Der Rucksack

von Le Luu

„Sag das bitte nochmal!“

Beleidigt wiederholte Sai: „Ich habe nur gemacht, was du mir gesagt hast.“

„Und du hast die ganze Rose reingetan?“

„Ja.“

Am liebsten hätte Chau geschrien, den unterdrückten Zorn in ihrer Brust herausgebrüllt. „Ich hatte gesagt, nur etwa zehn Blütenblätter. Und du hast die ganze Blume reingetan. Kein Wunder, dass wir jetzt Probleme haben. Jetzt ist es passiert. Pass auf das Baby auf, ich gehe Medikamente holen.“

Sie rannte zur Tür, hatte Angst, die Worte nicht länger als einige Sekunden zurückhalten zu können, die sie am liebsten wie eine Schüssel dreckiges Wasser ins Gesicht dieses unfähigen Einfaltspinsels geschüttet hätte.

In den Tagen zuvor hatte Sai das Baby mit nach draußen genommen, um es an die frische Luft zu bringen, während er sich mit seinen Bekannten unterhielt, und jetzt hatte sich das Kind erkältet. An diesem Morgen war es Chau gelungen, eine weiße Rose zu organisieren, groß wie eine Suppenschale, und einige quat van be – Wampee-Früchte1. Aber dann musste sie zur Arbeit gehen, also hatte sie Sai gebeten, eine Wampee-Beere und zehn Rosen-Blütenblätter mit einigen Tropfen Honig in eine Tasse zu tun, sie zum Kochen zu bringen und dann dem Baby tropfenweise einzuflößen. „Ja, ich weiß, ich weiß“, hatte Sai ungeduldig gesagt, und dann hatte er alle drei Früchte und die ganze Blüte – etwa hundert Blätter – in den Topf getan und dem Kind das Ganze zu trinken gegeben. Jetzt hatte es Durchfall. Es war erst sieben Monate alt und dehydrierte gefährlich! Es war passiert, wovor ihre Mutter und ihre Schwestern sie immer gewarnt hatten – Durchfall, hatten sie gesagt, kann leicht eine chronische Krankheit werden, fast unheilbar.

Tränen stiegen ihr in die Augen. Da waren so viele Männer aus guten Familien gewesen, in guten Positionen, die sie hätte lieben können. Stattdessen war sie auf diesen ungehobelten Bauern hereingefallen, einen ungebildeten Mann, der ständig Angst hatte, alle anderen würden ihn für für minderwertig halten. Aber zugleich war er arrogant, weil er auf dem Schlachtfeld gewonnen hatte, gegen die Amerikaner, und da dachte er wohl, er würde überall überleben, sich alles erlauben können. Trotz seiner begrenzten Schulbildung – er war nur ein Jahr auf die Oberschule gegangen, ehe er zur Armee ging – dachte er, er habe auf niemand zu hören, sei nicht verpflichtet, sich um Verständnis zu bemühen. Wenn er eine Zeitung oder ein Buch zur Hand nahm, dann war es nur, um sein Gesicht zu bedecken und zu schnarchen. Seit dem Tag, an dem sie geheiratet hatten, hatte sie ihn nie nachdenklich gesehen, war es ihm nie eingefallen, sich über etwas Gedanken zu machen. Und, ja, sie fühlte sich gekränkt, wenn Leute in der Nachbarschaft mit ihr schimpften, weil sie von ihm verlangte, sie zu bedienen. Aber da beide arbeiteten, warum sollte sie ihn nicht bitten, ihr zu helfen, wenn er sowieso nur untätig herumsaß? Im Übrigen schien ihm körperliche Arbeit besser zu liegen als geistige Anstrengung. Hätte er sich um ein nützliches Projekt bemüht, ein Ziel gehabt, dann wäre sie bereit gewesen, den Haushalt allein zu machen; ja, sie wäre stolz auf ihn gewesen, hätte nicht eine Sekunde gezögert, alles zu tun, um die besten Voraussetzungen für sein Fortkommen zu schaffen. Sie konnte es nicht fassen, dass sie einen solchen Fehler gemacht hatte.

