Nguyen Van Cuong: Früher Morgen, Öl, 2000
    Das
    Mädchen
    von
    der
    Straße



    Erzählung von Nguyen Cam Huong

Aufgeregt und nervös stellte er fest, daß es nur noch etwa 10 Kilometer bis zu seinem Heimatort waren. Ein Kilometer nach dem anderen flog vorbei, als ob das Auto einem Paradies entgegenraste. Er seufzte nur leise, um die Frau, die an seiner Schulter lehnte, nicht aufzuwecken. Aufmerksam schaute er aus dem Fenster und sah die bekannten Ortsnamen schnell vorbeiziehen.

Er saß aufrecht, wie vor einer jener Versammlungen, ein lang vergessenes Gefühl. Viele dieser Meetings fanden zum Jahresende statt, und es wurden im Rückblick Einschätzungen der Ergebnisse vorgenommen, die Atmosphäre war immer angespannt. Obwohl man ihn oft gelobt hatte, hatte er immer ängstlich auf das Wort „aber“ gewartet, als Zeichen dafür, daß etwas nicht reibungslos abgelaufen war. Wie das Sprichwort sagt, wenn der Schuh paßt, dann schlüpfe hinein. Er hatte sich nie etwas zuschulden kommen lassen, und dennoch war er in solchen Momenten immer erschrocken. Er lächelte, als er sich dieses wunderbare Gefühl ins Gedächtnis rief, dieses Bewußtsein, während seiner gesamten Zeit in leitenden Funktionen nie etwas Unrechtes getan zu haben. Keine Unterschlagung, keine Vergeudung von Mitteln, keine Maitressen, keine Schmiergelder. Andererseits war es ohne heimlich zugesteckte Kuverts für seine Familie schwierig, sich aus ihrer tiefen Armut emporzuarbeiten. Daß er ein großes Haus und ein finanzielles Polster hätte erwerben können, wurde ihm schmerzlich bewußt, als kurz nach seiner Pensionierung als Staatsbeamter seine Frau plötzlich erkrankte und starb. Ja, das Begräbnis war ein feierliches Ereignis gewesen und viele Honoratioren waren gekommen, um seiner Frau die letzte Ehre zu erweisen. Er war nicht einsam wie manche andere pensionierte höhere Beamte. Sogar einige der jüngeren Mitarbeiter hatten ihr Bedauern geäußert: „So ein guter Vorgesetzter wie er ist heutzutage sehr selten.“

Er atmete tief ein und setzte sich aufrecht. In wenigen Minuten würde er zu Hause sein. Er würde sich dem Zorn seines Sohnes stellen müssen, und das würde äußerst unangenehm sein. Sein Sohn glich ihm von Kopf bis Fuß, als sei er nach seinem Muster geschaffen worden. Gut ausgebildet, hatte er eine steile Karriere gemacht. Mit gerade 30 Jahren war er schon Ressortleiter in einer wichtigen Presseagentur der Provinz. Und da war der Posten des stellvertretenden Chefredakteurs durchaus in Reichweite. Vater und Sohn waren immer gut miteinander ausgekommen. Gewöhnlich setzten sie sich nach dem Essen zusammen, um Neuigkeiten auszutauschen. Die Auffassungen seines Sohnes war genauso unbestechlich wie seine eigenen. Diese Geradlinigkeit, die seinen Sohn bei jedem Schritt seines Weges geleitet hatte, die würde sich jetzt wohl als Zorn gegen den Vater richten.

Die Frau schlief fest. Sie schien sich jetzt wohlzufühlen, nachdem sie einen Mann gefunden hatte, dem sie trauen konnte. Seine Schulter tat weh, aber er wagte nicht, sich zu rühren. Der Schaffner fragte ihn: „Wo möchten Sie aussteigen? Machen Sie sich fertig, denn wir können nicht lang anhalten.“

Er antwortete nicht, denn er mußte daran denken, was der Schaffner zu ihm gesagt hatte beim Einsteigen: „Setzen Sie sich hierher, damit Ihnen nicht schlecht wird. Ihre Tochter kann ja hinter Ihnen Platz nehmen.“

Er hatte den angebotenen Sitzplatz ausgeschlagen und seine „Tochter“ mit sich auf den Rücksitz gezogen. Ganz bestimmt würde er diesen für Ältere vorgesehenen Sitzplatz nicht einnehmen. Er war kaum über 60 und sah viel jünger aus. Zu seiner Pensionierung hatte es keine Abschiedsparty gegeben, und seither fühlte er sich viel stärker. Er mußte nicht mehr in aller Frühe aufstehen und bis spät in die Nacht auf bleiben, und er stand nicht mehr unter Stress. Deshalb sah er jetzt aus wie das blühende Leben. An den Nachmittagen spielte er mit einigen alten Nachbarn Badminton im öffentlichen Park am Ende der Straße. Während des Spiels konnte er nach Herzenslust lachen und fluchen. Er fand sein Leben lebenswert, nicht so enttäuschend und niederdrückend wie vor seiner Pensionierung.

