Lebenslanges Ritual

Eine Kurzgeschichte von Di Li

Der Tag war schon vorbei, und ich hatte es immer noch nicht geschafft, mein sorgfältig vorbereitetes Geständnis auszusprechen: „Ich liebe Dich nicht mehr!“ Das ganze letzte Jahr über hatte ich mir Tag für Tag aufs Neue vorgenommen, meine Gefühle zu äußern, aber ich traute mich nie. Bald würde unsere Uhr 10 schlagen, und wir würden nach unserem Abendtee zu Bett gehen und miteinander schlafen.

Noch saßen wir am Eßtisch und warteten darauf, daß das Wasser im Kessel kochte. Meine Frau las die Zeitung, ich schaute die Nachrichten im Fernsehen. Ich hatte keine Ahnung, was sie las. Offen gesagt achtete ich auch nicht auf die Schüsse im Hintergrund der Meldungen, einfach deshalb, weil ich den Kessel auf dem Gaskocher anstierte.

Wie üblich würde sie aufstehen, sobald das Wasser kochte, das Teegeschirr holen, die Tassen abwaschen und abtrocknen, etwas kochendes Wasser in die leere Teekanne und die Tassen gießen, um sie zu erwärmen, und schließlich den Tee aufbrühen. Dann würden wir den Tee in kleinen Schlucken trinken. Das war unser Abendritual. Wir genossen diese Momente der Muße nach einem anstrengenden Arbeitstag, in denen wir, unbehelligt von Telefonanrufen, Hausarbeit und den Eintreibern von Steuern, Wasser- und Stromrechnungen, den Musikübungen unseres Sohnes lauschten, bevor er zu Bett ging. Um diese Zeit sagten wir immer etwa eine halbe Stunde lang nichts.

„Möchtest Du noch etwas mehr Jasmin in Deinen Tee?“, fragte meine Frau nach 35 Minuten Schweigen. Ich hatte das Bedürfnis über etwas reden, irgend etwas, meinetwegen über den Anstieg des vietnamesischen Verbraucherpreis-Indexes um 0,3 % im Vergleich zum Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in den USA um 0,5 %, das im nächsten Monat noch weiter sinken könnte, oder so etwas ähnliches.

„Heute hat mein Chef beschlossen, unsere Gehälter auf zwei Drittel zu kürzen, und für den nächsten Monat plant er die ersten Stellenstreichungen“, wollte ich schließlich sagen.

„Heute...“ – sie unterbrach mich abrupt, „He, Liebling ...“ sagte sie und starrte mich an.

„Was ist los, Süße?“, fragte ich.

„Du hast Deine dreckigen Socken auf meinem Kissen liegen lassen.“

„Wirklich? Das tut mir leid!“, entschuldigte ich mich.

Sofort stand ich auf, klaubte die Socken zusammen und warf sie auf einen Haufen schmutziger Wäsche, die zum Waschen bereit lag. Als ich zum Tisch zurückkehrte, war sie immer noch mit dem Tee beschäftigt. Ein Fleck auf dem karierten Tischtuch erinnerte mich an einen Besucher, der letztes Jahr überraschend zu unserer Weihnachtsfeier vorbeigekommen war. Damals waren wir alle etwas beschwipst, und ich wußte nicht genau, wer er war: einer meiner Freunde oder einer ihrer Bekannten. Als die Party sich dem Ende näherte, sprang er auf und rezitierte auswendig ein Gedicht.

Danach stellte er die folgende Frage: „Kann mir jemand sagen, was Liebe ist?“

Da war es wieder still! Aber er war anscheinend ganz zufrieden damit, daß keiner eine Antwort wußte.

„Liebe gleicht in gewisser Weise einem Dreibein.1 Wenn sie sich als Leidenschaft äußert, konzentriert sie sich auf die Libido. Wenn Liebe gegenseitig ist, geht es um Freundschaft, und wenn sie lediglich ein Opfer bedeutet, ist es Mitleid. Insgesamt sind diese drei Faktoren in der Liebe unabdingbar. Wem von den Anwesenden fehlt einer davon?“, fragte der Fremde.