Als sie mit dem Medikament zurückkam, hatte das Baby sich schon sieben Mal entleert – in einer Stunde. In dem vergangenen halben Tag insgesamt 17 Mal! Verwirrt steckte sie die Tablette in ein gebackenes Limonenblatt und legte das Ganze auf die Holzkohle, bis alles zu Asche verglüht war. Dann verrührte sie die Asche in lauwarmem Wasser. Mit dieser Methode, die aus uralter Familientradition stammte, waren hunderte von Babys geheilt worden. Gewöhnlich reichte eine Dosis von drei Tabletten. Aber auch nach sechs Tabletten entleerte sich ihr Kind weiterhin fast pausenlos. Leute aus der Hausgemeinschaft kamen herbei und gaben gute Ratschläge. Einige brachten Eisensulfatblätter, oder Wildgräser, oder gelb geröstete Portulakblätter2; oder angebrannten Reis, zu einem Getränk verkocht, alles vergeblich. Je mehr Flüssigkeit das Baby zu sich nahm, umso mehr kam wieder heraus. Alle diese Medikamente, die besten Kräuter, die die besten Wunderheiler von Hanoi empfahlen, bewirkten nichts. Chaus Mutter und ihre Schwestern und Nichten eilten herbei und bedrängten sie, das Baby ins Krankenhaus zu bringen. Ihr Bruder bot ihr an, es mit seinen Dienstwagen hinzufahren. Mitten in dieser ganzen Konfusion, bemerkte sie, dass nur seitens ihrer Familie Hilfe kam. Was Sai betraf, so tat er nur, was sie ihm mürrisch befahl: Und wenn man ihn dabei beobachtete, so würde man denken, er sei ein gleichgültiger Fremder ohne Sinn für Verantwortung dem Baby gegenüber. Umso mehr ärgerte sie sich, dass er es gewesen war, mit dem das ganze Unheil begonnen hatte. Wie konnte er nur, wo sie doch mitten in der Stadt wohnten, zulassen, dass das Baby so dehydrierte, ohne es ins Krankenhaus zu bringen?

In der Notfall-Aufnahme war der Puls des Babys sehr schwach und sein Blutdruck sank auf gefährliche Werte. Seine Augen waren leer und starr, seine Lippen trocken wie Stein; Seine Körpertemperatur stieg auf 41,2 Grad. Immer noch durfte es kein Wasser zu sich neh- men. Während sie außer sich war vor Sorgen, starb in einer anderen Abteilung der Kinderklinik ein drei Monate altes Baby auf dem OP-Tisch an Flüssigkeitsmangel. Als sie sah, wie das Kind weggebracht wurde, schrie Chau laut auf und fiel in Ohnmacht. Die Verwandten sahen Sai an, als wäre er ein Verbrecher. Wenn etwas passieren würde, würden sie ihn für schuldig halten am Verlöschen von gleich zwei Menschenleben. Sai war wie betäubt. Er rannte hin und her wie eine Marionette, Befehlen folgend oder fuhr jeden an, der ihm etwas zubrüllte. Er war erleichtert, wenn er aufgefordert wurde, irgend etwas zu tun, auch wenn er nicht verstand, wofür es gut war.

Da Chaus Bruder einige Erfahrungen gesammelt hatte, schickte er einen Wagen nach einem Freund, der Vizedirektor des besten Kinderkrankenhauses in der Stadt war. Der stellte ein Team von Ärzten und Studenten zusammen, die sich des Falls annehmen sollten. Trotz einiger Bedenken und seiner eigenen Unsicherheit, entschied er sich dafür, die bisherige Behandlung fortzusetzen und vor allem das Fieber zu bekämpfen und zu verhindern, dass das Kind in Krämpfe geriet.

