Das verlorene
gemütliche Nest


Eine Kurzgeschichte
von Hanh Van

Seit Thuong ihn verlassen hatte, waren genau zwei Jahre, drei Monate und sechzehn Tage vergangen. Das letzte Mal hatte ihr Mann sie am 27. März zu Hause gesehen. An diesem Tag war er so spät aufgestanden, dass er lediglich schnell seine Zähne putzte, sein Gesicht wusch, unrasiert in seine Kleider fuhr und herumnörgelte, weil sie ihn nicht rechtzeitig geweckt hatte. Sie schwieg. Er hatte gerade die Türschwelle erreicht, als sie ihm plötzlich nachlief und ihn fest an sich drückte.

Er fühlte sich unbehaglich, fürchtete, den Termin mit einem seiner ausländischen Geschäftspartner zu versäumen. Wenn er geahnt hätte, dass dies der letzte Augenblick ihrer Liebesbeziehung sein würde, hätte er sich nicht so schnell aus ihrer Umarmung gelöst, selbst wenn er dadurch seine Superchance aufs Spiel gesetzt hätte, einen wichtigen Joint-Venture-Kontrakt abschließen zu können.

Bedauerlicherweise verschwand sie ohne Abschied, ohne Hinweis für ihn, wo er nach ihr suchen könnte. An diesem Abend war er mit seinen besten Freunden ausgegangen, sie tranken, und er kam erst um Mitternacht ziemlich angesäuselt nach Hause. Hoang, einer seiner Freunde auf dieser Party, hatte ihn mehrfach gedrängt, nach Hause zu gehen, aber er lachte nur laut und streichelte das pausbäckige, kokette Mädchen, das sich an ihn schmiegte.

„Ihr armen Gockelhähne von Ehemännern“, erklärte er feierlich mit belegter Stimme, „wie dumm ihr seid, wenn ihr den Heiratsvertrag unterschreibt! Denn was bedeutet diese Unterschrift? Nichts andere als dass eure Ehegattinnen nun das Recht haben, nach Herzenslust eifersüchtig zu sein, hab ich recht?“

„Na klar! Lang lebe die Freiheit! Lang lebe die freie Liebe!“, stimmten die Mädchen mit der zweifelhaften Tugend zu. Die tief ausgeschnittene Bluse seiner Partnerin verwandelte seine Müdigkeit in einen Anfall von Entzückung.

Natürlich wusste er zu der Zeit nichts von ihrem Verschwinden. Er hatte auch vergessen, dass er in vielen Situationen ihre honigweiche Stimme derjenigen solcher reizloser Teenager vorgezogen hatte.

Als er nach Hause kam, wusste er also nicht, dass sie weg war. Er fühlte sich nur ein wenig unbehaglich, als er betrunken ankam und die Haustür aufschloss. Später übermannte ihn ein tiefer Schlummer.

Als er am nächsten Morgen erwacht, fühlte er vage, dass irgend etwas Ungewöhnliches passiert war. Da waren keine leichten Schritte zu hören, keine vertrauten Geräusche drangen aus der Küche, auch nicht das Rauschen der Dusche aus dem Badezimmer. Nichts von alldem!

Er stand auf und ging durch die Wohnung hin und her, auf der Suche nach ihr. Leider war sie nirgendwo zu finden. Er rief sie an, keine Antwort. Er öffnete der Kleiderschrank, alle ihre Sachen waren da. „Wahrscheinlich ist sie ausgegangen und wird in ein paar Minuten wieder da sein.“, sagte er zu sich mit einem Seufzer der Erleichterung.

Ein Tag, eine Woche, ein Monat und schließlich zwei Jahre waren vergangen. Er wartete und wartete, verzweifelt. Wenn sie nur eine kurze Nachricht oder so etwas hinterlassen hätte, wäre er nicht so verwirrt. Er versuchte, den Grund für ihren Weggang herauszufinden. „Eine Entführung? Nein, sowas kommt nicht in Frage.“ Er rief bei den Herausgebern der Zeitschrift Die Familie an, wo sie seit Jahren gearbeitet hatte.

