Stürmische Zeiten

Eine Erzählung von
Nguyen Dinh Thi

Sturm und Regen tobten die ganze Nacht ohne Unterlaß. Der Gelehrte Lang tastete sich, sein Bündel in der Hand, vorsichtig den schlammigen, rutschigen Weg entlang. Regenwasser lief ihm in Strömen vom Hut auf den aus Blättern gemachten Regenumhang. Er würde doch nicht in einer solch abgelegenen, einsamen Gegend umkommen müssen! Rund herum war nur das undurchdringliche Schwarz der tiefen Nacht. Langsam verlor er den Mut, aber es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen und weiter zu marschieren.

Der Regen fiel rauschend auf die Blätterkronen der Bäume. Der Weg führte durch dunkle Baumreihen, dann einen steilen Hang hinauf. Plötzlich erstarrte der Gelehrte und schaute regungslos auf ein flackerndes Rot vor ihm. Er gelangte an eine strohgedeckte Hütte, aus der ein tanzendes Licht heraus leuchtete.

„Lieber Hausherr, liebe Hausherrin, lassen Sie mich bitte ein. Seien Sie so gut und lassen Sie mich ins Haus ...“. Es blieb still, erst nach einer Weile fragte eine leise Stimme: „Wer ist denn da, in dieser stürmischen Nacht?“ „Ich habe mich verirrt. Bitte helfen Sie mir!“ Die aus Bambus geflochtene Hüttentür öffnete sich, der Schatten einer schmächtigen Frau mit Kopftuch erschien, in der Hand einen brennenden Span. „Himmel! Kommen Sie nur herein“.

Im Küchenherd brannte ein großes Scheit Holz. Die Wirtin warf noch einige Stücke hinzu, die Flamme loderte hell auf. Der Gelehrte Lang wärmte seine eiskalten Hände und trocknete den nassen Regenmantel. Die Frau war die einzige Bewohnerin des Hauses. Sie stellte den Wasserkessel auf, legte einige Maniok-Knollen in die heiße Asche, holte aus dem Küchenschrank in der Ecke ein kleines Tablett mit Gläsern und einer Flasche Reiswein.

„Trinken Sie ein Gläschen gegen die Kälte?“

„Gerne, ich bitte darum.“

Der Gelehrte nahm das Glas etwas zittrig entgegen. Der Schluck Alkohol breitete sich warm in seinem Körper aus, er fühlte sich wieder bei Sinnen. Als er sich umsah, stellte er fest, daß das Haus eigentlich ein kleiner Kiosk war, eingerichtet mit einem Liegestuhl aus Bambus und einer langen Holzbank an der Wand. In der Mitte des Zimmers standen Tisch und Stühle aus rohem Holz. Hinten befand sich, abgetrennt durch eine Bambuswand, ein weiterer Raum. Die Wirtin goß Tee auf und stellte einen Topf auf den Herd.

„Sie kommen sicherlich von weit her und sind hier fremd. Wohin wollen Sie eigentlich?“

„Danke. Ich gehe nach Yen Lap.“

„Was wollen Sie denn dort? Sie sehen aus wie jemand von der Tiefebene... Dort oben ist das Gebiet der Muong, haben Sie dort zu tun?“

„Ich will kein Geheimnis daraus machen, ich bin Lehrer1, da oben wohnt ein Landarzt, der will mich als Hauslehrer verpflichten.“

„Da haben Sie noch einen Tagesmarsch vor sich. Himmel, hinter diesem Dorf beginnt gleich der Urwald, nachts kommen sogar Tiger bis an den Dorfrand. Wenn Sie sich in so einer Nacht wie der heutigen darin verirrt hätten, hätte wer weiß was passieren können.“

„Ja, zum Glück ist meine Lebensuhr noch nicht abgelaufen!“

Der Gelehrte Lang trank noch ein Gläschen. Der Alkohol auf leeren Magen machte ihn bald schwindlig. Betrübt führte er sich sein Schicksal vor Augen, das ihn in diese Lage gebracht hatte, und trank weiter. Er sah die Frau an, sie mußte über vierzig sein, aber ihr Gesicht war noch attraktiv. Sie trug einfache braune Kleidung, aber ihr Verhalten zeigte deutlich, daß sie nicht vom Lande stammte.

„Verzeihen Sie, wenn ich indiskret sein sollte. Sie kommen sicherlich auch von unten, wahrscheinlich aus der Hauptstadt?“

„Ja, ich verbrachte einige Jahre in der Hauptstadt. Ich habe am Rand des Sees gewohnt, manchmal konnte ich sogar die Persönlichkeiten sehen, die sich zu Diskussionen im Literaturtempel einfanden.“

Der Klebreis war gar, sein anregender Duft verbreitete sich im Raum. Die Wirtin sagte freundlich:

„Da oben gibt es immer guten Klebereis. Wenn Sie in die Gegend hinter Phu Yen kommen, da essen die Thai nichts anderes.“

