Zwei junge Männer

Illustration von Dao Quoc Huy

Kurzgeschichte von Le Minh Khue

Der elend lange Bus wand sich schaukelnd und stockend durch den städtischen Stoßverkehr mit dem schier undurchdringlichen Strom von Menschen und überquerte schließlich die Brücke zur Innenstadt.

Es war Abends um Halbsieben nach vietnamesischer oder Achtzehn Uhr dreißig nach westlicher Ausdrucksweise. Einem Gerücht irgendwoher aus dem Westen zufolge war das die Stunde, zu der einen das Unglück treffen konnte, oder aber auch das Glück. Wie dösende Störche standen die Passagiere im Bus, dicht gedrängt, Arm an Arm, Schenkel an Schenkel, wie unglückliche Busreisende in der Kriegszeit.

Der Bus hielt in der Nähe einer Schule. Ein Pulk Schüler und andere Wartende versuchten hektisch, durch die sich öffnende Tür hereinzudringen, bevor noch Leute ausgestiegen waren. So quetschten sich noch weitere Personen in den augenscheinlich völlig überladenen Bus. Vermutlich deshalb wurde die Bustür plötzlich wuchtig zugeschlagen. Wie ein Schuss vor den Bug.

Der Fahrer, den ganzen Tag angespannt wie das Kabel eines Kran-Auslegers, hatte es einfach satt. Als er das dichte Gewühl sah, murrte er aufgebracht: „Scheiße, was müssen die so drängeln wie die Maden…“ Dann drückte er wiederholt den Knopf zum Schließen der Tür. Unter den Dränglern befand sich ein junger, siebzehnjähriger Schweißer-Lehrling vom Lande, der gerade bei einem Bauprojekt für ein 50-stöckiges Gebäude eingesetzt war. Der Junge war zu langsam. Ein Bein im Bus, das andere draußen, stieß er einen Schrei aus. Der Bus stoppte abrupt. Was war los? Was passiert? Ein Unfall!

Die Bustür sprang auf. Der Junge stürzte auf den Bürgersteig. Der Schaffner stieg aus, tastete den Jungen ab, wischte das Blut ab und sagte an den Fahrer gerichtet: „Er hat sich bloß den Fuß eingeklemmt.“

Inzwischen versuchten andere Verkehrsteilnehmer, die Unglücksstelle zu passieren, sie forderten lautstark, Platz zu machen. „Bringt ihn ins Krankenhaus!“ „Gebt ihm Schmerzensgeld und ruft ein Taxi!“ „Macht schon!“ „Das ist eure Pflicht. Ihr wollt euch doch wohl nicht darum drücken!“… Hitzige Rufe. Argumente und Gegenargumente. Vorschläge für eine angemessene Entschädigung…

Der Junge mit dem runden Gesicht und dem dunklen Karo-Hemd, das bei dem Vorfall am Ärmel zerrissen worden war, kniff die Augen zusammen, weil ihn die Bus-Scheinwerfer blendeten. „Es ist nicht so schlimm. Mir ist nichts passiert. Ein einfacher Verband, das genügt!“

Der junge Busfahrer bückte sich hinunter und bandagierte brummend den Fuß des Jungen: „Wieso musstest du dich bei dem Gedränge auch noch dazwischen quetschen?“ „Ich habs eilig!“ „Ich vielleicht nicht?“ „Hier, da hast du 200.000 Dong für die Krankenstation dort drüben, lass dich ordentlich versorgen ...“ „Lassen Sie nur, fahren Sie weiter, ich komme schon zurecht. Ich will kein Schmerzensgeld, das ist nicht nötig.“

Die Menge hielt den Atem an, um dann förmlich zu explodieren, als der Bus schaukelnd Fahrt aufnahm und sich entfernte. „Dieser Trottel nimmt noch nicht einmal eine Entschädigung an!“ „Das war dumm von dir, so was geht vielleicht da wo du herkommst, aber wenn du in den Strudeln dieser Stadt nicht untergehen willst, darfst du nicht so naiv sein, das ist lebensgefährlich…“

Ein Paar in den Siebzigern, mit den kräftigen Laufschuhen offenbar unterwegs zum Sport, blieb gaffend stehen. Der Mann zog die Frau weiter und kommentierte: „Also, wenn ich im Bus sitze, und mein Fahrer rumpelt hinein in so einen Haufen sturer Lümmel, dann passiert eben sowas. Nirgendwo gibts solche Dummköpfe wie hier.“ Die Frau stimmte eifrig nickend zu: „Recht hast du! Nun reg dich nicht auf!“