„Sie hat bei unserem Chef einen Antrag gestellt, von ihrer Arbeit befreit zu werden“, antwortete der Mann, den er in der Redaktion traf. „Das müssen Sie doch wissen. Was soll die Frage!“ Er warf ihm einen misstrauischen Blick zu.

„Was für eine Liebesaffaire hast du dir da gegönnt?“, fragte Hoang mit vorwurfsvoller Stimme, „Ihr liebt euch doch so lange schon, und doch kennst du ihre frühere Adresse nicht?“

„Bis jetzt habe ich ein sehr einfaches Leben geführt“, sagte er zu Hoang. „Und meine Vorstellung von Liebe ist ebenfalls sehr einfach. Wenn es uns gelingt, ein harmonisches Leben miteinander zu führen, dann ist das in Ordnung. Was würde da ein Heiratsvertrag ändern? Er würde uns nur eine Menge Ärger machen, in der Zukunft.“

„Aber ist ihre Lebensauffassung wirklich so wie meine?“ flüsterte er bei sich. Tatsächlich hatte er nie etwas über ihr Kindheit erfahren. Auch über eine eventuelle Hochzeit oder darüber, ob ihr erstes Kind ein Junge oder ein Mädchen sein sollte, hatten sie nie gesprochen. Vielleicht wollte sie sich in seine Lieblingsgedanken über die Freiheit nicht einmischen, oder seine heiligen Überzeugungen nicht durch Gespräche über Eheverträge und Hochzeit verletzen, Dinge, von denen die meisten jungen Frauen in diesem Alter träumten.

Jedenfalls fühlt er sich ziemlich wohl in ihrer Art des Zusammenwohnens. Niemals hätte er gedacht, dass so ein juristisches Dokument auch eine wichtige Funktion haben könnte: die Hälfte eines Paares davor abzuhalten, plötzlich und grundlos zu verschwinden, so wie sie es getan hatte.

„Da gab es nichts, was mich an sie gebunden hätte. Warum hätte ich also versuchen sollen, mich um sie zu kümmern?“ fragte er sich. Und doch, er fühlte sich angespannt, wie auf einer Folter. Eigentlich würde er sie gerne treffen und sie fragen, warum sie so heimlich weggelaufen sei. Mehr nicht.

***

Als er sich wieder und wieder den Kopf zerbrach, erinnerte er sich schließlich an die Schule, auf die sie als Kind gegangen war. Er verschaffte sich Zugang zu den entsprechenden Archiven, vertiefte sich ihre Akten, und es gelang ihm schließlich, herauszufinden, wo sie damals gewohnt hatte.

Nach den lokalen Stammbüchern war ihr Geburtsname Thuong. Es war ein abgelegenes armes Dorf. Sie hatte in einer Hütte gelebt. Ihr Vater war ein lahmer Mann mit einem eisigen Blick. Sie verließ ihre Heimat, nachdem ihre Mutter gestorben war und kehrte nie mehr in ihr Dorf zurück. Alles begann, als ein Filmteam in ihr Dorf kam, um einen Dokumentarfilm zu drehen mit dem Titel: „Ein liebevolles Nest“. Die Absicht war, extrem arme, aber harmonisch lebende Familien zu entdecken und sie zu unterstützen.

Zunächst hatte man den Filmleuten erzählt, Thuongs Familie würde den beiden Kriterien entsprechen. Sie erreichten das Haus nach einem stundenlangen Marsch durch den Wald und über einen Fluss. Der Haushaltsvorstand war ein verwundeter Soldat mit einem lahmen Bein, der in den ersten Tagen des Frieden zurückgekehrt war. Er wurde von seiner Frau empfangen, die jetzt Kinder hatte, denn ein feindlicher Trupp Soldaten hatte sie vergewaltigt: ein Junge und seine ältere Schwester. Es gab Gerüchte, sie würde eine große Summe Geldes oder ein anständiges Haus zugeteilt bekommen, vielleicht sogar beides. Leider geschah nie, was die Familie sich erhofft hatte. Denn sie hatten im Interview sehr viel über ihr Leben erzählt.