Als der Gelehrte Lang die Reisschale entgegennahm, mußte er plötzlich mit den Tränen kämpfen, zum einen aus Selbstmitleid, zugleich aber auch gerührt durch das gute Herz der fremden Frau. Die Wirtin fegte die Asche beiseite, holte eine Maniok-Knolle heraus, klopfte die Asche ab, schälte die dünne Haut und pustete kräftig, damit sie etwas abkühlte. Dabei fragte sie weiter:

„Ich habe von Unruhen in der Hauptstadt gehört. Gab es viele Kandidaten bei der letzten Prüfung?“2

„Oh Gott, was fragen Sie da noch! Noch nie hat ein König solche Regeln erlassen. Der König hört nur noch auf den Präfekten Tiep. Da jeder Bewerber für die Zulassung zur Prüfung nichts weiter tun muß, als drei Goldpiaster zu entrichten, ist dort ein Gewimmel wie im Ameisenhaufen. Die Absolventen werden von den Leuten ‚Drei-Piaster-Kandi­daten‘ genannt. Und der Prüfungsvorsitzende schmuggelt sogar als Mann verkleidete Mädchen auf das Gelände für seinen nächtlichen Bedarf.“

„So was!“

„Ja!“, seufzte der Gelehrte. „Die Leute sind unruhig. Das Problem mit dem Präfekt Heo im Osten ist noch nicht gelöst, da kommt die Revolte von Lap Thach. Und ausgerechnet in solchen Zeiten geht es bei den Prüfungen so zu!“ Er lachte bitter. „Indessen habe auch ich selbst es versucht, habe gehofft, als einer dieser ‚Drei-Piaster-Absolventen‘ ein Amt zu bekleiden. Aber das ist leider fehlgeschlagen, wegen eines einzigen falsch verwendeten Wortes; dabei hatte ich noch Glück und wurde nicht bestraft.3

Das einfache Essen hatte die beiden irgendwie vertraut gemacht. Ohne groß darüber zu reden, verstanden sie einander, fühlten sich beide in einer unglücklichen Lage. Der Gelehrte erhob das Glas:

„Ich werde nie vergessen, was Sie heute für mich getan haben!“

Die Frau erröte.

„Schon gut, nichts zu danken!“

„Ich sage das in vollem Ernst. Ich bin aus dem Alter der leicht dahingesagten großen Worte heraus, die, kaum gesprochen, schon vergessen sind. Gegen Ende meines Lebens sehe ich nun, daß die vielen, vielen Jahre des Studiums vergeblich waren, vergeudete Zeit. Aber angenommen, ich wäre ein Geschäftsmann geworden, hätte mir in meiner Heimat, in Pho Hien, einen Seidenhandel aufgebaut, dann könnte ich mir heute jeden Wunsch erfüllen!“

„Ja ...“ lächelte die Frau. „So, Sie stammen also aus der Region Pho Hien.“

„Ja, aus Khoai Chau. Und Sie, woher kommen Sie?“

„Ich bin von Thuan Thanh.“

„Aha, aus Kinh Bac! Aus Ihrer Zeit in der Hauptstadt kennen Sie vielleicht die Sängerin Xuan Hoa? Ihr Haus stand auch am Seeufer. Sie stammt auch aus dem Norden!“

„Ja, ich kenne sie.“

„Die Frau war einzigartig als Musikerin und Sängerin. Aber auf einmal war sie verschwunden, keiner weiß, wo sie ist. Also Sie kennen Xuan Hoa auch.“

„Ja, in jenen Tagen wurde Frau Xuan Hoa einmal für eine Darbietung in den Palast des Präfekten Tiep geholt, und ich war auch dabei. Ja, ich gehörte zu ihrem Begleitorchester. Einige Zeit lang hat die Gruppe in der Hauptstadt eine gewisse Aufmerksamkeit erregt, aber heute ist sie in alle Richtungen zerstreut. Das ist eben das Los der Musikanten und Sänger: Sie sind ohne Zukunft.“

„Und wo ist Xuan Hoa heute?“

„Sie ist tot, sie ist gestorben ...“

Die Frau schenkte sich ein Gläschen ein, trank einen Schluck, seufzte, tief in Gedanken verloren. Im Haus war es still. Der Regen tröpfelte nur noch. Ein kalter Wind blies durch das Bambusgeflecht, die Flammen im Küchenherd züngelten hoch wie tanzende Lichter.

Die Frau lachte plötzlich. Als sie sah, daß der Gelehrte sie anblickte, verdeckte sie mit einer Hand den Mund.

„Verzeihen Sie. Was Sie über die verkleideten Mädchen bei den Prüfungen erzählt haben, erinnert mich an eine alte Geschichte. Ich kannte ein Mädchen aus guten Hause. Unglücklicherweise wurde sie, vertrauensselig wie sie war, unverheiratet schwanger. Aus Angst vor Kritik und beschämenden Strafen verließ sie ihr Elternhaus, geriet in Schwierigkeiten und mußte schließlich ihren Lebensunterhalt als Prostituierte verdienen. Sie hat sich dann ausgedacht, als Junge verkleidet die Pagoden aufzusuchen und dort die Mönche zu verführen. Aber dann hat ein grausamer Mönch sie geschnappt und monatelang heimlich in einem Raum hinter der Pagode festgehalten und mißbraucht.“

Der Gelehrte Lang war inzwischen ziemlich betrunken, er hockte dösend beim Herd, trank langsam seinen Reiswein, sagte gelegentlich „ja, ja“ zu der Frau, die angeregt weitersprach.