***

Zwölf Tage und Nächte saß Sai am Bett und hielt die Nadel fest, damit sie nicht aus der Vene rutschte, wachte über jeden Tropfen Wasser, der langsam von der umgekehrt aufgehängten Flasche in den Schlauch fiel. Er wusste, dass wenn er die Tropfen zu schnell aufeinander folgen ließe, würden sie zurückschwappen, wenn es zu langsam ginge, würde eine Blockade entstehen mit der Folge einer ungenügende Versorgung. Tropfen für Tropfen flossen Dutzende von Litern Wasser und Blut in die Venen des Babys, und Said erlaubte es keinem von ihnen, schneller oder langsamer zu fließen als von der Krankenschwester eingestellt. Noch Jahre später würde er den Schmerz in seinem eigenen Körper fühlen, den er empfand, als die Krankenschwester eine Nadel in die Schläfe des Kindes stieß, oder in seine Stirn oder in seinen Knöchel. Wenn sie die Vene nicht richtig traf, wurde die Nadel wieder herausgezogen und hinterließ eine Blutspur. Die Krankenschwester duckte sich, ihr Gesicht zerfiel wie eine zerplatzte Tüte, aber ihre Finger fuhren fort, dem Baby die Spritze in den Kopf zu stoßen, immer wieder, auf der Suche nach der Vene, und murmelnd: „Ich kann einfach keine finden“. Laut stöhnend stieß er hervor: „Bitte ...“.

„Wenn Sie Angst haben, dass Ihrem Kind hier etwas passiert, warum nehmen sie es dann nicht mit nach Hause?“ erwiderte die Krankenschwester frech.

Chau war zwar in der ersten Nacht sehr schwach, saß aber an diesem und an den den nächsten Tagen neben ihrem Mann am Transfusionstisch, hielt die Nadel fest, wenn Sai rausging, um sich auszuruhen oder etwas zu essen, oder um im Hinterhof zu pinkeln, oder, wenn er es nicht mehr aushielt, einen Zug aus der Wasserpfeife zu nehmen. Nachts bestand er darauf, dass sie sich ausruhte und ihm das Baby anvertraute. Wenn es in dieser Zeit des Notfalls nicht gelang, den Zorn der Familie seiner Frau zu besänftigen, dann wohl nie. Zu Anfang waren sie von ihm eingenommen gewesen, weil er arbeitete und naiv war – die Leute fühlten, dass er zwar drollig war, aber auch charmant sein konnte – seine Drolligkeit war die eines Bauern, nicht eines Schwindlers. Er wurde geliebt, weil er verschüchtert und einsam zu sein schien, im Unterschied zu der routinierten Scharfsinnigkeit seiner Frau. Aber dann hatte er immer mehr den Eindruck der Inkompetenz erweckt. Jeder fühlte sich berufen, ihm Verachtung entgegenzubringen wie einem Dummkopf.

Als das Kind die Intensivstation verlassen konnte, blieb Chau im Krankenhaus, um stets bei ihm zu sein, und Sai trug Kleider und Windeln nach Hause, um sie zu waschen und seiner Frau das Essen zu bringen. Er versuchte zu kochen, was Chau mochte, gewissermaßen als Sühne für seine Nachlässigkeit, und Chau freute sich, wenn alle in der Nachbarschaft betonten, wie sehr ihr Mann sie verhätschelte. Aber trotzdem hinderte sie irgendetwas in ihrem Inneren daran, von ihrer Abneigung abzulassen. Sie wurde Sai gegenüber immer gleichgültiger, sprach nur mit ihm, wenn es unvermeidbar war, und selbst dann behandelte sie ihn wie einen Fremden. Als sie sich ineinander verliebt hatten, war die ganze Familie ihm gegenüber kühl gewesen. Aber er dachte, solange Chau ihn liebte, würde ihm das reichen. Als Chau aber, nach der Hochzeit, anfing, an ihm herumzunörgeln und ihn zu kritisieren, ging die Sympathie der Familie auf ihn über und er dachte, er habe in dieser Familie eine Quelle der Liebe und der Hilfe gefunden. Jetzt jedoch, da ihm Verachtung entgegenschlug sowohl von Chau, als auch ihren Verwandten, fühlte er sich wie ein Mann, der auf einen Baum geklettert ist in dem Glauben, an die Früchte heranzukommen, um dann erschöpft zu entdecken, dass die Entfernung immer noch viel zu groß war. Er hatte keine Kraft mehr, noch weiter zu klettern – aber jetzt aufzugeben würde demütigend sein. Zum ersten Mal, seit sie geheiratet hatten, fühlte er sich allein und vollständig unfähig. Zum ersten Mal hatte er Angst vor der Kälte, die er hinter den Blicken und Worten seiner Frau und ihrer Familie fühlte, einer Kälte, die es ihm unmöglich machte, einen Anlass für Glück zu finden. Wenn er in sich hineinblickte, konnte er nicht mehr den Mann entdecken, der er einmal hatte werden wollen. ...