Als der Junge nach seinen Träumen gefragt wurde, antwortete er, er wolle ein Arzt werden, damit der das Leiden seines Vaters, vor allem bei schlechtem Wetter, behandeln könne. Dann fragte sie das Mädchen: „Ich wünsche mir, dass Papa nicht Mama dauernd grausam schlagen würde“, antwortete sie.

Diese Antwort eines zerlumpten 7jährigen Mädchens legte die wirklichen Lebensbedingungen der Familie offen. Ihr Mutter war in der Tat häufig gequält worden von ihrem eifersüchtigen Ehemann, der ihr die „unwürdigen Abenteuer“ während des Krieges nicht verzeihen konnte.

Nach den Erklärungen des Mädchens verließen die Filmleute schweigend das Haus, begleitet von des Vaters Groll und seiner tiefen Enttäuschung über die verpasste Entschädigung.

***

Die Aussagen dieses kleinen Mädchens weckte in dem verlassenen Mann die Erinnerung an einen Abend, als er an der Seite seiner Geliebten eine Folge der Serie Ein liebevolles Nest sah.

„Kann diese Familie der Armut entrinnen?“ fragte ihn seine Liebste. „Nehmen wir mal an, es gelinge ihr, genug Geld zu verdienen, um anständig zu leben, würde ihr Glück dauerhaft sein?“

„Natürlich, sie hätten ein glückliches Leben, so wie wir, denke ich.“, antwortete ihr Liebhaber.

Sie war wie eine zahme Katze in seinen streichelnden Händen. Er war gerade dabei, sie zu küssen, als sie weiter fragte:

„Aber warum haben Sie dann keine bedürftige Familie ausgewählt, die nicht glücklich ist? Dann hätten sie doch Leute aus schlimmer Armut befreien können und ihnen ein paar glückliche Momente verschaffen können. Das hätte ihr Programm sehr sinnvoll erscheinen lassen können.“

„Da hast du recht! Das könnte dazu beitragen, die Zahl solche Fälle zu reduzieren, wenngleich es in unserem Land unzählige solche Fälle gibt.“, sagte er.

„Ja, das glaube ich auch,“ sagte sie mit weicher Stimme. Ich würde ja so gern einen solchen interessanten Job beim Fernsehen machen. Das wäre genau das Richtige für mich.“

Es schien ihm, als habe sie damals zum ersten Mal über solche heiklen Dinge gesprochen. Was ihn anging, so interessierte er sich nicht für ihre Wünsche. Er nahm die Fernbedienung und schaltete des Apparat ab. Der Fernseher schwieg, und sie auch. Seine Geste setzte dem Gespräch über dieses Thema, das ihm nicht so gefiel, ein Ende. Er konzentrierte sich darauf, ihren ganzen Körper mit seinen geschickten Händen zu streicheln.

***

Obwohl sie zwei Jahre lang schon nicht wieder aufgetaucht war, glimmte das Feuer seine Liebe noch immer in seinem Herzen. Die Erinnerung an sie begegnete ihm in seiner Wohnung überall: Ihre Hausschlappen unter dem Bett, ihre Jacke im Kleiderschrank, ihre Mütze auf dem Schreibtisch, ihre hübschen Papierblumen, die sie auf dem Kühlschrank arrangiert hatte, ihr seidenes Nachthemd auf einem Bügel, und so weiter. Alle ihre Sachen befanden sich noch an dem Platz, als sei sie nur für ein paar Tage verreist.