Als die Menge sich zerstreute, versuchte der Junge aufzustehen, aber er schaffte es nicht. Jetzt erst spürte er den Schmerz. Einen heftigen Schmerz, der ihn aufstöhnen ließ. Er schaute auf die Straße. Die funkelnden Sturzhelme der Motorradfahrer, die grellen Lichter ihrer schnellen Maschinen bahnten sich den Weg wie ein Zug tausender Roboter in einem Science Fiction-Film, und plötzlich fühlte er sich sehr allein. Niemand kümmerte sich mehr um ihn.

Genau in diesem Moment streckte sich ihm eine Hand entgegen. „Versuch, aufzustehen, ich helfe dir.“ Und dank der Hand, dank der Stimme, dank der Hilfsbereitschaft dieses Fremden gelang es dem Jungen, hochzukommen. Unwillkürlich stützte er sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf den jugendlich-starken Unbekannten. „Bestimmt hast du dir den Fuß verstaucht, als er in der Bustür eingeklemmt wurde. Komm, setz dich auf meinen Gepäckträger, ich bring dich zur Untersuchung, das darf man nicht länger aufschieben. Übrigens, ich heiße Tien1.“ „Tatsächlich Tien?“1 „Ja, ganz recht. Geld ist doch das, was wir alle ständig brauchen für unseren Lebensunterhalt.“

Der Junge musste an die Warnungen denken, dass unerfahrene Leute vom Land oft beraubt, betrogen, in üble Gesellschaft hineingezogen würden. Aber hier nahm er nur aufrichtige Anteilnahme wahr, die dargebotene Hand half ihm auf wie einem Kind. „Ich bin Ton“, stellte er sich vor und nannte sein Heimatdorf und seinen Beruf.

„Warum gibt man heutzutage Kindern noch so eigentümliche Namen?“

„Meine Mutter erklärte mir, ich sei nach meinem Großvater väterlicherseits benannt worden; mein Großvater ist im Krieg gestorben, als großer Held, deshalb sollte sein Name mir Glück bringen.“

Der Fuß musste geröntgt werden. Der Fußwurzelknochen war angebrochen. Er müsse zwei Wochen liegen und den Fuß mit einer Schiene fixieren; der Bluterguss brauche ihn nicht zu beunruhigen. Offenbar aus Mitleid legte die Privatklinik ihm eine Rechnung vor, die seinem Monatsverdienst als Lehrling angemessen war.

Ton war unsicher, was jetzt werden sollte mit der langen Genesungszeit: „Ich teile mir ein Zimmer mit zwei Moped-Taxifahrern in einer Unterkunft jenseits der Brücke“, erzählte er Tien. „Dort ist es billig. Ich nehme wie immer spät am Abend den Bus über die Brücke, und wenn ich nach Hause komme, liegen die beiden schon im Bett. Die Matratze, die tagsüber darunter verstaut wird, ist meine Schlafstelle. Ich habe noch ein bisschen Geld, davon kann ich mir am Eingang zu unserer Gasse etwas zu essen kaufen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen!“

Tien erwiderte darauf: „Das ist eine lange Zeit ohne Einkommen, und du hast lediglich ein paar tausend Dong.“

„Mach dir keine Sorgen. Wenn du mich jetzt zur Haltestelle bringst, kriege ich noch den letzten Bus nach Hause auf die andere Seite der Brücke.“

Tien betrachtete den Jungen eingehend. Tin hatte das Entschädigungsangebot des Busfahrers nicht angenommen, und er hatte keinerlei Forderung gegenüber den Dränglern erhoben („Wenn du so dumm bist, dann geh doch zurück in deine Heimat, da kannst du dich über Wasser halten!“). Dann sagte er entschieden: „Komm mit zu mir, es ist hier in der Nähe. Gib mir deine Hand, ich helf dir. Nein, keine Widerrede! Sei ganz ruhig!“

Tiens Unterkunft lag in einer schmalen Gasse, die sich wie ein Geheimgang mitten in der Stadt dahinschlängelte. Abgesondert von einem großen Gebäude mit Mietwohnungen für öffentliche Bedienstete, bestand sie aus einem Zimmer mit seperatem Eingang und eigener Küche. In der Mitte des Zimmers war Platz für das Moped, zwei Betten standen an den Seitenwänden. Es duftete nach Essen. „Lan, komm her und hilf mir mit ihm!“, rief Tien einer jungen Frau zu, die eine rote Bluse trug. Die zog ein langes Gesicht, als sie Ton erblickte: „Soll der etwa hier schlafen? So eine Situation bringt ein hübsches Mädchen schnell in Verruf. Das heißt, ich muss hier weg!“, sagte sie.