Einer der Gäste bot ihm eine Tasse Tee an, zum Teil, um ihn davon abzuhalten, den Gastgeber weiter in Verlegenheit zu bringen, zum Teil, um seinen Rausch zu mildern. Aber er war voll in Fahrt und stieß die Tasse zurück, so daß der Tee auf das Tischtuch spritzte. Dann setzte er seine geschmacklose Rede fort.

Ich fragte einmal einen guten Freund nach seinem Sexleben – er antwortete knapp: „Dreimal die Woche jeweils 30 Minuten.“

„Und wie steht’s mit der Leidenschaft?“

„Was soll das? Wie ich gerade gesagt habe, dreimal die Woche jeweils 30 Minuten. An Wochenenden auch mal 45 Minuten.“

Merkwürdigerweise entwickelten sich die Reaktionen auf die „Dreibein“-Frage zu einer langen Diskussion. Die meisten antworteten „Dreimal die Woche jeweils 30 Minuten.“ Bei mir war es auch etwa so, aber manchmal dauerte es keine 30 Minuten.

„He, Liebling!“

„Was ist?“

„In den Abendnachrichten brachten sie gerade, daß die Stromkosten bei einem Verbrauch von bis zu 100 Kilowatt um vier Prozent steigen werden.“

„Und bei einem Verbrauch von bis zu 50 Kilowatt?“

„Um drei Prozent.“

„Wie war das bisher?“

„Drei Prozent.“

„Meine Güte, wie blöd und lächerlich!“

 

***

An diesem Nachmittag, kurz bevor ich mich vom Büro auf den Heimweg machte, fand ich zufällig auf meinem PC ein Foto, das ich dort vor langer Zeit leider unbenamt abgelegt hatte.

Obwohl es ein wenig dunkel war, weil ich es mit meinem billigen Mobiltelefon aufgenommen hatte, zeigte es doch deutlich erkennbar unsere Gesichter.

Wir standen vor der roten Wand einer verlassenen Hütte an der Straße. Das Bild war etwa zwei Jahre vor unserer Hochzeit aufgenommen worden. Ich erinnere mich gut an jenen Tag. Wir machten einen Ausflug. Ich fuhr mit ihr und allen ihren schweren, dicken Taschen auf meinem dunkelblauen Motorrad aus der Stadt. Wir waren ohne Halt zwei aufeinander folgende Tage gefahren, so daß wir nun müde von der Reise und von Kopf bis Fuß mit rotem Staub bedeckt waren. Mehrere Male war mir ihre Unruhe aufgefallen, als wir den trüben, düsteren Pass überquerten.

„Du bist müde, nicht wahr?“, fragte ich sie.

„Nein, nicht wirklich.“

„Hungrig?“

„Nein.“

„Schläfrig?“

„Nein.“

„Kalt?“

„Nein“, antwortete sie stöhnend.

Am Fuß des Passes befand sich ein leerer Schuppen. Er schien wie gemacht dafür, unglücklichen Reisenden auf halber Strecke Unterschlupf zu gewähren. Ich hielt das Motorrad an.

„Ich möchte ...“, gestand ich.

„Ich auch.“

Wir stiegen ab. Ich half ihr vom Gepäckträger, wo sie eingeklemmt saß zwischen all den großen und kleinen Taschen, und führte sie direkt in den Schuppen. Plötzlich fiel das Motorrad um, das Benzin spritzte aus dem Tank und verteilte sich auf dem roten Erdboden.

Zunächst wollten wir nur für eine Stunde oder so rasten, aber dann blieben wir länger als zwei Tage, zum Teil wegen des anhaltenden heftigen Regens, der die Straßen zu schlammig zum Weiterfahren machte, zum Teil, weil der Holzschuppen sich als wunderbares Freiluft-Hotel entpuppte.

Wir liebten uns nach Herzenslust neben einem Feuer zu den Klängen von Kurt Cobains Gitarre aus unserem alten batteriebetriebenen Kassettenspieler.

Ich starrte auf das Foto und lächelte breit. Ich betrachtete sie. Ihr Aussehen auf dem Bild schien mir nur geringe Ähnlichkeit mit ihrer wirklichen Gestalt zu haben, obwohl sie immer noch schön war mit ihrem älter gewordenen Gesicht und ihrem rundlichen, aber attraktiven Körper.

