Regen

Kurzgeschichte von Phan Thi Van Anh

1

Von meinem Bett aus kann ich erahnen, woher der Regen kommt, wahrscheinlich von der eingestürzten Mauer, wo gestern zwei Feuerblumenbäume gefällt worden sind. Hier hat man kein Bedürfnis nach Blumen. Die purpurnen Blüten verfaulen sicher schon bei den Gartenabfällen.

Ich liege hier schon seit zwei Tagen, mit schweren, geschwollenen Augenlidern. Von Zeit zu Zeit geht mir eine Frage durch den Kopf: „Werde ich eines Tages blind sein?” Niemand ist mich besuchen gekommen, meine Freunde warten anscheinend, bis ich richtig krank bin. Wir sind allein im Haus, Mama und ich. Ich rufe nach ihr mit lauter Stimme: „Es regnet, komm schnell rein, lies mir aus der Zeitung vor, seit zwei Tagen weiß ich schon nicht mehr, was passiert.” Es wird Licht, es blendet. Mama holt einen schwarzen Schal aus der Schublade, legt ihn mir auf die Augen, und liest. Sie beginnt mit den Nachrichten. Ich meckere unter dem Schal: „Nein! Lies erst das Feuilleton, die Filmkritiken...” Das Regenwasser hat wahrscheinlich schon die Veranda überschwemmt, und meine Schuhe sind patschnass. Mama fragt mit provokativer Geduld: „Willst du, dass ich dir was anderes vorlese?”. Ich sage: „In meiner Tasche da ist ein Buch, das in der Klasse herumgereicht wird. Nimm es heraus, ich muss übermorgen eine Zusammenfassung machen.”

2

Die Lesung wird immer wieder von Kommentaren meiner Mutter unterbrochen. Ich sage zu ihr: „Beruhige dich doch! Das ist ein Roman, und da hat man das Recht zu schreiben was man will.” Mama lacht: „Ist schon gut”. Als aber Lu von der Tür aus schreit: „Mach auf, Tante, ich möchte den Hof fegen!”, explodierte sie: „Nicht heute!” aber als ich dann sagte: „Lass ihn doch”, gibt sie nach: „Komm halt herein, Lu”. Ich höre, wie Lu den Besen an der Mauer entlang schleifen lässt, wobei er vor sich hin trällert. Ich stelle ihn mir vor, mit seinem blauen Hemd, das er immer trägt. ein Dreikäsehoch mit runden Augen. Darüber habe ich aus Zerstreuung den Zusammenhang verloren. Ich höre Mamas Murmeln: „So ist er nicht, der Krieg!” Ich sage: „Lies weiter.” Mama fragt, ob alle in der Klasse das gelesen hätten.

Ich breche in Lachen aus: „Einige haben es mir sofort zurückgegeben, als sie merkten, dass darin von Gewehren und Bomben die Rede ist.” Mama scheint bedrückt: „Und die, welche es gut finden, dass die Gewehre donnern, die Kugeln explodieren, die irren sich.” Ich sage: „Diejenigen, die, wie du, wissen, was das ist, der Krieg, die sollen sich halt hinsetzen und die Wahrheit schreiben – und dann werden auch ihre Bücher bei uns in der Klasse herumgereicht werden, wir sind ja schließlich volljährig.”

3

Schließlich ist doch jemand mich besuchen gekommen. Thu ist ziemlich lange geblieben. Wir schauten zerstreut in den Garten, die Vögel zwitscherten in den Bäumen. Wir sind Freunde seit der Einschulungsklasse, haben uns aber nicht viel zu sagen. Ich frage Thu, ob er sich noch an die Zeit im Jugendverband erinnert.

