Die Rückkehr der konventionellen Marionetten

Das staatliche Marionettentheater auf neuen Wegen

Günter Giesenfeld

Bei einem Besuch in Hanoi im November 2015 erhielten wir unerwartet eine Einladung, das „neue“ Marionettentheater zu besuchen. Eine Truppe mit Wassermarionetten hatte die Freundschaftsgesellschaft im Jahre 1998 zu einer Tournee in die Bundesrepublik eingeladen (VNK 3-4/1998), offenbar erinnerte man sich noch daran.

Denn wir wurden mit einem Wagen vom Hotel abgeholt und hatten keine Möglichkeit, eine Eintrittskarte zu kaufen. Im Theatersaal war der Anteil an Kindern unter den Zuschauern wie in Vietnam üblich sehr hoch, und sie betrachteten den Zuschauerraum (und nach der Vorstellung auch die Bühne) als einen Spielplatz. Der Geräuschpegel war infolgedessen ziemlich hoch, was in Vietnam auch nicht unüblich ist. Wir hatten keine Ahnung, was wir geboten bekommen würden, aber dass es keine Wassermarionetten sein würden, war klar: Es präsentierte sich ein tiefe, ganz in Schwarz ausgeschlagene Bühne mit einer ziemlich hohen Empore im Hintergrund.

Dann fing das Programm an, und wir sahen eine Vorführung verschiedener Formen des „trockenen“ Marionettentheaters. Alle Szenen waren im Grunde Musiknummern, zu denen die Puppen tanzten. Nur am Ende schien eine Art Legende erzählt zu werden, in der es um den Kampf zwischen guten Feen und einem Ungeheuer ging. Es gab so etwas wie Dialoge, aber sie blieben uns unverständlich, nicht nur aus sprachlichen Gründen – durch die Nebengeräusche des Publikums und die wie oft in Vietnam hoffnungslos übersteuerte Tonanlage war nichts zu verstehen – was jedoch das Vergnügen des Zuschauens kaum beeinträchtigte.


Als erstes waren einige Nummern mit lebensgroßen Puppen zu sehen, die von je einem schwarz vermummten Schauspieler geführt wurden. Dieser saß hinter der Figur, seine Beine waren die der Figur, seine Arme und sein Kopf bewegten die jeweiligen Körperteile der Figur durch Hebelchen aus Holz. Und damit sich das Ganze frei auf der Bühne bewegen konnte, waren die Schemel, auf denen sie saßen, mit Rädern versehen, so dass sie hin- und herfahren konnten, ja sogar im Kreis oder in Formation getanzt werden konnte.

So etwas hatten wir auch schon auf deutschen Theaterbühnen gesehen, etwa bei Schauspielinszenierungen in Frankfurt oder bei der Marionettenbühne in Halle. Hier „imitieren“ die Puppen Vorführungen von Tänzern und Tänzerinnen in traditionellen Kostümen, die bei allen offiziellen Festakten oder Jubiläumsfeiern in Vietnam auftreten.


In Hanoi war dies nur eine der Theaterformen, die vorgeführt wurden. Eine andere bestand darin, dass aus Löchern in dem schwarzen Hintergrundvorhang menschliche Hände herausgestreckt wurden und rhythmische Bewegungen vollführten, die sich am Schluss sogar zu Buchstaben zusammenfanden, die eine Art „Zwischentitel“ formten.

Der größte Teil des Programms war aber den „richtigen“ Marionetten gewidmet. Das heißt, solchen Figuren oder Puppen, die an Schnüren von oben bewegt werden. Sie unterscheiden sich aber in Vietnam sehr stark von den Marionetten, die wir aus unserer europäischen Kultur kennen: Es sind nur in Ansätzen Wesen mit einem menschlichen Körper, sondern Zwischenformen, die Mensch, Tier und Pflanze in einem sein können.


Die an Elfen aus dem Märchen erinnernden Tänzerinnen haben einen Kopf mit Augen und Mund und einen Oberkörper mit Brüsten, tragen aber einen Rock, der aus blätterförmigen Elementen zusammengesetzt ist und urplötzlich nach oben geklappt werden kann, wodurch die Elfe sich in eine Blume verwandelt. Auch noch andere Geschöpfe treten auf: ein knorriger alter Bösewicht mit Augen, die an einer Schnur hängen und sich ständig asynchron drehen, Raupen, ja sogar einzelne Blätter bewegen sich wie Schmetterlinge durch die Luft.

Die Technik, mit der diese zarten und scheinbar zerbrechlichen Figuren bewegt werden, muss äußerst kompliziert sein, denn sie können nicht nur ihre Glieder (Arme, Beine, Kopf) unabhängig voneinander bewegen, sondern auch jedes der einzelnen Rockteile/Blütenblätter. Darüber hinaus sind fast immer mehrere dieser Figuren auf der Bühne und springen, fliegen und tanzen umeinander herum oder übereinander hinweg.


Später erfuhren wir, dass jede Figur von mindestens zwei Spielern geführt und mit einem Dutzend Fäden oder mehr bedient werden muss. Die Künstler dieses Theaters bedienen eine sehr komplizierte „Technik“ mit einer Vollendung, die diese Schwierigkeit in Vergessenheit geraten lässt – denn das Ergebnis ist leicht, märchenhaft, spielerisch und perfekt.

Wir haben keinen der alten Direktoren des Wassermarionettentheaters getroffen, die damals bei uns mit dabei waren. Es hieß, einer von ihnen sei jetzt Vize-Kulturminister. So konnten wir sie nicht beglückwünschen zu dieser wunderschönen und sehr „Vietnamesischen“ Ausweitung ihres Repertoires.

Alle Fotos: mn

veröffentlicht im Vietnam Kurier 3-4/2015

zurück zurückVNK Home