„Gut, übernachte besser bei deiner Freundin Thinh. Ton hier ist mein jüngerer Bruder, er hatte einen Unfall und wird eine Weile bei mir wohnen...“

„So, dein jüngerer Bruder? Dieses Jahr hast du schon zwei jüngere Brüder aufgenommen. Reicht das nicht?“

„Sei nicht so gemein! Jeder braucht mal Hilfe.“

Trotz ihres Unmuts deckte Lan den Klapptisch im Flur und trug das Essen auf: Eine Gemüse-Fisch-Suppe und ein Gericht mit geschmortem Rindfleisch, ein sorgfältig vorbereitetes Abendessen für zwei Personen. Ton fing zögernd an zu essen ? er wollte vieles sagen, wusste aber nicht wie. Lan hatte offenbar ein gutes Herz, sie war nicht so abweisend, wie sie zunächst wirkte. „Greif zu! Wegen dieser Verletzung am Fuß verlierst du bestimmt deinen Job. Zum Glück bist du Tien begegnet, das heißt, alles wird gut.“

Sie räumte ab, spülte das Geschirr, verstaute den Tisch, schüttelte bei beiden Betten die Kissen auf, sagte, es sei noch Brot da, wenn sie Hunger hätten, könnten sie sich dazu ein paar Rühreier machen. Dann holte sie ihre kleine Reisetasche aus der Ecke und ging hinaus, um mit einem Moped-Taxi zu ihrer Freundin zu fahren.

Ton fiel in einen tiefen Schlaf, er hatte ein Schmerzmittel genommen, das ihn sehr müde machte. Geweckt wurde er von lärmenden Mopeds und fröhlichem Kindergeschrei draußen auf der Gasse. Jemand hatte ihn gegen die kühle Herbstnacht mit einer Decke geschützt. Neben dem Bett stand ein Teller mit einem Stück Brot, belegt mit Rührei. Und er fand eine Notiz von Tien: „Ich habe für dich ein Mittagessen bestellt, das dir hierher geliefert wird. Beweg dich nicht zu viel. Ich komme am späten Abend heim. Hüte bis dahin das Haus für mich!“

Tiens Unterkunft war fast leer, abgesehen von einem alten Fernseher und zwei Koffern, aber nun konnte Ton nicht weggehen, das war er Tien schuldig. Der Tag schleppte sich dahin mit Fernsehgucken: eine Liebesgeschichte nach der anderen, die sich aufs Haar glichen, mit ihren erfolgreichen, rotwangigen, wohlhabenden Helden. Wenn er einen Wunsch frei hätte, würde er so leben wollen wie jene Akteure in den Werbespots für Herren-Parfum.

Tien kehrte meist spät heim. Lan kam vorbei und kochte mit ernster Miene umsichtig und geschickt für sie. Drei Menschen, drei unterschiedliche Persönlichkeiten, kamen spät am Abend zusammen, so, wie das Blut zum Herzen zurückströmt. Und mit einem Mal fühlten sie sich zufrieden und glücklich. Während der Mahlzeit sagte Tien gewöhnlich gar nichts. Lan dagegen erzählte Begebenheiten von der Straße, gespickt mit allerhand Ausdrücken, die Bauarbeiter oder Moped-Taxifahrer untereinander verwendeten. Ton saß meist mit rotem Kopf dabei, musste aber trotzdem lachen, manchmal so sehr, dass er sich dabei verschluckte. Einmal ging es um einen jungen Kerl namens Qua, der sich zwei Monate lang bei ihnen breitgemacht hatte. Obwohl er schmächtig war wie eine Zuckerstange, verdiente er keineswegs schlechter als Tien.