***

… Sein alter Armee-Rucksack war erst auf dem Kleiderschrank gelandet, dann unter das Bett gequetscht worden, später hing er hinter der Tür, schließlich wurde er an einem Dachsparren befestigt, wo er nicht im Wege sein würde. Eines Morgens, als Chau auf einen Stuhl kletterte, um die Bettdecke aufzuhängen, stieß sie mit dem Kopf gegen den baumelnden Sack. Aus der Küche holte sie sich ein Messer, durchschnitt die Riemen und warf den Rucksack auf das Bett, in dem Sai nachts schlief. Sai bemerkte ihn erst am Abend, als er seinen Kopf auf etwas legte, was er für ein hartes Kissen hielt. Erstaunt betrachtete er die abgeschnittenen Riemen und sah die Bettdecke unter dem Dach hängen. Nun erst verstand er, was geschehen war. Er konnte sich sogar seine Frau vorstellen, wie sie dabei war, den Rucksack herunterzuholen.

Es war ihm, als hätte er einen Kloß im Hals. Er kriegte kaum Luft. Obwohl er hundemüde war, konnte er nicht einmal seine Augen zumachen. Er lag da, regungslos, traute sich nicht, auch nur einen Seufzer auszustoßen. Nachdem seine Frau das Licht ausgemacht hatte, lag er im Bett und betastete alle Gegenstände, die in seinem geliebten Rucksack waren. Als er dabei Dinge berührte, die er schon vergessen hatte, war er fast außer Atem, als erlebe er erneut die Strapazen der Vergangenheit, die Fieberanfälle, die Bombenangriffe, die Zeiten, in denen er in seine Feldflasche pissen und danach aus ihr trinken musste, die Nacht, in der sein Freund Them verwundet am Ufer des Bachs lag. Er brachte ihm die Feldflasche, dann trug er ihn weg und brach unter ihm und seinem Rucksack fast zusammen. Erst nach einer Weile wurde ihm klar, dass Them anscheinend keine Schmerzen mehr spürte. aber er begriff nicht sofort warum. Es war ihm entgangen, dass der Freund zu atmen aufgehört hatte. Er musste an diese Schüssel aus Metall denken. In der Nacht hatte er etwas Wasser hineingefüllt, damit Them seine Trockenration essen konnte, und der hatte geschrien: „Gib mir noch mehr, sei nicht so geizig, Bruder.“ Das war gerade ein paar Stunden her.

„O Them“, flüsterte er. „Ich bin in diesen letzten Jahren nicht zu deiner Mutter und deinen Brüdern gegangen – ich hatte keine Zeit und mir war nicht danach, keinen Gedanken hatte ich für dich übrig. Und jetzt habe ich nicht einmal mehr eine Heimat. Hier ist kein Platz für mich – hier bin ich nicht zu Hause.“

Anmerkungen:
1 Clausena Lansium, hellgelbe Beerenfrucht, Heilpflanze.
2 auch Postelein, eine Heilpflanze

Der Text ist ein Ausschnitt aus dem Roman
Echos aus der Vergangenheit (Thoi Xa Vang),
erschienen in Hanoi 1993.

Quelle:
The Other Side of Heaven,
Post-War Fiction by Vietnamese and American Writers.
Curbstone Press, Willimatic, 1995, S. 118-121.
Aus dieser englischen Fassung
von Nguyen Ba Chung und Wayne Karlin
übersetzt von Günter Giesenfeld.

Le Luu wurde 1942 geboren. Im Krieg war er Pressekorrespondent am Ho-Chi-Minh-Pfad im Bergland. Nach dem Krieg war er Herausgeber einer Literaturzeitschrift der Armee. 1987 wurde er mit dem Preis für den besten Roman ausgezeichnet.

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 2/2014

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