Seither hatte er auch großen Gefallen am Internet gefunden. Sein Sohn, der sein brennendes Interesse an Informationen kannte, hatte ihm nach seiner Pensionierung eine Menge Zeitungen und Zeitschriften mit nach Hause gebracht und ihm dann einen Computer geschenkt. Daraufhin hatte er seine Tage damit verbracht, sich einzuarbeiten, und in kurzer Zeit war er in der Lage, im Web zu surfen. War er allein, schaute er sich alles an, von Nachrichten über Unterhaltung bis hin zu verpönten Seiten. Er tauchte förmlich ein in diese unanständigen Seiten. Wie schön diese Frauenkörper waren! Diese Kurven, diese Einladungen zur Lust, das alles hatte tief in ihm etwas aufgewühlt, das während seiner Zeit als Führungskraft tief verschüttet gewesen war. Nun war es aufgebrochen und bedrängte ihn. Immer wenn er vom Computer aufstand, fühlte er sich unbehaglich und aufgekratzt, wie jemand, der hungrig ist und nicht weiß, was er essen soll. Bald begann er an Schlaflosigkeit zu leiden.

Sein immer beschäftigter Sohn hatte zu wenig Zeit, um dem Problem seines Vaters die gehörige Aufmerksamkeit zu widmen. Aber als seine Agentur eine Tour nach Mong Cai organisierte, mit der auch ein mehrtägiger Aufenthalt in China verbunden war, hatte er diese Reise seinem Vater angeboten, und der hatte die Einladung angenommen in der Hoffnung, die Atmosphäre zu entspannen.

Auf dieser Reise hatte er sich in einem beliebten Restaurant in einer der chinesischen Grenzstädte die Hände waschen wollen und war von der Bedienung zur Toilette hinter der Küche gewiesen worden. Dort hatte ihm plötzlich eine junge Küchenhilfe in sehr gutem Vietnamesisch zugerufen: „Bitte, Onkel, kommen Sie hier herüber zum Händewaschen!“. Völlig überrascht, seine Muttersprache zu hören, vergaß er, sich zu bedanken. Das Mädchen gab ihm ein weißes Handtuch zum Abtrocknen.

„Sind Sie Vietnamesin?“

„Ja.“

„Sind Sie hier … verheiratet?“

„Ja.“

Als er sie weiter ausfragen wollte, rückte sie plötzlich nahe an ihn heran und flüsterte:

„Onkel, bitte helfen Sie mir! Ich bin hierher verkauft worden und konnte glücklicherweise fliehen und in dieses Restaurant entkommen. Ich traue mich nicht hinaus auf die Straße. Bitte nehmen Sie mich mit zurück nach Vietnam!“

Das Mädchen hatte Glück, er war der Mann, der bereit war, ihr zu helfen. Nach einer Schrecksekunde entschied er:

„Gut. Ich werde mit dem Restaurantbesitzer sprechen und einen Weg finden, um Sie mit nach Hause zu nehmen."

Er holte das Einverständnis der anderen Reiseteilnehmer ein, das Mädchen mitzunehmen, und verhandelte dann mit dem Restaurantbesitzer, sie ziehen zu lassen.

Es gab einige Schwierigkeiten an der Grenze, aber dank seines Verhandlungsgeschicks konnte das Mädchen, oder besser die Frau, zusammen mit der Gruppe nach Hause reisen. In Hanoi angekommen, stieg die Gruppe für eine Nacht im gebuchten Hotel ab. Bei dieser Gelegenheit hätte er sich von der Frau verabschieden können, aber es war sehr spät, und sie hätte um diese Zeit nirgendwo mehr unterkommen können.

„Sie können mit uns hier übernachten und morgen nach Thai Binh weiterreisen. Wäre das in Ordnung?“

Sie willigte ein.