Offen gesagt, fand ich keinen vernünftigen Grund, unsere Beziehung zu beenden, solange wir drei Mal die Woche miteinander zu schlafen pflegten.

Es war keine dritte Person beteiligt. Gerade goß sie mir eine Tasse heißen Tees ein. Ich nippte an dem starken Tee, obwohl ich im Moment nicht durstig war. Ich trank ihn in ein, zwei, dann drei kleinen Schlucken.

„Aber Liebling!“

„Was ist los?“, fragte ich überrascht.

„Du hast gerade Tee aufs Tischtuch verschüttet“, beklagte sie sich, „es hat schon einen Flecken. Und jetzt können wir es gerade wegschmeißen“, sagte sie vorwurfsvoll.

„Wo denn?“

„In der Mitte. Kannst Du das nicht sehen?“

„Doch, ich sehe es. Du hast recht.“

 

***

Und so war ein weiterer Sonntag vergangen. Ich ließ mich erschöpft in einen Lehnstuhl nahe am Eßtisch fallen. Meine Wochenenden waren nie wirkliche freie Tage, weil ich eine Menge zu tun hatte: Besuch bei den Großeltern, Wäsche waschen, das Badezimmer putzen, einkaufen im Supermarkt, das Zimmer meines Sohnes aufräumen, Essen kochen und Geschirr spülen. Nur nach dem Essen fand ich einige wenige Stunden zum Entspannen, auf der Couch vor dem Fernseher.

Jetzt kuschelte ich mich an meinen Mann, meinen Kopf in seinen Arm geschmiegt, meine rechte Hand auf seiner Brust. Er schaute aufmerksam einem Frauen-Volleyball-Spiel zu. Seit mehr als einer halben Stunde hatten wir kein Wort gesprochen.

„Könntest Du bitte den Ventilator runterschalten? Er ist zu laut,“ bat mein Mann.

Ich kam seiner Bitte nach. Sofort mußte ich mich wieder hinlegen mit meinem Kopf auf seinem Arm, um meinen Rücken zu schonen. Während der letzten Monate quälte mich mein Rücken erbarmungslos. Jeden Morgen beim Aufstehen galt mein erster, jeden Abend beim Zubettgehen mein letzter Gedanke meinem Rücken.

„Au, mein Rücken!“, stöhnte ich.

„Tut er wieder weh?“, fragte er. „Du solltest besser ins Krankenhaus gehen!“

„Genau davor habe ich am meisten Angst.“

„Ja, aber Du mußt! Außerdem solltest Du Dich öfters ausruhen und darauf achten, nicht zu lange zu sitzen“, empfahl er mir.

„Wie soll das gehen, als Büroangestellte?“

„Naja, in jedem Fall solltest Du vielleicht weniger arbeiten, Liebling“, fuhr er resolut fort.

Dann schaute er weiter dem Volleyball-Spiel zu. Und ich beschäftigte mich derweil damit, seine Gesten zu zählen. Alle fünfzehn Minuten küßte er mich; alle fünf Minuten tätschelte er meinen Rücken; alle fünf Minuten strich er mit seinen Fingern fünf Mal über das Kopfteil des Betts. Zusätzlich zu den jeweils sechs Spielerinnen der beiden Volleyball-Teams zählte ich auf dem Fernsehschirm die Zuschauer in der Halle. Dann zählte ich die Einrichtungsgegenstände in unserem Zimmer: Zwei Schränke, sechs Stühle, zwei PCs, fünf Blumenvasen, acht Weingläser und ein Schuhregal. Das war alles. Plötzlich dachte ich zurück an die Augenblicke, als er im Zug zum Hochland meinen Namen gerufen hatte.

In unserem Vier-Bett-Abteil lagen wir beide einander gegenüber auf den zwei engen unteren Liegen, und eine alte Frau belegte eine der oberen. Als die Zugbesatzung fertig war mit dem Aufräumen und die Lichter ausgingen, begann die alte Frau laut zu schnarchen. Er kam herüber in mein Bett und machte, was ich erwartet hatte.