Oft stöberte er in den Kleidern in der Garderobe, um herauszufinden, was sie angezogen hatte, als sie ihn verließ, aber vergeblich. In der Zeit, als sie zusammenlebten, hatte er sich nie darum gekümmert, was sie für Kleider besaß. So konnte er auch nicht feststellen, was fehlte.

Ebenso erinnerte er sich zwar an den Tag, an dem seine Liebste verschwunden war, hatte aber keine Vorstellung, wann sie zu ihm gezogen war. Seltsamerweise beachten wir unser Glück wenig, denken aber heftig über unsere Leiden nach! Einmal hatte einer seiner so genannten freiheitsliebenden Freunde mit ihm gestritten: „Deine Wohnung sieht aus wie ein Museum. Warum räumst du die alten Sachen nicht beiseite und führst ein unbeschwertes Leben?“ Er lachte nur. Alles blieb so, wie es gewesen war, einschließlich des alten Türschlosses, das er nicht zu erneuern wagte, obwohl es nicht mehr sicher war.

„Sie ging plötzlich weg; Trotzdem kann es sei, dass sie eines Tages zurückkommt“, sagte er sich insgeheim.

***

Das Läuten seines Handys schreckte ihn auf. Seit ihrer Abwesenheit erregten ihn solche abendlichen Anrufe.

„Schalte schnell Kanal 6 auf deinem Fernseher ein! Ich glaube deine liebe Thuong ist auf Sendung“, forderte Hoang ihn auf. Es lief schnell zu dem breiten Flachbildschirm, aber es war zu spät. Die Sendung war gerade zu Ende. Auf dem Bild war nur noch die vage Silhouette einer jungen, in Purpurrot gekleideten Frau inmitten der geschäftigen Fernsehleute zu sehen.

Trotzdem erkannte er sie sofort mit gemischten Gefühlen: vertraut und fremd.

„Du hast sie verloren. Also musst du sie da suchen, wo du sie auf dem Bildschirm gesehen hast“, sagte Hoang mit strengem Ton. Statt der jungen Frau, die ihn am 27. März verlassen hatte, sah er ein unscharfes Bild, das mit jeder Minute undeutlicher wurde.

Vielleicht war ja ihre Verbundenheit mit ihm schon teilweise erschüttert, als sie an jenem Tag an der Bushaltestelle stand, oder als sie im Bus saß, um allein nach Hause zu fahren in tiefer Trauer um den Tod ihrer Mutter.

Vielleicht schwanden ihre Hoffnungen, als ihre Augen auf ein prächtiges weißes Hochzeitskleid in einem Schaufenster fiel.

Vielleicht war ihre Liebe zu ihm gestorben, als sie in ihrer großen Küche vergeblich darauf wartete, dass er heimkäme, und dann einschlief neben einem Tablett mit kalt gewordenen schmackhaften Speisen.

Vielleicht war ihr Körper auf dem warmen geblümten Bettzeug auf der weißen Matratze, auf der er sie nachts allein ließ, allmählich erschlafft.

Und vielleicht war ihre Geduld erschöpft gewesen, als er über die Türschwelle schritt und sie verzweifelt hoffte, dass er zurückkommen würde.

Eigentlich hatte er nichts unternommen, um sie vom Weggehen abzuhalten. Jetzt war er so verwirrt, dass er, wenn er sich auf den Weg machen würde, herauszufinden, was er verloren hatte, nicht wusste wohin gehen.

Und auch Hoang konnte wusste keinen Rat für seinen lieben Freund, wie dieser seine verlorene süße Freiheit wiederfinden könnte, von der Hoang nur träumen konnte.

„Ich will mein bestes versuchen, mein verlorenes Glück auf meine Weise wiederzufinden“, sagte der Verlassene sich schließlich.

Quelle: The lost cosy nest, in:VNS 17.11.2013
übersetzt von Marianne Ngo
und Günter Giesenfeld
nach der englischen Fassung von Van Minh

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier, 3-4/2013>

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