Am nächsten Morgen, als er gerade im Begriff war, mit seinem Koffer in das Auto einzusteigen, zögerte er plötzlich, trat zurück und sagte zu dem Delegationsleiter:

„Fahren Sie ruhig weiter. Ich möchte noch einige alte Freunde besuchen.“

Der wahre Grund war das traurige, niedergeschlagene Gesicht der Frau, die ihm zum Abschied winkte. Es ist meine Pflicht, sie nach Hause zu bringen, dachte er. Als er sich von den anderen Reiseteilnehmern verabschiedete, flüsterte einer ihm zu:

„Seien Sie vorsichtig, Sie wissen ja, sie ist vielleicht nur ein leichtes Mädchen von der Straße!“

Das Blut stieg ihm zu Kopf, als er das hörte. Was nahm der sich heraus! Er ging zu der Frau.

„Beeilen Sie sich! Stehen Sie hier nicht so mißmutig herum! Ich bringe Sie nach Hause!“, sagte er ärgerlich.

„Bitte, ich kann jetzt nicht nach Hause. Ich muß hier bleiben und mir Arbeit suchen. Ich war lange von zu Hause weg. Ohne ein bißchen Geld kann ich da nicht hin!“

„Was stellen Sie sich denn vor? Denken Sie, es ist so leicht, hier einen Job zu finden? Ich habe eine Idee: Ich habe viele Kontakte, ich kann Ihnen helfen, eine einfache Arbeit zu finden. Das dürfte nicht allzu schwierig sein.“

So nahm er noch die lästige Pflicht auf sich, der Frau einen Job zu verschaffen. Er suchte frühere Arbeitskollegen auf, und viele versprachen, die Frau einzustellen, aber letztendlich waren das leere Versprechungen. Er bemühte sich weiter bis zum Einbruch der Nacht, dann kehrte er entmutigt zu ihr zurück. Er war tief bekümmert, doch er wußte, daß er sich die ganzen Schwierigkeiten selbst eingebrockt hatte. Er hätte längst zu Hause im Kreis seiner Lieben sein können. Doch es genügte ein Blick in das traurige Gesicht des Mädchens, und er war erneut voller Mitgefühl.

„Keine Angst! Ich nehme Sie mit in meine Heimatstadt und versuche, dort eine Arbeit für Sie zu finden“, sagte er und zerrte seinen Koffer aus dem Zimmer.

„Wo wollen Sie hin? Sie können doch hier bleiben. Hier stehen zwei Betten, da gibt es kein Problem. Ich betrachte Sie als … meinen Vater.“

Er schätzte sie auf ein paar Jahre jünger als seinen Sohn, somit gab es wirklich kein Problem. Ein weiteres Zimmer würde nur zusätzliche Kosten bedeuten.

Er ging ins Bad und duschte. Als er in seinem seidenen Pyjama aus dem Badezimmer kam, sah er gesund und wie ein Gentleman aus. Das Mädchen lag auf dem zweiten Bett.

„Nehmen Sie ein Bad. Machen Sie sich keine Sorgen. Morgen sehen wir weiter.“, beruhigte er sie.

Er ließ das Moskitonetz herunter und legte sich zufrieden hin. Die Frau verbrachte geraume Zeit im Badezimmer. Er begann sich Sorgen zu machen und wollte gerade nach ihr rufen, als plötzlich ein Duft nach Toilettenseife durch das Zimmer zog, ein Schatten an seinem Bett vorbeieilte und das Licht ausgeschaltet wurde.

Es war dunkel im Zimmer, dennoch konnte er die Umrisse ihres auf dem Bett ausgestreckten Körpers erkennen. Sie lag mit dem Rücken zu ihm, und der Anblick ihres Körpers erregte ihn. Es war wie ein magischer Vorgang. Er begann, schwer zu atmen. Seine Begierde war erwacht. Ohne Zögern stieg er aus seinem Bett und ging hinüber zu ihr. Er fühlte in seinem Inneren etwas wie die Lava eines Vulkans, die, tausende von Jahren angestaut, nun ausbrach. Nachdem der Lavastrom zu Kohle herabgebrannt war, lag er da und war sich plötzlich bewusst, daß sie sich nicht gewehrt hatte. Oder hatte sie sich einfach dankbar erweisen wollen? Das fragte er sich, aber nein, sie war ihm doch ganz deutlich entgegengekommen. Er wußte, daß das der beste Liebesakt gewesen war, den er jemals erlebt hatte. Er hatte sehr lange mit seiner Frau zusammengelebt und seine ehelichen Pflichten erfüllt, nicht mehr. Er drehte sich zu der Frau hin und barg seinen schweißnassen Kopf an ihren warmen Brüsten.

