Anruf
um
Mitternacht


Eine Erzählung
von Ta Duy Anh


Das erste Mal rief er um Mitternacht an. Er klang, als habe er etwas getrunken. Aber das war alles, was ich feststellen konnte; mein Job erlaubte mir nicht, die Nase in die Angelegenheiten der Kunden zu stecken. Nach kurzem Zögern fragte er: "Weiß der 1080-Service ein Mittel gegen Einsamkeit?"

Fast hätte ich ins Telefon gelacht. Aber mein professioneller Instinkt sagte mir, daß es sich hier nicht um einen Mann handelte, der Geld ausgab um einem unbekannten Mädchen einen Streich zu spielen, das nicht auflegen durfte, solange der Kunde das Gespräch fortführen wollte. Seiner Stimme nach schätzte ich ihn auf vierzig. Das Alter eines Kunden richtig heraushören zu können, ist ein großes Plus in meinem Job. Es hilft mir, den richtigen Ton zu treffen. So kann man das Gespräch mit einem Jugendlichen durch ein paar Scherze etwas auflockern. Aber gegenüber einem Mann mittleren Alters, der sich einsam fühlte (und um diese Nachtzeit würde ein Mann in mittlerem Alter nicht scherzen), würde das, was man sagte, weniger wichtig sein als das wie. Nach ein, zwei Augenblicken erwiderte ich betont freundlich: "Können Sie sich eine glückliche Erinnerung ins Gedächtnis zurückrufen?"

"An wen denn?" Seine Stimme klang nun leiser und tiefer, als ob er zu einem vertrauten Freund spräche. Das bestürzte mich und überzeugte mich vollends davon, daß er wirklich einsam war. Und die Art, wie er sich an 1080 gewandt hatte, bewies, daß er lange darüber nachgedacht hatte und ihm nichts anderes übrig geblieben war.

"Zum Beispiel an eine Freundin vom College."

Darauf folgte am anderen Ende ein lange unterdrückter Seufzer.

"Vielen Dank. Wenn es eine solche Erinnerung gäbe, wäre es genau die, die ich vergessen wollte."

Er versuchte, gleichgültig zu klingen, konnte aber eine tiefe Bitterkeit nicht verbergen. Hastig entschuldigte ich mich: "Verzeihung, wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin."

"Ganz und gar nicht", unterbrach er, "im Gegenteil. Ich meine, Sie haben geholfen, das erträglicher zu machen, was ich glaubte, nicht bis morgen früh aushalten zu können. Sie haben wirklich eine Gabe, Menschen zu besänftigen."

Ich war berührt, da ich merkte, daß er es ernst meinte. Ich riet ihm behutsam, zu Bett zu gehen und bemerkte, daß man während des Schlafs manchmal in ein anderes Land reisen könne. Und dort würde alles anders sein ... Er antwortete, er habe viele schlaflose Nächte hinter sich, und erst heute sei ihm bewußt geworden, daß es ja noch den 1080-Service gebe ...

Es stellte sich heraus, daß er gerade geschieden und seine Frau die Freundin vom College gewesen war. Sie hatte ihn und den siebenjährigen Sohn verlassen, um mit einem blonden Mann nach Deutschland zu fliegen, der sie für sein Büro angeworben hatte. Die Tragik bestand darin, daß er sie, obwohl er ihr Verhalten zutiefst ablehnte, nicht vergessen konnte. Vor ein paar Tagen hatte er sich dem Schnaps ergeben. Der Alkohol drang ihm aus allen Poren und ließ ihn die Welt für eine Weile vergessen. Aber wenn er wieder zu sich kam, lastete der Kummer noch schwerer auf ihm, verstärkt durch das schlechte Gewissen seinem Sohn gegenüber. Das war ein Thema, das ich mit ihm bereden konnte. Aber gleichzeitig hatte ich das Gefühl, es ginge ihm vor allem darum, das auszusprechen, was ihm auf der Seele lag.