Wir bemühten uns, sehr leise zu sein, obwohl der Lärm der rollenden Räder auf den Schienen und das Schnarchen der alten Dame jedes unserer Geräusche überdeckt hätte. Einmal drehte sie sich im Schlaf um und hörte auf zu schnarchen, woraufhin wir für einige Minuten unseren Liebesakt unterbrachen. Es war eine eigentümliche und lächerliche Situation; er hörte nicht auf, zärtlich meinen Namen zu flüstern. Ich versuchte, mich zu beherrschen, indem ich mitzählte, wie oft er meinen Namen nannte: mehr als zehn Mal!

Das Volleyball-Spiel ging in seine dritte Runde. Die Zahl drei erinnerte mich an das Dreibein, von dem einmal die Rede gewesen war. Schließlich dachte ich daran, daß eine meiner guten Freundinnen gesagt hatte: „Eine Liebesbeziehung mit einem, zwei oder sogar drei Faktoren? Das ist purer Blödsinn! Billionen von Paaren machen jede Nacht Liebe ohne Leidenschaft und Anteilnahme. Und Billionen anderer machen Liebe aus sinnlichem Verlangen. Was ist besser?“, fragte sie blinzelnd mit ironischem Lächeln.

Er drehte sich zu mir und schaute weiter dem Spiel zu. Wir hatten nie eine Abweichung in unserem gewohnten Ablauf. Jeden Abend wurden seine Papierstöße und meine Berge dreckiger Wäsche aufgeräumt, und unser Sohn ging, seinen Teddybär an sich gedrückt, ins Bett. Mit dieser „Normalität“ kam ich ganz gut zurecht in meinem Leben.

„Ich bin dann mal kurz weg, Liebling,“ sagte ich.

„Wieso?“

„Zum Friseur.“

„Du solltest Dich lieber ausruhen.“

„Wenn ich mir die Haare machen lasse, ist das für mich so wie ausruhen.“

„Da hast du recht! Viel Spaß.“

Seine Augen klebten weiterhin am Bildschirm wie üblich, abgesehen vom gelegentlichen Blick nach dem Kessel, ob das Wasser bald koche. Ich wartete ebenfalls darauf, daß es kochte, bevor ich das Feuer ausmachte.

Ich fand keinen Grund, ihn nicht weiterhin zu lieben, solange wir jeden Tag miteinander sprachen, solange er mich sonntags streichelte und auf die Wange küßte. Ich verliebte mich in ihn und niemand anderen, wenn wir am Abend zusammen saßen und Tee tranken, nachdem wir darauf gewartet hatten, daß das Wasser kochte.

Quelle: Di Li: A lifetime ritual, in VNS 30.8.2009,
Deutsch von Marianne Ngo nach der englischen Fassung von Van Minh

Di Li wurde am 3.6.1978 geboren und hat mehrere akademische Abschlüsse: Master in Managing Education; Bachelor in Englisch und Deutsch. Seit 2000 arbeitet sie als Lehrerin für Wirtschaftsenglisch am Hanoier College für Handel und Tourismus. Außerdem als Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin. Sie übersetzt vor allem aus dem Englischen Kriminalthriller, Horrorgeschichten und Comedy. Seit 2007 veröffentlicht sie eigene Werke: die Kurzgeschichtensammlungen The first layer, The Waltz of Hell (2007), 7 Days in the desert, All around the world (2009) (engl. Fassungen der Titel nach Di Lis Website).
Auf ihrer Website http://dilivn.com macht sie auch darüber Angaben, was sie mag und was sie nicht mag. Beispiele: Sie mag: weiße Blumen, Brad Pitt, Bali, Pinacolada, Hunde sowie Crime Thriller und Horror in Film und Literatur. Sie mag nicht: Marguerite Duras, Volksmusik, langsame Tänze, kubistische Malerei, Moskau, Katzen sowie Gedichte und Liebesgeschichten. Das ergibt den Verdacht, daß man die hier vorgelegte Geschichte wohl als Horrorliteratur verstehen muß.

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 3-4/2009

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