„Kannst du erraten, womit er sein Geld verdient hat, Ton?“

„Klärt mich auf.“

„Durch einen besonderen Service beim Studium. Er hat einen Beruf daraus gemacht. Hier gibt es einige Hochschulen, er hatte genug Kunden. Die zogen nachts durch die Kneipen, das machte denen mehr Spaß, als morgens in der Vorlesung zu sitzen. Stellvertretend für sie ging Qua hin. Es kam nur darauf an, dass der Dozent die Teilnehmerliste aufrief und den betreffenden Studenten als anwesend abhakte. Der hatte Muße und konnte sich seinen Vergnügungen widmen, er konnte sich auch schon morgens herumtreiben. Oder spontan einen Besuch zu Hause machen. So „studierte“ Qua an zwei Hochschulen und konnte sich dabei, schlau wie er war, breite Kenntnisse in mehreren Fächern aneignen. Aber andererseits machte ihn die Habgier unvorsichtig. Um seinen Kundenkreis zu erweitern, hängte er einen Werbezettel ans Schwarze Brett: „Biete Stellvertreter-Studium!“ Da kam man ihm auf die Schliche. Angeblich saß er eine Weile im Knast. Tien brachte ihn hierher zurück und fütterte ihn monatelang durch, bis er dann plötzlich verschwand.“

„Was ist aus ihm geworden?“

„Keine Ahnung.“

„Du hast ihn monatelang durchgefüttert, und er hat es kein einziges Mal für nötig gehalten, dich aufzusuchen und Danke zu sagen!“, schimpfte Lan.

Tien wiegte den Kopf: „Vielleicht steckt er in Schwierigkeiten. Wahrscheinlich ist er auf Arbeitssuche.“

„Für dich war das ein Reinfall. Wenn es so weiter geht, wirst du dann jemals genug Geld für eine etwas größere Wohnung haben? Genug Geld, um eine Familie zu gründen? Das ist jetzt kein Antrag meinerseits, keine Angst, ich erwarte nicht, dass du mich heiratest. Ich wohne schon so lange bei dir, dass ich weiß, dass deine Kanone wohl geputzt und geölt ist, dass es aber noch an Feuer und Rauch fehlt. Es braucht noch die Leidenschaft einer Frau, um das Feuer zu entfachen. Ich sage das, um klarzustellen, dass du keine Verpflichtung mir gegenüber hast!“

Tien bog sich vor Lachen, als er sah, wie es Ton die Sprache verschlug bei Lans Tirade. „Ton, iss weiter“, sagte Lan. „Lass dich nicht abschrecken von meinen Launen. Du wirst kaum noch einen solchen hochherzigen Menschen finden wie ihn!“

***

Langsam kam der Herbst, das Laub der Drachenbäume färbte sich bunt, aber Ton konnte vom Zimmer aus zusehen, wie die Bäume wegen des Bauprojekts für eine Straße quer durch ihr Stadtviertel werktags einer nach dem anderen verschwanden. Und auch der Perlmutt-Baum war auf barbarische Weise verschwunden, unter dem jeder gerne saß, und dessen Stamm so dick war, dass man ihn zu zweit gerade umfassen konnte. Mit ihren scharfen Zähnen fraß sich die Motorsäge in das Holz. Der Baumstumpf war rot, als würde er bluten. Das überschwemmte sein Herz mit einem Gefühl der Einsamkeit, der Schutzlosigkeit. Niemand erbarmte sich. Der arme Baum!

Fast zwei Wochen waren vergangen. Tien hatte alles geregelt. Er hatte Tons Vorgesetzten angerufen, und der hatte zugesagt, dass Ton nach seiner Genesung – wie lange das auch dauern möge – wieder seinen Arbeitsplatz einnehmen könne. Das habe sich dieser fleißige, tüchtige Junge verdient!