Natürlich erinnert er sich, er sammelte Altpapier in den Straßen auf, abends drängte er seine Familie, endlich mit dem Essen fertig zu werden, damit er seinen Papiersack abliefern gehen konnte. Thu fragte mich wie oft ich eigentlich zur „verdienten Kämpferin” erkoren worden sei, da musste ich lachen: „Bist du verrückt, wer merkt sich denn so was?” Thu erinnert sich jedoch sehr wohl, er kennt sogar die Lieder von damals noch, die Kinder von heute singen sie nicht mehr. Wenn man ihnen heute erzählt, dass wir damals jeden Abend Süßkartoffeln gepflanzt haben, um unsere Klassenkasse aufzufüllen, finden sie das „lustig”. Ich sage: „Ja, lustig, aber das gefiel mir, ich ging hin, um sie zu gießen, sie von Raupen zu befreien. Und ich machte mit, wenn gewählt wurde, wer am fleißigsten war, wer das Recht erwarb, ein Säckchen Süßkartoffeln zu behalten, die wir im Wasser kochten und voller Respekt genossen, wie ein Königsmahl.” Wir lachen beide.. Thu sagt: „Wir reden wie zwei Alte, die sich alte Geschichten erzählen; meine älteren Brüder – die jetzt alle einen dicken Bierbauch vor sich her tragen – und ihre alten Freunde, alle erzählen sie sich, wenn sie einander treffen, alte Geschichten aus den Zeiten der jungen Pioniere, jeder hat solche alten Erinnerungen... das ist komisch.” Wir grinsen, plötzlich erhebt sich der Wind im Garten, Erde und Staub aufwirbelnd. Ich sage: „Gehen wir rein!” Thu geht an Mamas Schreibtisch vorbei, erblickt dort die unordentlichen Papierstapel, er fragt: „Sie schreiben einen Roman?” Ich sehe, wie Mama ihren Kopf hereinstreckt und höre ihr leises Lachen: „Nein”. Ich sage: „Ich zeig ihn dir, wenn er fertig ist” Thu lacht: „Schreiben Sie über uns, Tante? Ja, das verkauft sich immer gut, Bücher über unsere Generation...” Ich falle ihm ins Wort, schlage vor, Karten zu spielen. Thu schlägt die Regeln vor, wortreich wie ein Profi: „Zwei Serien von Paaren ergeben eine Zwei, ein Vierer gibt zwei Zweier, vier Folgen von Paaren, und man kriegt alles...”

4

Wieder hat mich ein Albtraum erwischt. Der Arzt von nebenan sagt, das habe nichts mit Geistern zu tun, es sei nur eine Folge von Proteinmangel. Die Tischuhr schlägt. Es ist drei Uhr morgens, ich rufe Mama zu: „Warum schläfst du nicht?” Mama sagt: „Schlaf weiter, Kind!”. Ich rolle die dünne Decke um meinen Körper, gehe ins Wohnzimmer, da liegt die Katze auf dem Tisch und schläft, und meine Mutter sitzt vor einem Notizzettel, auf dem nur einige durchgestrichene Zeilen zu sehen sind, mit gebeugtem Rücken, die Beine auf dem Stuhl übereinandergeschlagen. Mama schaut mich nicht an, ihr Blick ist auf die vor ihr hängende Deckenlampe gerichtet, traurig sagt sie: „Wenn man sein Talent ausgeschöpft hat, muss man aufgeben. Ich kann nicht mehr schreiben.” Ich sage: Das ist nur weil du so lange nicht geschrieben hast. Ich denke, das ist wie beim Tischtennis. Ich spiele jeden Tag, und ich mache täglich Fortschritte.” Mama lacht. „Das ist nicht das ganze Problem!” Ihre Stimme ist zittrig, angespannt, Mitleid erregend. Ich lehne mich an die Wand, neben ihrem Schreibtisch, sage ihr, sie solle aufhören damit, wenn es so schwierig sei, solle sie lieber ein lustigeres Thema behandeln, zum Beispiel Kindererziehung. Mama lacht nur, ich frage sie, ob ich ein intelligentes Kind gewesen sei, und sie sagt: „Ja.” Ich rege mich auf: „Woran denkst du, warum antwortest du so unernst?” Mama seufzt: „Wie traurig! Ich kann nicht einmal mehr niederschreiben, was ich erlebt habe.” Ich mache einen Vorschlag: „Und wenn du nur die Fakten beschreibst, Schwester Thuy könnte sich um den Stil kümmern.” Mit einer Geste fegt Mama die Katze vom Tisch, sie lacht: „Damit sie aus ihrem heutigen spöttischen Blick unsere Vergangenheit darstellt?”