So beschlossen wir, eine eigene Leitung für uns einzurichten. Ich teilte ihm meine Arbeitszeiten und Nachtschichten mit, damit er mich zur passenden Zeit anrufen konnte. Wann immer ich seinen Anruf entgegennahm, schien er erregt. Manchmal bat er, statt meinen Antworten zu lauschen, darum, befragt zu werden. Andere Male sagte er gar nichts über sich oder seinen Sohn, sondern erzählte von seiner Arbeit. So erfuhr ich, daß er Dozent an der Universität war. Überraschenderweise fand ich seine Geschichten nie langweilig. In erster Linie faszinierten sie mich wegen der umfangreichen Kenntnisse, die in ihnen zum Ausdruck kamen. Er war sehr vielseitig interessiert. Ich befragte ihn zu Dingen, die mir unklar waren, und stellte ihm sogar Fragen, die ich meinen Kunden nicht beantworten konnte. Ich mußte sie dann bitten, sich später noch einmal zu melden.

Eines Tages war er früher dran als üblich, und in heller Aufregung. Er wollte wissen, was man tun könne, wenn ein Kind von hohem Fieber und Krämpfen geplagt wurde. Das Gesundheitszentrum hatte schon geschlossen. Ich hieß ihn warten und wandte mich an einen befreundeten Arzt. Der brummte zuerst herum, unglücklich darüber, mitten in der Nacht geweckt zu werden, dann aber zeigte er sich sehr besorgt. Ich übermittelte dem Anrufer den ärztlichen Rat und bat ihn, mich am nächsten Morgen zurückzurufen. Aber während der nächsten drei oder vier Tage hörte ich nichts, so daß ich außer mir war vor Sorge um ihn und seinen Sohn. Es beschäftige mich so, daß ich mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren konnte. Sobald das Telefon klingelte, klopfte mein Herz wie wild, und wenn dann am anderen Ende nicht seine warme, vertraute Stimme erklang, vermißte ich sie. Ich versuchte mir vorzustellen, was ein alleinerziehender Mann tun würde, wenn er sich um sein krankes Kind kümmern mußte.

Sehr lange mußte ich nicht warten. Genau eine Woche später rief er wieder an. Meine Vermutung war richtig gewesen: Er hatte sowohl sein krankes Kind im Krankenhaus betreuen als auch seine Vorlesungen halten müssen. Er klang glücklich, als er mir mitteilte, daß die Krise vorüber und der Sohn auf dem Weg der Besserung sei. Er erzählte auch, daß sich eine Arbeitskollegin um ihn und den Jungen gekümmert habe. Mir schoß die Röte ins Gesicht. Es interessierte mich brennend, wer sie war, doch irgendwie schaffte ich es, Fragen nach Dingen zurückzudrängen, die mich nichts angingen. Statt dessen fragte ich unverbindlich, wie es ihm dieser Tage ginge und wie es um seinen Schlaf stehe. Er dankte mir für meine hilfreichen Ratschläge. Und nun sei er an der Reihe, mir seinen Rat zu geben, so sei das im Leben. Das Leben entwickle sich nie so, wie wir es uns vorstellten. Man könne nie das festhalten, was schon verloren sei, und an seiner Stelle gebe es so vieles anderes Sinnvolles zu tun. Hatte etwa die besagte Arbeitskollegin mit dieser Entwicklung zu tun? Dann lachte ich über meine Dummheit. Er war nur ein Kunde. Er mußte für die Antworten 300 VND pro Minute bezahlten, für den Rat, die Aufmunterung und so weiter. Er war gewissermaßen ein unsichtbarer Mann, eine virtuelle Person. Nur die Rechnung war real. Aber kaum von der Arbeit heimgekommen, warf ich mich aufs Bett und vergrub mein Gesicht im Kissen. Genau da klingelte das Telefon. Es war ein Junge, der beim Familien- und Heiratsberatungszentrum arbeitete und schon einige Zeit hinter mir her war. Was er sagte, kam mir plötzlich unendlich platt vor. Ich betete darum, daß er nicht unangemeldet vorbeikommen würde. Ich brachte ein paar höfliche Ausreden vor, entschuldigte mich mit Müdigkeit und legte auf.