Es war Nacht. Ton hörte, wie sich Tien auf dem gegenüberliegenden Bett hin und her wälzte. Er fragte ihn aber nicht, was los sei. Tien fragte ihn ja auch nicht nach seinen persönlichen Angelegenheiten. Welch unterschiedliche Lebenswege sich doch unerwartet kreuzten. Und dann traf man auf so einen guten Menschen. Er dachte an seinen Stiefvater, den Trunkenbold. An die entsetzlichen Stockhiebe auf den Rücken, die dieser Kerl seinem Stiefsohn immer wieder versetzte. Aber dessen Wangen waren trotz ihrer Armut immer noch voll, und seine Haut war immer noch hell. Bestimmt deshalb, weil seine Frau heimlich Geld beiseite schaffte, das ihrem Sohn zugute kam – so schimpfte er. Was auch immer in der Familie vorfallen mochte – der Kerl griff zum Stock. Zu der Tragestange, mit der Tons Mutter jeden Tag das Gemüse zum Markt brachte. War er mit dem Prügeln fertig, drohte er: „Ein Wort zu deiner Mutter, und ich schmeiß dich in den See, dann kannst du bei den Fischen schlafen...“

Als er so an sein entlegenes Heimatdorf zurückdachte, musste Ton bitterlich weinen. Draußen die öde nächtliche Straße. Ton versuchte, das Schluchzen zu unterdrücken, aber es war trotzdem zu vernehmen. Tien wachte auf und kam sachte an seine Seite. „Was ist mit dir? Hast du Schmerzen?“ „Nein, das ist es nicht!“

Gedankenverloren, ungestüm wie der Wirbelwind um die Berggipfel tobt, fielen sich die beiden jungen Männer in die Arme. Ton, der Kleinere, lehnte sich an Tien, der großgewachsen war, breite Schultern, einen kräftigen Nacken und starke Arme hatte. Sie glichen denen eines Lastträgers im Hafen, gleichzeitig hatte er aber auch etwas Geschmeidiges, Beschützendes an sich. Aber es erfolgte kein zärtliches Wort, kein forschendes Betasten – sie umarmten einander, und dann legten sie sich nieder mit einem sonderbaren, nie zuvor empfundenen Gefühl, so etwas wie brüderliche Ergebenheit, freundschaftliches Vertrauen. Keiner von beiden sagte noch etwas. Sie fielen in einen tiefen Schlaf, ihr Herz erfüllt von klarer, reiner Menschenliebe...

Mehrere Tage folgten darauf, mehrere Nächte. Zwischen den jungen Männern entwickelte sich etwas, das man Liebe nennen musste.

„Wenn du wieder arbeiten gehst, wohnst du weiterhin bei mir. Ich kümmere mich um alles, keine Sorge!“, sagte Tien und tätschelte Tons volle Wangen, berührte seine großen Ohrläppchen. Er zählte die flaumigen Härchen im Gesicht seines jungen Freundes. „Du gehörst zu mir. Verlieb dich ja nicht in einen anderen!“

***

Eines Morgens machte sich Ton fertig, um seine Arbeit auf der Baustelle wieder aufzunehmen. Die Beiden waren einen Tag lang getrennt. Die Sorge um Ton riss das Herz des Älteren schier entzwei: Tien fürchtete, Ton könnte mit seinem wehen Fuß hoch oben auf dem Gerüst das Gleichgewicht verlieren. Er war in Sorge wegen der Fahrt im vollgestopften Bus zur Hauptverkehrszeit. Oder vielleicht hatte der Junge Hunger. Voller Angst schaffte Tien es nicht, sich zurückzuhalten: Als Ton spät am Abend heimkam, umarmte er ihn stürmisch mitten im Zimmer. Eine lange, innige Umarmung.

Lan kam wegen irgendeiner Sache herein und wurde, zum ersten Mal in ihrem Leben, Augenzeugin einer solchen Szene. Sie schrie auf: „Was macht ihr denn da?“

Gleichmütig, als sei alles ganz normal, lösten sich die beiden voneinander. Tien sagte leise: „Bilde dir nichts ein. Ich habe ihn gern, so wie ich dich gern habe, das ist alles.“

„Und wie gern hast du mich denn“, schluchzte Lan, „ich weiß genau, dass du auf mich herabschaust, weil ich bloß eine Masseuse bin. Voller Geringschätzung, weil die Leute sich ausmalen, eine Massage sei ein süßer Zeitvertreib. Das ist aber ganz und gar nicht so. Ich sage dir, dass weder du noch sonst jemand Freude daran finden würde, Tag für Tag fremde Rücken, Beine zu berühren, wenn alte Säcke dich anmachen wollen, mit Mundgeruch und fauligen Geschwüren. Einer anderer hat vielleicht kein Geschwür, dafür aber eine stinkende Achselhöhle. Das sind Typen, die mitten in der Massage plötzlich alles auf den Kopf stellen und behaupten, man habe sie betrogen. Typen, die sich in die Massagekabine begeben und vorsätzlich keine Unterhose tragen. Typen, die dich nur herumkommandieren wollen. Diese ganzen Typen sind einer wie der andere verkorkst und verkommen. Aber Ekel und Abscheu helfen auch nicht weiter! Man muss durchhalten, muss es ertragen. Muss die Massage ernsthaft ausüben. In kaum einem anderen Beruf muss man so schwer schuften, Nacht für Nacht schmerzt der Rücken, man kann sich nicht aufrichten. In diesem Beruf kann man allerdings an Trinkgeldern ohne weiteres einige Hunderttausender mehr verdienen als anderswo.“