„Ja, und wissen Sie, ich habe gehört, die Sängerin Xuan Hoa mußte deshalb fliehen, weil ein gewisser hoher Mandarin sie eines Tages zu einer Darbietung anläßlich eines Banketts in seiner Residenz anforderte. Die Frau des Mandarins war gerade nicht da. Er hatte sich leidenschaftlich in die Sängerin verliebt und nötigte sie, die Nacht bei ihm zu verbringen. Gezwungenermaßen machte sie gute Miene zum bösen Spiel. Dann aber stürzte sich plötzlich die Schwiegermutter des Mandarins voller Eifersucht auf die Sängerin; beide beschimpften und ohrfeigten einander. So kam heraus, daß er eine unmoralische, lasterhafte Beziehung zu seiner Schwiegermutter unterhielt. Und noch dazu war die Frau des Mandarins gerade im Palast und schlief mit dem König. Der König wiederum schlief sogar mit der Nebenfrau seines Vaters, so daß ihn um ein Haar der Blitz erschlagen hätte!“

Der Gelehrte Lang gab einen lauten Schnarcher von sich und riß die Augen weit auf:

„Was es nicht alles gibt!“

Die Frau stand lachend auf:

„Genug, Sie müssen schlafen. Morgen haben Sie noch einen langen Weg.“

„Ja, geben Sie mir die Matte da, ich lege mich neben den warmen Ofen.“

Bald schlief er ein, auf der Matte zusammengerollt, und schnarchte unentwegt. Irgendwann in seinem Schlaf bemerkte er vage, daß jemand ihn mit einer Decke zudeckte.

Als er erwachte, war der Tag schon lange angebrochen. Vögel zwitscherten auf dem Dach. Im Herd glimmte ein Holzscheit, leichter Rauch stieg auf. Niemand war im Hause.

Der Gelehrte ging hinaus und suchte den Brunnen, um sich zu waschen. Auch in dem kleinen Garten konnte er seine Wirtin nicht entdecken. Vielleicht war sie in der Frühe zum Markt gegangen.

Ins Haus zurückgekehrt, fand er auf dem Tisch, neben seinem Bündel, auf dem sorgfältig zusammengefalteten Regenmantel eine große Portion Klebreis, Wegzehrung für zwei Tage. Der Gelehrte packte sein Bündel, setzte seinen Hut auf, nahm den Regenmantel, und trat durch die halboffene Tür aus dem Haus. Er schloß die Tür sorgfältig zu und machte sich auf den Weg. Der Regen hatte aufgehört, aber graue, schwere Wolken zogen, in mehreren Schichten übereinander aufgetürmt, über den Himmel.

Schnell ließ der Gelehrte das kleine Dorf mit seinem Dutzend an die Hügel gelehnten Häusern hinter sich. Der Pfad führte in den Urwald, wo die Kronen der hohen Bäume fast an die tief hängenden Wolken stießen. Kräftig schritt er aus, den Kopf voller grüblerischer Fragen. Wer ist sie nur? Wer ist diese Frau?

Anmerkungen der Übersetzerinnen:
1 thay do, wörtl.: Lehrer der klassischen chinesischen Sprache
2 Es handelt sich um das traditionelle Konkurrenzexamen, das unter den Ly und den Tran-Dynastien im 11. und 13. Jahrhundert kodifiziert und regularisiert wurde. Es gab lokale, regionale Prüfungen und eine auf nationalem Niveau. Sie fanden alle drei Jahre statt, jeder konnte sich melden. Ein bestandenes Examen bedeutete je nach Niveau einen Titel und eine feste Anstellung am Hof oder als lokaler Beamter (Mandarin, Gelehrter). Wer nicht bestand oder keine Stelle fand, ging in sein Dorf als Lehrer zurück. Geprüft wurden nur die konfuzianische Lehre, Geschichte und Literatur, nicht aber Wissenschaften und praktische Kenntnisse. Die letzten Examina dieser Art fanden 1918 statt.
3 In den Prüfungen durften die Kandidaten gewisse Tabu-Wörter, die im Zusammenhang mit der Dynastie standen, nicht verwenden. Bei Verstoß wurden sie sofort ausgeschlossen, in schweren Fällen sogar bestraft.

Originaltitel: Mua Gio, veröffentlicht in:
Nguyen Dinh Thi: Tuyet. Tap Truyen Ngan [Schnee. Kurzgeschichten], Hanoi 2003
Aus dem Vietnamesischen übersetzt
von Bach Nguyen-Tuong und Marianne Ngo
Illustration: Nguyen Dinh Thi im Jahre 1945, Zeichnung von Sy Ngoc,
Aus Nguyen Dinh Thi. Cuoc doi & Su Nghiep, Hanoi 2004

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 2/2003

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