Mein besonderer Anrufer meldete sich nicht wieder. Vielleicht hatte er allen Rat bekommen, den er brauchte. Vielleicht mußte er nicht länger sein Geld zum Fenster rauswerfen. Vom professionellen Gesichtspunkt aus hatte ich meine Arbeit gut gemacht. Aber es war schwer zu ertragen, wie mein Herz schneller schlug, wenn es auf Mitternacht zuging. Ich hatte ihm geraten, "glückliche Momente ins Gedächtnis zurückzurufen oder neue zu finden, da es unmöglich ist, die Vergangenheit zu ändern." Nun fürchtete ich, er werde sich nach meinen Worten richten. Warum war alles so kompliziert geworden? Ich kannte mich mit mir selbst nicht mehr aus.

Ich mußte einen Ausweg aus diesen Gefühlswirrwarr finden. Ich beschloß, nachzuforschen und die Adresse dieses Vaters und seines Sohnes herauszufinden - über die Telefonnummer erwies sich das als nicht besonders schwierig.

Es war ein Winternachmittag, an dem eine verfrühte kühle Brise wehte, ein Nachmittag, an den ich mich erinnern werde, weil er in mir gemischte Gefühle zurückließ. Ich sah den Mann und seinen Sohn vom Supermarkt heimkehren, zusammen mit einer Frau in mittlerem Alter, die sehr freundlich und attraktiv wirkte. Es schien jemandes Geburtstag zu sein. Wie eine zufällige Passantin stand ich dort und betrachtete sein Gesicht, das Gesicht eines realen Mannes, das Wissen, Offenheit und Verantwortungsbewußtsein ausstrahlte. Ich wünschte ihm von Herzen das Beste. Diese Frau mußte ein guter Mensch sein ...

Ich versuchte, in meinem 1080-Job zum Alltag zurückzufinden. Um Mitternacht klingelte das Telefon. Wer konnte das sein? Ich nahm den Hörer ab, meldete mich wie üblich, und hatte einen kleinen Jungen in der Leitung.

"Hallo, ich bin sehr traurig. Können Sie mir ein Märchen erzählen?"

"Darf ich fragen, warum Du traurig bist? In welche Klasse gehst Du?"

"Ich bin in der zweiten Klasse (der Gedanke flog durch meinen Kopf: ein Siebenjähriger) Mehr kann ich Ihnen nicht sagen."

"Fangen wir an."

Und ich erzählte ihm eine selbst erfundene Geschichte: Es war einmal ein Mann, der lebte mit seinem Sohn in einem Dorf. Da erschien eine Fee ... Plötzlich sagte der Junge: "Ihre Geschichte ist genauso wie unsere - die von meinem Vater und mir. Aber kann der Junge glücklich werden mit einer Frau, die nicht seine Mutter ist?"

"Warum nicht?", behauptete ich. "Warte nur ab, dann wirst Du schon sehen."

Ich hörte nichts mehr von dem Jungen. Konnte es der Sohn gewesen sein? Vielleicht hatte er wie sein Vater diese Frau schon längst ins Herz geschlossen!

Es gab Zeiten, in denen ich wünschte, der Fremde möge wieder einsam sein. Aber schnell verbannte ich solche Gedanken aus meinem Sinn. Ich hatte mich vorzubereiten auf neue Fragen, für die ich Antworten parat haben mußte. Vielleicht würde eines Tages jemand fragen: "Was soll man tun, wenn man zu glücklich ist?" Was könnte ich darauf antworten?

Aber solche Fragen würden nicht um Mitternacht gestellt, denn da schläft jeder glückliche Mensch tief und fest.

Quelle: VNS 23.06.2002. Aus dem Englischen
(von Huy Dung) ins Deutsche übersetzt von Marianne Ngo

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier, 2/2002

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