„Bist du mir böse? Wenn ja, tut es mir leid.“

Als Antwort schmiegte sie sich eng an ihn und benetzte seine Brust mit Tränen.

„Was ist denn? Weinst du? Habe ich etwas gemacht...?“

„Nein, nichts. Ich bin nur so sehr glücklich. Weißt du, die zwei Jahre, die ich mit meinem sogenannten Ehemann in China verbringen mußte, waren eine Qual. Er war impotent und quälte mich Nacht für Nacht. Er bedrängte mich mit Sex-Spielzeug. Wenn er nicht befriedigt war, gab er mir die Schuld und prügelte mich, bis ich überall blaue Flecken hatte. Seine Familie beschimpfte mich, weil ich nicht schwanger wurde. Ich … ich habe noch nie in meinem Leben so schönen Sex gehabt wie heute Nacht.“

O Gott! War das wahr? Er schob seine Zweifel beiseite. Er nahm es als ein Gottesgeschenk! Plötzlich überwältigte ihn ein schmerzliches Bedauern. Er wußte, er würde nicht mehr sehr lange leben. Aber besser spät als nie. Wenn sie einverstanden war, würde er … Das Nachdenken darüber erregte ihn, so daß er gleich wieder mit ihr schlafen wollte.

***

„Könnten wir bitte hier aussteigen?“

„Ich habe ihnen Bescheid gesagt, aber sie waren nicht fertig. Also bleiben Sie sitzen bis zur Endstation. Nehmen Sie Rücksicht auf uns.“

„Bitte haben Sie Mitleid! Mein Haus ist ganz in der Nähe. Die Endstation ist sehr weit weg.“

Die Frau wachte plötzlich auf und stieg schnell mit ihm aus.

Er hatte sich vieles vorgestellt, was er seinem Sohn beim Zusammentreffen sagen würde. Aber es war seine Schwiegertochter, die die Tür öffnete und ihn anlächelte.

„Das ist Frau Nen. Sie wird mit mir leben“, sagte er mit einem Seufzer und war erleichtert darüber, es gleich laut ausgesprochen zu haben.

Seine Schwiegertochter drehte sich abrupt um und verschwand wortlos in ihrem Zimmer. Als er an ihrer Tür vorbeiging, hörte er sie am Telefon:

„Komm gleich heim. Vater hat eine Frau aufgelesen. Was für ein Vater! In seinen jungen Jahren, war er immer so verantwortungsbewußt, aber auf seine alten Tage ist er verrückt geworden.“

Sein Sohn kam sofort nach Hause und erkundigte sich mit belegter Stimme nach der Chinareise. Der Vater zog seinen Sohn schnell ins Zimmer.

„Ich werde diese Frau heiraten, was sagst du dazu?“

„Ich sage nicht 'nein', nur ...“

„Ich verstehe. Deine Frau hat etwas dagegen, oder? Gut, wir werden getrennt leben.“

„Nein. Es ist nur so, daß ich … ich kann sie doch nicht einfach so als meine Schwiegermutter betrachten.“

Vater und Sohn hatten eine hitzige Auseinandersetzung, die zu nichts führte. Bis zur offiziellen Hochzeit sollte die Frau ein Zimmer unter dem Dach beziehen. Er hoffte, daß sich mit seinem Sohn und seiner Schwiegertochter alles gütlich würde regeln lassen.

Er schlief wie ein Stein und wachte erst im hellen Tageslicht auf. Sogleich dachte er an die Frau und rannte schnell die Treppe hinauf. Die Tür stand offen, und er betrat erschrocken das leere Zimmer. Ein Stück Papier war halb unter das Kopfkissen geschoben:

„Lebe wohl, mein Lieber. Ich gehe, damit du mit deiner Familie glücklich sein kannst. Ich danke dir für alles.“

Er schaute auf seine Uhr. Sie konnte nicht allzu weit gekommen sein, dachte er.

Wenig später erregte eine Ankündigung im Fernsehen Aufsehen und war Anlaß für viele Gerüchte in der Stadt. In der Sendung suchte ein Mann nach seinem Vater. Er bat darum, daß jeder, der etwas wisse über seinen Vater, mit ihm Kontakt aufnehmen möge. Der Mann war der stellvertretende Chefredakteur der größten Zeitung der Provinz.

Quelle: Nguyen Cam Huong: Picking up a wife, in VNS 9.10.2011, Deutsch von Marianne Ngo
nach der englischen Fassung von Manh Chuong

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 3-4/2011

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