    So wie die ehrenwerten Männer, die nicht aufpassen
    Wir haben so viele Zivilisationen durchgemacht
    Die Lieder werden sterben
    und die Zivilisationen mit ihnen
    Und weil es keine Lieder mehr gibt
    Wird es keine Beerdigungszeremonien mehr geben
    Die Lieder sterben an der Straßenecke
    auf fremdem Boden

Ein Lastwagen fuhr vorbei. Er fiel. Schrille Bremsengeräusche. Der Fahrer, bestürzt, stieg aus seiner Kabine. Eine Ansammlung von Neugierigen bildete einen Kreis um ihn herum. Er lag da, mit dem Gesicht auf dem Boden, in derselben Haltung wie die letzte Rothaut vom Stamm der Yahi.

An diesem Tag meldete die Zeitung den Tod eines jungen Mannes, Opfer eines Verkehrsunfalls. Wer würde auch schreiben, es sei jemand gestorben als Opfer eines Liedes?

Sogar ich selbst, der Erzähler dieser Geschichte, hätte Schwierigkeiten, zu behaupten, man könne in Vietnam an Liedern sterben. An vergänglichen Liedern…

Anmerkungen (der Übersetzer):
1 Bällchenförmige gezuckerte Kuchen aus Reismehl, die in kochendem Wasser gegart werden.
2 Das Mädchen Kieu: Heldin des berühmten vietnamesischen Romans von Nguyen Du aus dem 18. Jahrhundert.
3 Sternbild in Form eines Schöpfeimers mit langem Griff
4 Pagode der Befreiung vom Bösen
5 wörtl. Milchblume; Alstonia, eine Heilpflanze
6 Man erzählt, der König Lac Long Quan (um 2.000 vor Chr.) habe Au Co geheiratet, eine Unsterbliche, die ihm hundert Kinder gebar. Fünfzig von ihnen folgten der Mutter in die Berge; fünfzig stiegen mit ihrem Vater herab zum Meer von Nam Hai; so wurde das heutige Vietnam begründet.

Quelle:
Nguyen Huy Thiep: Nhung Bai Hat [Lieder],
in: Tac Pham Va Du Luan [Prosa und Essays], Hanoi 1990,
übersetzt von Günter Giesenfeld und Marianne Ngo

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 1/2008

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