Am Morgen war der Schreibtisch aufgeräumt. Ich sage: „Versuch’s noch einmal, Mama, ich koch solange den Reis.” Lu kommt herein, ich sage ihm: „Mach keinen Krach beim Fegen, und sing nicht wieder.” Er fragt: „Ist sie krank?” und der kleine blaue, armselige und kümmerliche Dreikäsehoch geht in den Garten, um Blumen zu pflücken.

Um neun Uhr komme ich mit Gemüse aus dem Garten zurück, wende mich zum Fenster hin und frage Mama: „Klappt’s jetzt?” Mama sagt: „Noch nicht.” Ich gehe zu ihr und bitte sie, mir vorzulesen, was sie geschrieben hat. Mama sagt: „Ich habe so lange nichts geschrieben, und wenn ich es jetzt wieder versuche, kann ich nicht ertragen, was ich da schreibe.” Ich sage zu Mama: „Ich habe glücklicherweise nicht das Bedürfnis, Schriftsteller zu werden, ich habe nicht gedacht, dass das so schwierig ist. Ich glaubte, es gäbe nichts Einfacheres als niederzuschreiben, was man erlebt hat.” Mama sagt, das sei nur in der Theorie so. Ich sage: „Auf geht’s, jetzt kochen wir erst mal. Wenn die Hochwürdigen, die wissen, wie der Krieg wirklich ist, es nicht einmal fertig bringen, ihn zu beschreiben, wer weiß ob der Roman von gestern lügt? Ich finde ihn jedenfalls spannend.” Mama sagt niedergeschlagen: „Das muss man ihm lassen, er hat Stil, er kann schreiben, und deshalb wird er in eurer Klassen herumgereicht.”

Der Regen scheint heftiger zu werden. Ich rate Mama davon ab, zu dem Treffen in das Haus der Pensionäre zu gehen. Mama sagt: „Nein, das kann ich nicht absagen, es findet ja nur einmal im Monat statt.” Ich sage: „Einmal mit Monat, aber ihr redet doch immer dasselbe, darüber, wie man am besten eine Beerdigung organisiert, die der Freundschaft und Treue würdig ist.” Mama scheint böse zu sein, sie sagt, ich solle nicht so grausam sein. Ich sage: „Ich will nicht, dass du da hingehst, du bist doch noch gar nicht so alt, jedes mal wenn du von einem solchen Treffen zurückkommst, bist du aufgewühlt, schrumpelig, und jedes mal wenn ich dich frage, worüber ihr geredet habt, lachst du und machst dich lustig über den Vorsitzenden des Volkskomitees, der seine Zeit damit verbringt, über zukünftige Beerdigungen zu diskutieren.” Mama ist wieder versöhnt und sagt: „Das kannst du nicht verstehen, das ist die Welt der Alten. Jeden Monat treffen wir uns, wir reden, und das beruhigt uns. Denn wir wissen, wenn wir sterben und unsere Kinder sich nicht darum kümmern wollen, wird der Klub der Pensionäre für eine schöne Beerdigung sorgen.” Ich lache: „Ach so! Dann geh halt hin, Mama.”