Sie schluchzte, heulte Rotz und Wasser. Worauf wollte Lan hinaus? Die beiden jungen Männer saßen da mit hängenden Schultern und dummem Gesicht wie gescholtene Kinder.

„Jetzt weiß ich Bescheid. Du kannst mir nichts vormachen. Für mich ist das nur ein verdammtes Spiel. Du verachtest mich nämlich. Jetzt bin ich mir da ganz sicher.“

„Da liegst du aber falsch. Wann hätte ich denn auf dich herabgeschaut?“

„Na gut. Aber nie hast du mich so umarmt wie du diesen Jungen hier umarmst. Das macht mich fertig. Du umarmst ihn, als hieltest du Himmel und Erde, die ganze Welt in deinen Armen. Ein Herz und eine Seele. Wenn ich einmal im Leben so von jemandem umarmt würde, dann wäre das die Befreiung von diesem Erdenleben und der Flug direkt in den Himmel. Schluss jetzt, ich räume das Feld für deinen Freund hier.“

Erschrocken griff Ton nach Lans Hand. Die betrachtete die zierliche, unverbrauchte Hand des Jungen, die so gar nicht zu einem Arbeiter passen wollte, dann fand sie das irgendwie unangebracht und zog ihre Hand mit einem Ausdruck von Abscheu zurück. „Fass mich nicht an!“

„Bitte geh nicht, Tien braucht deine Hilfe im Haushalt und beim Essen kochen. Ich will dich keinesfalls verdrängen. Ich werde abends nach der Arbeit wieder in meine Unterkunft jenseits des Flusses gehen, dort habe ich die Miete für ein halbes Jahr vorausbezahlt.“

„Danke! Ich werde mir das überlegen“, antwortete Lan.

„Was gibt es da zu überlegen?“, sagte Tien, „Wir gehören doch alle zu den Armen, zum Bodensatz der Stadt, warum sollten wir einander hassen? Uns beide verbindet schon lange eine herzliche Beziehung. Lass dich hier immer mal wieder sehen… Schau mal, dieser Junge hatte in seinem Unglück doch niemand außer uns.“

Aber die hübsche Lan bedachte die beiden jungen Männer mit einem vorwurfsvollen, abschätzigen, aber auch neidischen Blick – vielleicht überwog der Neid sogar. Sie griff sich eine Art Schulranzen, in dem ihre Sachen verstaut waren, und ging entschlossen fort.

Die beiden jungen Männer schauten einander an. „Mit der hab ichs mir wohl verdorben,“ murmelte Tien, dann klopfte er Ton auf die Schulter: „Schluss jetzt, es geht auch so. Ich möchte dir helfen. Kümmere dich nicht um Lan. So war sie schon immer ...“

Ton dachte an jenen Tag zurück: Abends um Halbsieben. Er hatte irgendwo gelesen, dass einem zu dieser Stunde Unglück begegnen konnte – oder Glück.

Einem Menschen vertrauen können, sich auf einen Menschen verlassen können, das war Glück.

Draußen lärmte die Stadt, sie war grausam zu den Schwachen. Ton schaute auf die starken Schultern seines warmherzigen, hilfsbereiten Freundes. Warum sollten nur Frauen sich auf diese Schultern stützen dürfen?

Quelle: Giua hai dua trai
aus der Kurzgeschichten-Sammlung
Lan gio chay qua [Ein flüchtiger Hauch],
Ho Chi Minh-Stadt 2016,
übersetzt von Marianne Ngo;
Eine (gekürzte) englische Fassung von Van Minh
ist abgedruckt in VNS 19.7.2015

Anmerkung dee Übersetzerin:
1 d.h. Geld

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 3-4/2016

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