Kaum ist meine Mutter weg, das kommt Thuy, meine ältere Schwester herein und sagt: „Warum willst du sie zurückhalten, soll sie doch tun was sie will, und wenn sie Geschichten ‚von früher’ erzählt, dann sei geduldig, wenn sie dabei zu politisieren anfängt, sei einfach still und lass dich nicht auf Diskussionen mit ihr ein.” Thuy redet schnell, öffnet den Kühlschrank, fragt, ob noch was zu Essen da sei. Ich sage: „Nein, ich bin seit einigen Tagen krank, es ist niemand einkaufen gegangen, du brauchst gar nicht zu suchen.” Thuy schnappt sich ein paar Zeitungen, wirft sich auf das Bett und ruft: „Das hab ich gern, ein schöner Empfang, wenn ich nach Hause komme.” Ich gehe zu ihr hin und lobe mich selbst: „Ich habe gerade Mama dazu ermutigt, wieder zu schreiben.” Thuy reißt die Augen auf. ”Und? Tut sie’s?” Ich sage: „Nein.” Das sagt sie fröhlich: „Eines Tages werde ich so sein wie sie. Jetzt kann ich noch ganz flott schreiben, und ich nutze das aus, um möglichst viel zu schreiben, und wenn mir das Glück diesmal gewogen ist, dann gewinne ich einen Preis und kaufe mir eine Spielekonsole.” Ich frage sie, an welchem Wettbewerb sie denn teilnehmen will und sie sagt: „An einem Wettbewerb über Neue Entwicklungen des traditionellen Patriotismus, ich denke mir eine Liebesgeschichte im Untergrund aus.” Ich unterbreche sie und spinne weiter: Der Held ist bestimmt sehr schön, und sie antwortet feierlich: „Das ist wirklich fantastisch. Neulich bin ich in den unterirdischen Tunnels gewesen, und plötzlich habe ich mir vorzustellen versucht, wie das gewesen wäre, wenn Luong und ich uns unter der Erde verliebt hätten. Es muss schrecklich sein, wenn man jedes Mal einander suchen muss, um sich nach einem Streit zu versöhnen...” Ich sage: „Hören Sie mal, gnädige Frau, es ist überhaupt nicht sicher, dass die Liebenden zu jener Zeit so wie wir dachten, wie kannst du bei ihnen dieselben Gefühle voraussetzen wie bei dir und Luong?” Unerschütterlich lässt Thuy nur verlauten: „In aller Ewigkeit, die Liebe ist immer die Liebe!”

Es wird dunkel, der Strom ist abgesperrt, der Regen fällt immer dichter, das Wasser überflutet den Boden, die Plastiksandalen schwimmen neben den Abfällen. Ich bitte Thuy, auf das Haus aufzupassen, ich würde Mama abholen. Wenn sie zu Fuß zurückgehen müsse würde sie sich eine Erkältung holen. Ich komme beim Komitee unseres Viertels an. Im Halbdunkel des Saales schnurren etwa dreißig Greise mit trüben Augen vor sich hin. Ich erkenne die Lache von Mama, ich rufe: „Komm wir gehen heim!” Mama grüßt sofort: „Auf Wiedersehen, großer Bruder, auf Wiedersehen, große Schwester, ich gehe jetzt.” Sie kuschelt sich unter meinen Regenmantel, der wie eine Fledermausflügel aussieht, Ich fahre mit Mama auf dem Fahrrad durch die laubbewachsenen Felder, ich höre die Frösche und Kröten quaken, fahre an den vom Sturm entwurzelten Bambusbüschen vorbei, und ein seltsames Gefühl erfasst mich, mir ist, als bringe ich ein zartes Kind heim, das vom Hort kommt, zerbrechlich und zärtlichkeitsbedürftig. Ich sage zu Mama, dass man eines Tages auch mich so nach Hause bringen wird. Aber da fällt mir ein, dass es ja gar nicht sicher ist, ob eines Tages jemand mich heiraten wird. Himmel, was für ein Problem, wie oft haben wir, Mama und ich, schon darüber gesprochen?

November 1994

Quelle: En traversant le fleuve. Récits traduits du vietnamien par Phan Huy Duong, Arles 1996,
aus dem Französischen übersetzt
von Günter Giesenfeld

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier, 3-4/2012>

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